Kapitel 19 Alec
Verflucht! Ich komme zu spät! Alec hastete durch den Gang, bog ab und begann zu rennen. Ah, da stand Henry ja! Der lehnte lässig am gläsernen Eingang zur Kapelle, nur auf eine Krücke gestützt. Die Zweite lag auf dem Boden.
„Hi“ Alec küsste ihn schnell auf die geschlossenen Lippen und bückte sich. In einer Hand balancierte er eine große Pappschachtel, mit der anderen angelte er die Krücke vom Boden. „Zu spät?“, fragte er atemlos und gab Henry die Gehhilfe.
„Weder die Hauptdarsteller noch der Regisseur sind bisher anwesend. Entspann dich!“
„Regisseur?“
„Der Pfarrer“, sagte Henry und blickte den Gang hinunter.
„Gut! Ich hab noch die Karten für diese Shakespeare Aufführung im Regent’s Park besorgt, für Eddy - hab auch eine für dich gekauft, hängt am Kühlschrank und dann war ich in Brixton, um den Kuchen abzuholen. Mann, ich dachte, ich schaffe es nicht mehr. Dieser verfickten Journalisten belagern das Haus noch immer!
„Karte? Ich habe dich nicht darum gebeten!“
Alec seufzte. „Tagsüber bittest du mich doch nie um etwas“, sagte er mit einem Grinsen.
Henry verzog den Mund und schwieg. Eine Million für seine Gedanken! Alec sah ihm in die schönen, braunen Augen und erkannte die Sorge um seinen Vater, die Anstrengung der letzten Tage, Nervenschmerzen und die aufputschende Wirkung des Kortisons. Aber eine Antwort auf seine Frage fand er nicht. Was würde aus ihnen werden? Nun, er war hier, eingeladen zur Hochzeit von Henrys Vater und er durfte ihm beistehen! Aber nichts war zwischen ihnen geklärt. Nicht ein Gespräch hatten sie darüber geführt und jetzt war wohl kaum der richtige Zeitpunkt.
Alec balancierte die Pappschachtel weiter auf seiner Hand. Mit der anderen strich er Henry eine Strähne aus der Stirn.
„Gut siehst du aus! Woher hast du den Anzug?“
„Gehört meinem Vater. Laurence dachte wohl, nach der OP müsste der noch schnell an einer Modenschau teilnehmen.“
Henrys Gesichtsausdruck verdunkelte sich. Natürlich wusste er, warum die beiden Männer so viele Anzüge eingepackt hatten – um den passenden für eine mögliche Beerdigung auszusuchen. Entschlossen stellte Alec die Schachtel auf den Boden und umarmte Henry .
„Erst mal heiraten sie! Und das ist ein verdammt schöner Anlass“, sagte er leise. „Wie geht es dir?“, fügte er flüsternd an.
Henry zwang sich sichtlich zu einem Lächeln und schmiegte sich näher an Alec. Mein ... Liebling. Alec streichelte ihm über den Rücken und wollte ihn nicht mehr loslassen. Wie sehr hatte er ihn heute Nacht vermisst!
„Beschissen!“
Alec schnaufte! Diese Familienaussprache gestern, so überflüssig er sich auch gefühlt hatte, aber sie hatte etwas mit Henry gemacht – eindeutig. Noch zwei Tage zuvor hätte er eine ironische Antwort erhalten, oder gar keine, da war er sicher.
„Was, wenn er die OP nicht überlebt?“ Fuck! Er sieht aus, als wäre er schon tot!“ Brüchig und dünn war Henrys Stimme geworden. „Ich ... ich will die letzten sechs Jahre zurück!“
Für einen stillen Augenblick überlegte Alec. Sollte er lügen? Diese Tage waren so anstrengend für Henry. Das aufgeflogene Pseudonym schien für den Moment gar keine Bedeutung mehr zu haben, aber die Beziehung von Laurence und William, dessen Krankheit, das alles musste überwältigend für ihn sein.
„Möglich, dass er stirbt“, sagte er schließlich ehrlich. „Aber er wird nichts bedauern und du weißt, dass er dich immer geliebt hat.
Henry lachte bitter. „Ich will ihn noch so viel fragen und ich ... Scheiße!“
„Totale Scheiße!“, bestätigte Alec und streichelte Henry beruhigend über den Nacken.
„Wie sagt man: Wenn die Gäste schon vor der Zeremonie weinen, wird die Ehe hundert Jahre halten!“
Laurence Stimme klang heiter. Er lächelte ihnen entgegen.
Sie trugen beide dunkelgraue Maßanzüge, dreiteilig, mit grau-gestreiften Krawatten und passenden Einstecktüchern. Und je eine rote Rose steckte in der oberen Tasche. Für einen Todkranken und seinen Geliebten sahen sie fabelhaft aus.
William hielt sich mit sichtlicher Anstrengung aufrecht im Rollstuhl und hatte die Hände im Schoß gefaltet. An der Seite war eine Sauerstoffflasche angebracht, aber noch atmete er frei. Henry stützte sich auf seine Krücken und beugte sich zu seinem Vater, küsste ihn auf die Wange. Sie tauschten vielsagende Blicke und sprachen kein Wort.
Mit wehendem Talar bog nun ein Priester um die Ecke, in der Hand eine Bibel, die vor Notizzetteln überquoll. Ein gut aussehender Kerl, Anfang 40 vielleicht. Der hastete zu ihnen und musste für einen Augenblick verschnaufen .
„Ganz ruhig. Wir fangen schon nicht ohne dich an“, sagte Laurence und umarmte den Priester kurz. Zu Alecs Überraschung beugte der sich zu William und küsste ihn links und rechts auf die Wange. „Das ist David, mein jüngster Bruder. Er wird die Trauung vollziehen.“ Laurence zeigte auf den Priester.
Alec nickte ihm zu. Nein, hier wunderte ihn gar nichts mehr. Der Butler hatte Familienangehörige im Klerus? Warum nicht. David schritt würdevoll voran und die kleine Prozession folgte ihm, in die hübsch geschmückte Kapelle. Alec war sicher, für die vielen Rosensträuße, die auf und vor dem Altar standen, hatte Laurence gesorgt. Er nahm in der ersten Reihe Platz, außer ihnen gab es ohnehin keine Gäste und so konnte sich Henry setzen, ohne sich in eine enge Bank manövrieren zu müssen.
Henry presste sich an ihn und Alec verstand. Es war nicht angebracht in einer Kapelle, aber dennoch schob er seinen Arm um dessen Rücken, legte ihn auf der Lehne ab. Vorne, auf dem rosenumfluteten Altar, stand eine einzelne Kerze, schlicht und weiß. In goldenen Buchstaben war ein: W und ein L darauf angebracht sowie das Datum. Vor dem Altar unterhielt Laurence sich mit David und William saß da, den Kopf zur Seite geneigt und verfolgte alles aufmerksam. Etwas an ihm wirkte heute sehr jung, fast wie ein Junge, der sich auf etwas freute, das ihm gleichzeitig peinlich war. Jetzt kam Laurence zu ihm, beugte sich hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. William lächelte ihn mit verklärtem Blick an und nickte.
Nach fast vier Jahrzehnten konnte man noch so verliebt wirken? Alec wunderte sich. Seiner Mutter waren die Männer weggelaufen, oder sie hatte sich von ihnen getrennt. Nur Eddys Vater hatte es einige Jahre ausgehalten, aber auch der hatte nie mit ihnen zusammengelebt. Wie man eine Liebe am Leben hielt ... er hatte keine Ahnung. Unwillkürlich schloss er seine Finger um Henrys Schulter. Jetzt erst sah er den CD-Player, der neben dem Altar auf einem kleinen Tisch stand. David machte sich gerade daran zu schaffen.
Alec stutzte. Da war noch etwas! Der Kuchen! Wie vom Blitz getroffen sprang er auf und rannte hinaus. Zum Glück – da lag sie, die Schachtel! Schnell hob er sie auf, eilte zurück und stellte sie auf den leeren Platz neben sich. Eddy und seine Mutter waren die halbe Nacht aufgeblieben und hatten diese Torte gebacken. Das hätte gerade noch gefehlt! Henry grinste dankbar und schmiegte sich an ihn.
„Können wir beginnen?“ David stand am Altar und sah sich um.
Laurence hob die Hand und öffnete den Mund. Im gleichen Moment waren Schritte zu hören, die sich eilig näherten und dann langsamer wurden .
Alec drehte den Kopf neugierig ... und schreckte zusammen. Sein Herz rutschte in seinen Magen, direkt in die kochende Suppe des Schocks. Im weißen Cocktailkleid, die blonden Haare zu einem Dutt gesteckt und auf hohen Pumps eilte – Lady Mathilda heran.
Entsetzen schob sich eisig durch seine Venen. Fuck! Er hatte seit zehn Tagen nicht mehr auf ihre Mails geantwortet! Aber es war einfach zu viel passiert und je näher er Henry kam, desto mehr verblasste diese ganze Angelegenheit für ihn. Er zog den Kopf zwischen die Schultern, in einem vergeblichen Versuch zu verschwinden.
Zu spät! Schon war sie zum Altar geeilt und umarmte Laurence freundschaftlich. Dann fiel ihr Blick auf William und ihre Miene verfinsterte sich voller Sorge. Sie neigte den Kopf zur Seite und sprach leise zu ihm, berührte ihn nicht. Langsam hob er den Blick, sah ihr in die Augen und schluckte. Was auch immer zwischen diesen beiden stand, selbst im Angesicht des Todes war es offensichtlich unüberwindbar. Alec wollte unter die Bank kriechen. Da! Sie hatte ihn erkannt.
Ihre Gesichtsmuskeln zuckten unruhig, dann breitete sich ein unverbindliches Lächeln auf ihrem Mund aus. Sie nickte ihm zu und kam näher, wandte sich zu ihrem Sohn .
„Henry, mein Liebling“, sagte sie, es klang zumindest ehrlich. Sie strich Henry über den Oberarm, den der sofort zurückzog.
„Mutter?“, fragte er verwirrt. „Was tust du hier?“
Sie schluckte und lächelte tapfer. „Laurence hat mich per Mail informiert und ich habe sofort einen Flug gebucht. Für mich ist es wichtig, hier zu sein. Es ist ... ein Abschluss, ein Schlussstrich. Von deinem Klinikaufenthalt hat Laurence ebenfalls berichtet. Mein armer Junge!“
„Nur ein Schub“, erwiderte er knapp.
Sie blinzelte und seufzte leise. Schließlich setzte sie sich auf die zweite Bank, getrennt durch einen schmalen Gang.
Laurence hatte sie zu seiner Hochzeit mit ihrem Ex-Mann eingeladen? Nebelschwaden zogen zum wiederholten Mal in den letzten Tagen in Alecs Kopf auf. Aber sie hatte ihn nicht verraten – noch nicht! Er betete und hoffte, die Kapelle würde die Wirkung seines Wunsches verstärken. Henry hatte so viel durchgemacht! Und er ... Der Gedanke, den Mann, der sich so vertrauensvoll an ihn schmiegte, durch seine eigene Dummheit zu verlieren, stach ihm schmerzhaft in den Magen. Alec atmete eine Weile in seinen Schock und überlegte.
Er konnte jetzt nichts tun! So viel war klar. Aber später – nach der Hochzeit und der kleinen Feier, dann würde er Henry endlich die Wahrheit sagen! Das war in diesem Moment alles, was er für ihn hatte - seine Liebe, die Wahrheit und die vage Hoffnung, verstanden zu werden. Die nächste halbe Stunde sollte nur William und Laurence gehören!
Laurence stand neben William vor dem Altar. Seine Hand ruhte auf dessen Rücken.
„Ich begrüße euch zu diesem freudigen Ereignis“ begann David und nickte ihnen zu. „Als ich vor einer Woche den Anruf meines Bruders bekam, stand mein Mund für Minuten offen, das könnt ihr mir glauben. Denn für mich waren die beiden schon immer verheiratet. Wenn zwei Menschen je zusammengehört haben, dann William und Laurence!“ Er fuhr fort, wie er, noch vor Henrys Geburt, oft die Sommer auf Rosewater verbracht hatte, als Gast seines Bruders. Alec lauschte und tauchte ab in die Geschichte einer Liebe, die schon ein halbes Menschenleben andauerte.
Aufgeregt blätterte David in der Bibel, las Verse vor, zitierte weise Menschen und gab schließlich bekannt, dass die beiden eigene Trausprüche mitgebracht hatten. Aufmerksam lauschte Alec. Aus den Augenwinkeln sah er Henry, die Finger im Schoß verschränkt hörte der ebenfalls gebannt zu.
William sprach zuerst. Er musste mehrmals ansetzen, bekam schwer Luft. Dann streckte er eine zitternde Hand aus und legte sie in Laurence‘ .
„Danke“, sagte er schließlich mit klarer Stimme. „Danke für jede Dummheit und jeden Fehler, die du mir je verziehen hast. Für all die Nächte, in denen du mit mir wach gelegen hast, meine Dunkelheit ausgehalten hast, für die vielen glücklichen Tage, dafür, dass mein Sohn zu deinem geworden ist, und für alle die Fragen, die du mir nie gestellt hast. Danke, dass du an meiner Seite bist und mich nie aufgegeben hast. Ich liebe dich.“
Er öffnete die andere Hand. Ein schmaler Ring aus Weißgold lag darin. Behutsam wollte er ihn auf Laurence Ringfinger ziehen und fand kaum die Kraft. Aber der half ihm und sank in die Hocke, das Blatt, auf dem sein Trauspruch stand, ließ er einfach auf den Boden fallen.
„William, du bist der liebenswerteste, weiseste und treuste Mensch, den ich kenne. Und für mich immer noch der Schönste. Es war mir eine Ehre. Versprich mir nur eines: Liebling, stirb nicht vor mir!“
„Scheiße“, murmelte Henry neben ihm, griff nach Alecs Hand und drückte sie fest.
Unauffällig wischte Alec ihm eine Träne von der Wange. Unterdessen zog Laurence den Ring auf Williams Finger und küsste ihn auf die geschlossenen Lippen. William beugte sich vor und umarmte ihn. David schluckte ergriffen, segnete die Beiden und erklärte ihnen, dass sie von nun an verheiratet seien. Dann schaltete er den CD-Player ein und Simon und Garfunkel sangen: Bridge over troubeld Water, während sich das Paar immer noch im Arm hielt.
Verstohlen lugte Alec an Henry vorbei zu Mathilda. Sie saß ruhig da, mit unlesbarer Miene und betrachtete die Männer. Alec sah zum Kreuz: Bitte! Sie will doch selbst nicht, dass Henry von dem Deal weiß! Bitte, lass sie still sein , betete er.
Noch einmal betrachtete er die Männer, der eine so krank, der andere in Sorge, seinen Liebsten zu verlieren. Inzwischen war Laurence in den Stand gekommen. Besorgt strich er William immer wieder übers Haar und nestelte an der Sauerstoffflasche, zog den schmalen Aufsatz heraus und setzte ihn in Williams Nasenlöcher. Dann passte er den Druck mit ein paar Handgriffen an. Sein Mann nickte erleichtert. Dann flüsterten sie miteinander wie zwei verliebte Teenager und mit einem Mal hatte Alec keinen Zweifel mehr – das war es, was er wollte.
Keine flüchtige Sexfreundschaft, kein sonderbares Arrangement mehr – eine Beziehung, die auf echter Liebe und Respekt basierte! Und er wollte das alles mit Henry! Simon und Garfunkel sangen noch, da beugte er sich zu ihm herüber und flüsterte:
„Ich liebe dich! Und ich muss mit dir reden.“