Kapitel 18 Henry
Wann kommt er endlich? Ungeduldig starrte Henry auf die Nadel in seiner Armbeuge und beobachtete den Weg der Tropfen, die nach und nach in seiner Vene verschwanden. Er schmiegte sich tiefer in das Kissen in seinem Rücken. Sein Vater lag also ebenfalls in dieser Klinik. Der Gedanke tauchte aus dem Chaos dieses Tages auf und ließ alle anderen Ereignisse verblassen. So krank war er, dass Laurence ihn am Ende doch nach London geschleift hatte. Und jetzt, war ungewiss, ob er überhaupt bis zur OP überleben würde. Mein Vater könnte sterben!
Henry schauderte, sein ganzer Körper fühlte sich mit einem Mal kalt an. Trauer brodelte in ihm, schwarz und schwer. Sein Vater war gerade 53 Jahre alt und so lange hatten sie nicht miteinander geredet. Henry bedauerte jeden einzelnen Tag und doch fand er den Ort nicht, an dem die Vergebung wohnte. Ich bin so feige! Dankbar betrachtete er den Tropf, der vor dem Bett stand und ihn in die Unbeweglichkeit zwang. Ich müsste nur um einen Rollstuhl bitten. Was zur Hölle hielt ihn eigentlich auf? Die Angst, ein sterbender Mann könnte ihn immer noch ablehnen ?
Es klopfte. Erleichtert atmete Henry aus. Alec hatte also endlich den Weg nach Clapham gefunden.
„Komm rein!“, rief er erwartungsvoll.
Mit ernstem Gesichtsausdruck kam Alec durch die Tür, in einer Hand seinen Rucksack, in der anderen eine Sporttasche. Er stellte sie neben dem Bett ab und beugte sich zu ihm hinunter. Liebevoll küsste er Henry auf die Lippen. Du bist hier! Es tat so gut, zu wissen, dass er die Behandlung dieses Mal nicht alleine durchstehen musste. Sogar Laurence war hier und ...
Ein Rollstuhl wurde durch die Tür geschoben. Darin saß ein Mann … Henrys Herz setzte einen Schlag aus und raste dann davon, wollte sich überschlagen. Sein Magen krampfte zusammen, brachte Übelkeit nach oben. Er atmete schwer.
Dann sah er ihn genauer an – seinen Vater, oder das, was noch von ihm übrig war. Vor sechs Jahren hatte er zum letzten Mal mit diesem Mann gesprochen. Damals war der groß und gutaussehend gewesen. Stolz und sanft zur gleichen Zeit. Aber jetzt war all das nur noch zu erahnen. Schwach und blass, ein Schatten seiner selbst, saß er im Rollstuhl, sein Blick ging ins Leere.
„Hallo ... Papa“, sagte Henry leise und wusste nicht, woher die Worte kamen. Hatte er sie wirklich aussprechen wollen ?
Laurence schob den Rollstuhl vor sein Bett, sodass sein Vater ihm in die Augen sehen konnte. Henry war es, als würde er plötzlich im Sumpf seiner Gefühle feststecken. Und dort, in den Untiefen, griffen sie alle nach ihm: Die Ablehnung, Ignoranz und Liebe. Flucht! Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Er konnte kaum geradestehen, hing am Tropf. Wohin sollte er flüchten?
Der bleiche Mann im Rollstuhl hob seine Hand und legte sie auf das Bett. Ihre Finger berührten sich und Henry kämpfte gegen den Drang, sie wegzuziehen. Was, wenn sein Vater wirklich nicht überlebte? Unwillkürlich brachte er seine Hand etwas näher. Ohne ihn anzusehen, schob sein Vater zwei Finger darunter und streichelte ihm mit dem Daumen über den Handrücken.
Fassungslos starrte Henry auf ihre verbundenen Hände. Sein Hirn füllte sich mit grauem Nebel.
„Mein Stern.“ Sein Vater lachte leise. „Ich sollte dich nicht mehr so nennen. Du bist ein Mann geworden, warst schon einer, als du weggegangen bist.“
Für einen Wimpernschlag fühlte Henry sich wieder so, als wäre er fünf Jahre alt. Nach einem langen Tag waren sie im Garten, zuhause auf Rosewater. Er saß auf dem Schoß seines Vaters und der half ihm, die gesammelten Schätze, Blumen und Pflanzen, zwischen dicke Bücher zu legen, damit sie dort gepresst und getrocknet wurden. Laurence brachte Limonade und sein Vater strich ihm übers Haar.
„Du machst das ganz wunderbar, mein Stern.“
Henry wollte die Zeit zurückdrehen, dorthin, wo es eine Familie für ihn gegeben hatte, die ihn liebte. Wo er zu klein war, um andere Jungen hübsch zu finden, und sein Vater sich nicht für ihn schämen musste.
Er wartete auf die Vorwürfe, die Fragen. Aber eine ganze Weile sagte niemand ein Wort. Aus den Augenwinkeln sah er Laurence, der ruhig auf einem der Sessel saß und sie beobachtete. Und Alec daneben, aufgeregt und mit einem fragenden Gesichtsausdruck. Sein Vater räusperte sich und endlich ... endlich sah er ihm in die Augen.
„Henry ... verzeih mir.“
Sechs verfluchte, einsame Jahre! So lange hatte er auf diese Worte gewartet, aber jetzt, wo sein Vater sie endlich aussprach, im Angesicht des Todes, schienen sie ihm plötzlich bedeutungslos zu sein. Er zuckte mit den Schultern.
„Es ist schon gut, Papa“, sagte er milde.
Was gab es noch groß zu besprechen? Sie waren hier, zusammen, und jedes Wort zu viel, über sein Outing, die Tatsache, dass er schwul war, würde ihn nur aufregen. Wer brauchte das jetzt noch?
„Ich fürchte, es ist nicht gut“, sagte sein Vater. Immer noch hielt er Henrys Hand fest. „Lügen und Schweigen hängen wie ein Fluch über unserer Familie, ich sehe das jetzt. Aber Liebling ... ich hatte einfach keine Worte.“
„Ich weiß.“ Henry nickte, erschüttert über die Offenheit seines Vaters.
„Dieses Schweigen war wie ein Schutz für mich ... und für dich.“ Er schluckte hart. „Am Tag deiner Geburt haben die Ärzte mir dieses kleine Bündel Mensch in den Arm gelegt und ich dachte: Oh nein! Das ist nicht nur mein Erbe, den ich mit Erwartungen und Druck quälen werde! Es soll nicht noch ein Quincy-Krüppel heranwachsen. Mein Sohn soll nur Gutes im Leben erfahren und sein eigener Mensch werden können.“
Der todkranke Mann im Rollstuhl schluckte erneut, aber dieses Mal rannen die Tränen seine Wange hinunter, ohne dass er sie aufhalten konnte. Henry wollte mitweinen und verstand doch nicht, was vor sich ging.
„Aber warum hast du dann nicht einfach mit mir geredet? Weißt du überhaupt, wie aufgeregt ich war, als ich dir erzählt habe, dass ich schwul bin? Nächtelang habe ich nicht schlafen können! Und dann ... verdammt Papa! Du hast es einfach ignoriert! So, als wolltest du mit diesem Teil von mir nichts zu tun haben!“
Sein Vater wischte sich über die Wange und nickte langsam. „Ich weiß, wie aufgeregt du warst“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Und ich war nicht einmal überrascht. Aber ... ich wollte dich in den Arm nehmen und sagen, dass alles gut ist, dass ich ... dass wir dich immer lieben werden und du genau richtig bist. Aber ...“
„Aber?“ Henry wollte nicht ungeduldig sein, doch er musste einfach wissen, wieso sein liebevoller Vater ihn plötzlich abgelehnt hatte.
„Ich hatte solche Angst, dass du das Gleiche wie ich erleben müsstest, egal wie sehr ich dich beschützen wollte.“ Er flüsterte es fast.
Mit einem Seufzen stand Laurence auf, kam zum Bett und setzte sich auf die Bettkante. Henrys Kopf nahm alles wahr und doch verstand er gar nichts.
„Henry“, sagte Laurence ernst und sah ihm in die Augen. „Du bist immer noch ein junger Mann, denkst, die Liebe wäre unendlich und würde alles heilen. Aber ... glaub mir, was dir ein sadistisches Monster jahrelang in den Körper geprügelt hat, das legst du nicht so schnell ab. Die Angst ist ein starkes Gefängnis für die Liebe.“
„Die Liebe ist stark genug“, murmelte sein Vater. „Aber ich war es nicht.“ Er atmete tief ein und aus, verzog schmerzhaft das Gesicht.
Henry blickte zu Alec, der tief in seinen Sessel gesunken war und so verloren aussah, wie er sich selbst fühlte. Er nickte ihm kurz zu. Der sollte wissen, dass Henry ebenso viel Nebel im Kopf hatte wie er .
„Meinst du meinen Großvater?“, fragte er verwirrt. „Das sadistische Monster?“
„Der Schrecken von Rosewater. Ja!“ Laurence nickte zustimmend.
„Er war ein grauenhafter Mensch, aber virtuos am Rohrstock.“ Sein Vater lachte leise. „Bis ich 14 war, dachte ich, so wäre die Welt eben. Väter waren Tyrannen, die mit ihren Geliebten herumhurten, und dich nachts aus dem Bett zerrten, um dich mit immer härteren Schlägen zu einem richtigen Mann zu machen.“ Jetzt war seine Stimme wieder klar. Er sprach erstaunlich emotionslos und distanziert. Aber Henry fuhr jedes Wort in die Knochen, schmerzte und brachte verzerrte Erinnerungen zum Vorschein.
Er sah sich, bei Tisch, da war er vielleicht sechs Jahre alt gewesen, denn seine Mutter hatte noch auf Rosewater gelebt. Der hagere Alte am Kopfende war sein Großvater, das wusste er. Aber er ging ihm meist aus dem Weg, der Mann machte ihm Angst. Ein Streit war entbrannt, Henry verstand nicht warum und dann hatte ihn seine Mutter aus dem Esszimmer gezerrt. Ja, irgendjemand hatte ihn immer aus den Räumen geschoben, wenn sein Vater und sein Großvater aufeinander getroffen waren.
„Der war später auch nicht besser“, bemerkte Henry.
„Nein, aber später wusste ich, dass es etwas Anderes gab, dass Menschen liebevoll miteinander umgehen konnten und dass man nicht zum Mann wird, wenn man möglichst viele Prügel und Beleidigungen einsteckt.“ Er sah Henry direkt in die Augen.
Henry neigte den Kopf zur Seite. Sein Vater erzählte etwas von Bedeutung? Etwas, das wirklich mit ihm zu tun hatte? Er konnte es kaum glauben.
„Es war ein Wochenende, an dem ich das zum ersten Mal erfahren habe. Da hatte ich wieder einmal Bauchschmerzen vorgetäuscht, um nicht aus dem Internat nach Hause fahren zu müssen. Dann bin ich aus der Krankenstation abgehauen und durch die Wälder gestreift. Es gibt diese Tage im Leben, die vergisst du niemals. Deine Geburt gehört dazu und dieser Tag, als ich 14 war. Im Wald war alles friedlich und es roch nach Moos und modrigem Boden. Vögel zwitscherten und die Sonnenstrahlen, die es durch das Blattwerk schafften, wärmten meine Haut. Irgendwann habe ich einen kleinen See erreicht, der auf einer Waldlichtung lag. Ganz still und ruhig. Das Wasser schimmerte in der Morgensonne und für einen Augenblick habe ich meine Sorgen vergessen und bin einfach hineingesprungen. Den Rest meiner Kleidung hatte ich vorher ausgezogen. Aber als ich wieder ans Ufer kam, war sie verschwunden. Für mich war das mehr als ein kleiner Streich, es war ein Schock! Wie hätte ich im Internat erklären sollen, dass ich nackt zurückkomme? Die hätten meinen Vater informiert und der hätte viel Spaß mit mir gehabt. Ich konnte die Schmerzen schon spüren. Aber dann ist da dieser Junge aufgetaucht, der hatte meine Sachen gegen die Brust gedrückt und grinste mich an. Wir haben einen Wettlauf um diesen See gemacht und sind am Ende übereinander gepurzelt und haben gelacht. Den Rest des Tages haben wir dort verbracht. Haben geredet und herumgealbert, sind geschwommen. Ich hatte keine echten Freunde im Internat, war immer nur damit beschäftigt nicht aufzufallen, nicht anders zu sein als alle anderen. So anstrengend.“
Eine Weile schwieg er und lächelte in seine Gedanken hinein. Aber was wollte er ihm nur mit dieser Geschichte sagen? Henry sah Alec an und zuckte mit den Schultern.
„Es war nicht ganz der romantische Zufall, für den William es hielt“, warf Laurence jetzt ein. Romantisch? Der Nebel in Henrys Kopf verdichtete sich. „Tatsächlich hatte ich deinen Vater schon oft gesehen. Ich wohnte mit meiner Familie im Dorf, ging auf eine normale Schule. Aber wir schlichen uns gelegentlich zu dem beeindruckenden Internatsbau und haben die reichen Kinder beobachtet. Na ja, ich wollte eigentlich nur den hübschen Jungen wiedersehen, dem ich so gerne beim Cricket zusah. An diesem Morgen bin ich deinem Vater in den Wald gefolgt und als er sich ausgezogen hat, wusste ich: Ich muss wenigstens einmal mit ihm reden! Vielleicht konnte er ein Freund werden.“
Henry schluckte. Das ... kann nicht sein? Hörte er gerade etwas, das er schon immer geahnt hatte? Aber dann ... Im Chaos seiner Gedanken stiegen unzählige Fragen in ihm auf, ließen ihn ratlos zurück.
„Ja, er wollte wirklich gerne dein Freund sein. Ich war schon ... sehr beeindruckt von dir und deinem Selbstbewusstsein.“ Sein Vater blinzelte zu Laurence. Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen.
„Wie lange seid ihr zusammen?“, fragte Henry, ohne nachzudenken. Jetzt hatte er genug! Er wollte Antworten!
Die beiden sahen sich an. „Zwei Wochen nach diesem Tag, habe ich ihn zum ersten Mal geküsst und eine Woche später musste ich Will unbedingt sagen, dass ich ihn liebe und für immer mit ihm zusammenbleiben will“, sagte Laurence milde.
Sein Vater lachte. „Wir waren so herrlich naiv“, sagte er leise. „39 Jahre. Mir ist es als hätten wir gestern an diesem See in der Sonne gelegen.“
Fassungslos schüttelte Henry den Kopf. „Ihr seid ... seit fast 40 Jahren ein Paar?“ Er starrte seinen Vater verstört an. „Und warum sollte ich nicht das haben, was du schon so lange hast?“
„Oh doch, mein Sohn, natürlich sollst du das auch haben. Besser als ich – frei. Ich … ich konnte nicht re den. Es war, als wäre mein Hals zugeschnürt, wann immer ich die Worte dachte. Weißt du … zwischen diesem schönen Tag und heute liegen 39 Jahre, zum Teil voller Leid und Schuld. Ja, ich habe diese Beziehung ertrotzt, gegen alle Widerstände, und es war oft sehr schwer. Aber die Angst ... diese schreckliche Angst vor der Entdeckung ... sie hat Löcher in meine Seele gefressen. Mein Vater hätte mich totgeschlagen, wenn er es je herausgefunden hätte, zuvor hätte er mich enterbt und bloßgestellt. Aber natürlich hat er es geahnt. Und dann der Druck, zu heiraten, einen Erben zu zeugen. Ich war schwach und egoistisch, wollte das Anwesen, konnte nicht der sein, der eine 700 Jahre alte Linie unterbrach.“ In Zeitlupe strich er sich durchs Gesicht, fast war es, als würde er in diesem Augenblick alles noch einmal erleben. „Aber die Angst war das Schlimmste“, fuhr er fort. „Sie hat mich selbst zu dem Monster gemacht, das ich nie sein wollte. Geschlagen habe ich nicht ... ich habe geschwiegen. Deine Mutter war nur ein nettes Mädchen aus meinem Bekanntenkreis, das sich in mich verliebt hatte. Sie hat nie von mir erfahren, dass ich sie nicht so lieben konnte, wie sie es verdient hätte. Laurence hat alles hingenommen, war an meiner Seite, aber wie hat er sich gefühlt, als er auf meiner Hochzeit mit einer Frau den Butler geben musste? Und als diese Frau schwanger wurde? Es hat mich innerlich fast umgebracht, ihn stumm leiden zu sehe n. Nie hat er sich beschwert. Obwohl er einen hervorragenden Abschluss in Wirtschaft gemacht hat, wurde er mein Butler, damit wir zusammenleben konnten. Aber dann ... dann bist du geboren und Laurence hat sich ebenso in dich verliebt wie ich. Ich habe etwas erzwungen, was damals kaum möglich war. Eine Familie mit einem Mann zu gründen und der Erbe eines riesigen Anwesens zu bleiben. Den Preis dafür hat vor allem deine Mutter bezahlt.“ Sein Gesicht war schmerzverzerrt, er schien kaum noch Luft zu bekommen und doch lächelte er tapfer. „Aber weißt du Henry, auch wenn ich diese Schuld nie mehr begleichen kann – ich würde es jederzeit wieder tun. Oh ja, es wäre richtig gewesen, auf das Erbe zu verzichten, mit Laurence nach London zu ziehen, den Job anzunehmen, den mir die Uni angeboten hatte. Aufrichtig und ehrlich zu leben! Rücksicht auf meinen Liebsten zu nehmen. Es würde mich quälen, wenn du nicht aus all meinen Fehlern entstanden wärst. Aber dich ... würde ich niemals aufgeben wollen.“ Er drückte Henrys Hand fest.
„Aber, wenn du mich so liebst, wie ich bin, warum wolltest du mich dann mit einer der Tanner-Schwestern verkuppeln? Ausgerechnet du musst doch wissen, dass das nicht funktionieren kann?“, fragte Henry leise. Die vielen neuen Informationen rotierten in seinem Kopf, aber diese Frage hatte er einfach stellen müssen.
Was? Niemals wollte ich dich verkuppeln! Misses Tanner hat damals nach dir gefragt und ich habe ihr erzählt, dass du Autor bist. Eine ihrer Töchter hatte gerade einen Roman geschrieben, und wollte gerne mit dir reden.“ Er blinzelte mit einem betroffenen Gesichtsausdruck. „Ich wollte mit dir sprechen, so gerne, wollte ich dir sagen, dass alles gut ist, dass ich dich verstehe. Aber …ich hatte keine Worte. Ich … Laurence ist schon so lange mein Zuhause, mein Schutz, und alles andere habe ich ausgeblendet. Schw … Schwul? Henry, ich konnte es leben, still und heimlich, aber das Wort aussprechen, mich offen mit jemanden darüber unterhalten? Nicht mal mit Laurence konnte ich das. Es war, als würde mein Vater mit einem bösen Lachen hinter mir stehen. Ja! Ich war eben kein richtiger Mann, würde nie seine Erwartungen erfüllen.“ Er musste schwer schlucken. „Ich … als du weggelaufen bist, da habe ich mir ein paar Jahre selbst leidgetan und dann … endlich eine Therapie begonnen. Zuerst Laurence zuliebe, der mich immer wieder darum gebeten hatte. Aber je mehr die Angst wich, desto klarer konnte ich sehen. Du warst ein reizender kleiner Junge und du bist ein großartiger Mann geworden. Hass mich ruhig, wenn es dir damit besser geht – ich habe es mehr als verdient – aber leb nicht den Fluch, der immer nur meiner war! Sperr dich nicht aus vor der Welt, zeig dich, so w ie du bist! Du bist wunderbar, da gibt es nichts zu verstecken.“
Unter schwerem Atmen beugte er sich vor und küsste Henrys Handrücken. „Mein Junge, ich liebe dich. Sei du der stolze schwule Mann, der ich nicht sein konnte!“
Ein letzter verstörter Ruck ging durch Henrys Körper. Dann wurde er ruhiger. Von der Stelle, die sein Vater gerade geküsst hatte, ging eine warme Brise aus, die ihn durchflutete. Fenster und Türen seiner Seele öffneten sich, und mit dem Verständnis, das herausströmte, kam auch endlich die Vergebung. Sein Herz wurde weit und mit einem Mal war wieder genug Platz für seinen Vater darin, direkt neben Laurence, der immer dort gewesen war und zu dem er gehörte.
Langsam löste Henry seine Hand aus der seines Vaters und legte sie auf Laurence Oberschenkel. Dann beugte er sich vorsichtig nach vorne, damit die Nadel nicht aus seinem Arm rutschte und legte behutsam den Arm um seinen Vater. Er roch so vertraut und doch war da etwas Fremdes. Etwas krampfte in Henry, denn er konnte den Tod riechen.
„Es ist alles gut, Papa“, flüsterte er. Laurence strich ihm beruhigend über den Rücken.
Unter einem Seufzen setzte er sich zurück und betrachtete die Männer für einen Moment. Der Todkranke, der sein Leben in Angst verbracht hatte und seinen Sohn in Watte hatte packen wollen und der Butler, der nie wirklich einer gewesen war, sondern die Seele und der Halt für sie alle. Zwei Väter und ein verwirrter Sohn – sie waren eine sonderbare Familie, aber sie waren eine! Mit einem halben Gedanken dachte er an seine Mutter. Wie passte sie in dieses Bild? Er würde mit ihr sprechen müssen, später. Viel später.
Jetzt erst fiel ihm auf – Alec war verschwunden. Kein Wunder, so viel Familiendrama war zu viel für einen Außenstehenden.
„Ich fürchte, ich muss meinen Mann jetzt ins Bett bringen“, sagte Laurence entschlossen, stand auf und schob den Rollstuhl zur Tür.
Unwillkürlich schüttelte Henry den Kopf. Es klang so merkwürdig und gleichzeitig war es, als wäre es immer schon wahr gewesen.
„Warte“, sagte sein Vater. Er klang unendlich erschöpft. „Du willst es ihm nur nicht sagen!“
„Weil die ganze Sache ohnehin nicht notwendig ist!“ Laurence schnaufte ablehnend und blieb vor der Tür stehen, drehte den Rollstuhl wieder in Henrys Richtung. „Dann sag es ihm eben. Wenn wir das schon tun, soll Henry natürlich dabei sein.“
„Es ist ihm peinlich, weil wir schon so lange zusammen sind.“ Sein Vater rollte mit den müden Augen. „Aber mir nicht! Morgen Nachmittag werden Laurence und ich in der Kapelle der Klinik heiraten. Henry, keine Sorge, du wirst fast alles erben! Rosewater, die Häuser in London, mein Vermögen. Aber Laurence soll abgesichert sein, er bekommt einen ausreichenden Betrag und das Haus in Hampstead. Ich möchte nicht, dass einer meiner gierigen Verwandten seinen Erbteil anfechten kann.“
„Du redest, als wärst du schon tot! Ich hasse es!“ Laurence legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Sein Vater schüttelte abwehrend den Kopf. „Schon gut. Wir haben oft genug darüber geredet. Schlag einem sterbenden Mann nicht seinen letzten Willen ab!“
„Damit erpresst er mich, seit die OP festgesetzt wurde“, erwiderte Laurence, beugte sich vor und küsste seinen Vater auf die Wange.
Henry beschloss, sich heute über nichts mehr zu wundern. Vielleicht seilte sich ein schwuler Spider Mann zu dieser Seniorenhochzeit ab, oder die Queen kam persönlich im Gefolge ihrer Corgies vorbei? Alles schien möglich. Er nickte.
„Soll ich Blumen streuen?“, fragte er verwirrt.
„Rosenblätter“, antwortete Laurence. „Aber jetzt müssen wir gehen. Ich hoffe, sie haben inzwischen das zweite Bett aufgestellt.“ Er öffnete die Tür und schob den Rollstuhl auf den Gang. „Ach, wir werden unter uns sein, aber bring doch Alec mit!“, sagte er über seine Schulter hinweg und dann waren die beiden verschwunden.
Erschöpft aber sonderbar ruhig starrte Henry auf die geschlossene Tür. Nach allem was er heute gehört hatte, von einer Liebe, die ihm neu und doch nicht unbekannt war, blieb ein Gedanke in seinem Kopf, drängte sich ihm auf und quälte ihn schmerzhaft:
Mein Vater könnte sterben! Henry wollte laut schreien!