I  Einleitung

Eigentlich existiere das algerische Kino doch gar nicht mehr – so hört man nicht selten Stimmen von Kritikern und Cineasten zu dem hier gewählten Gegenstand. Hintergrund für derartige Äußerungen sind die existenziellen Schwierigkeiten, in dem sich das Kino in Algerien seit über 20 Jahren befindet. Mit der Dekolonisation des Landes entstanden und in seiner Blütezeit zwischen den 1970er und 1980er Jahren einst die produktivste Filmwirtschaft im Maghreb, befindet sich das algerische Kino seit den 1990er Jahren und dem Zusammenbruch des staatlichen Filmsektors in einer andauernden Krise und sieht seine Produktion auf ein Minimum geschrumpft. Warum sollte sich eine deutsche Wissenschaftlerin also gerade mit diesem marginalen, vor allem aber ‚totgesagten‘ Kino beschäftigen? Fakt ist, dass die Existenz des algerischen Kinos durchaus prekär ist, versteht man darunter allein die Prozesse der Filmproduktion und -rezeption in Algerien. Trotz des desolaten Zustands – verstärkt durch mangelnde Distributionsstrukturen und eine geringe Anzahl intakter Kinosäle – kommen jedoch auch in jüngerer Zeit neue Impulse von engagierten Cineasten, die das Filmschaffen mit ihren Werken wiederbeleben. Letztere entstehen teilweise in Algerien, vermehrt aber auch außerhalb, hauptsächlich in Frankreich.

Will man die Entwicklungen und Charakteristika des algerischen Kinos betrachten, so ist es also notwendig, seine Perspektive über einen engen nationalen Rahmen hinaus zu erweitern. Eine derartige Sichtweise, die Produktionen algerischer Regisseur/innen im Exil und Koproduktionen einbezieht, erlaubt es, neben einem begründeten Interesse an der Geschichte des Kinos in Algerien auch die filmische Kreativität zu erfassen, die sich in transnationalen Konstellationen äußert. Die vorliegende Arbeit optiert somit für ein weites Verständnis des algerischen Kinos und analysiert aus transnationaler Perspektive ein in mehrfacher Hinsicht grenzüberschreitendes Filmkorpus. Denn sowohl die Produktionsseite, die identitären und künstlerischen Orientierungen der Regisseure/innen als auch die thematisch-ästhetischen Verhandlungen der filmischen Artefakte selbst sind Ausdruck von dynamischen Hybridisierungsprozessen. Die Arbeit intendiert, die Spannungen und Transformationen dieses facettenreichen Kinos aufzugreifen.

Mit Blick auf ein größeres Auswahlkorpus an algerischen und franko-algerischen Spielfilmen, das einen Entstehungszeitraum von den 1960er Jahren bis in die heutige Zeit umfasst, wird den Entwicklungen und Positionierungen des Kinos nachgegangen. Dazu werden die Untersuchungen nicht auf einen einzigen Aspekt zugespitzt. Sie orientieren sich vielmehr an der Leitfrage nach verschie ← 9 | 10 → denen Konzeptionen von Identität und Geschichte, die es zusammen mit einer filmhistorischen Perspektive ermöglicht, die Vielfalt dieses Kinos zu erfassen. Identitätsproblematiken und Geschichtsnarrationen bilden eines der konstanten Merkmale im (franko-)algerischen Filmschaffen. An ihnen können zugleich Kontinuitäten und Transformationen abgelesen werden. Dabei variieren nicht nur die Stimmen und Urheber der Filme, indem allmählich verschiedene Gruppen ihre eigene Geschichte und Identität einfordern, sondern es verändern sich auch die Herangehensweisen und Sichtweisen bezüglich dieser Kategorien.

Die verhandelten Themenfelder reichen von der Entstehung der Nation im Algerienkrieg über gesellschaftliche Umbrüche, den Bürgerkrieg der 1990er Jahre bis hin zu Migrationsproblematiken. In den Analysen des Filmmaterials wird herausgearbeitet, wie in den einzelnen Werken nationale Diskurse formuliert, stabilisiert oder aber dekonstruiert werden und alternative Perspektiven zum Ausdruck kommen. Die Betrachtung eines relativ großen, heterogenen Korpus gibt den Blick auf die Veränderungen und die in ihren Funktionen verschiedenen algerischen Kinos frei – vom antikolonialen Kino und Instrument nationaler Konstruktion bis hin zum Sprachrohr marginaler und oppositioneller Stimmen.

Das Korpus umfasst über 30 enger betrachtete Filme und etwa ebenso viele Werke, die als weiterer Referenzrahmen herangezogen werden.1 Die gemeinsamen Kriterien sind vor allem die Auseinandersetzung mit der franko-algerischen Geschichte und damit verbundenen Identitätsproblematiken. Der Fokus liegt auf Algerien; dennoch vollzieht die Arbeit die sich in der Geschichte manifestierenden Verbindungen und Dynamiken des Filmschaffens zwischen Algerien und Frankreich nach. In das Analysekorpus aufgenommen wurden solche Filme, die sich in exemplarischer Weise den gewählten Themen widmen und entweder für bestimmte Tendenzen oder besondere Neuerungen stehen. Das Korpus spiegelt also in sich die Vielfalt des Kinos und ist, allen Einschränkungen zum Trotz, repräsentativ für dessen Charakteristika und Bewegungen, die die vorliegende Arbeit aufzeigen möchte.

Zwar haben die meisten hier analysierten Filme Preise auf internationalen Filmfesten gewonnen, und einige von ihnen sind sogar durchaus auch kommerziell erfolgreich. Insgesamt sind aber die algerischen Filme international sowie auch in Algerien selbst sehr schlecht distribuiert und häufig nur auf Festivals zu ← 10 | 11 → sehen. Daraus ergaben sich für die Arbeit erhebliche Schwierigkeiten in der Materialbeschaffung. Besonders die älteren Filme sind kaum zugänglich und können, wenn überhaupt, teilweise nur in Kinematheken eingesehen werden.2 Mittlerweile sind allerdings mehr und mehr Filme (oft ohne Untertitel) auf YouTube zu sehen.3

Spannungen zwischen nationaler und transnationaler Verortung sowie diverse kulturelle Einflüsse begleiten das algerische Kino seit seinen Ursprüngen und sind sowohl in den ästhetischen Orientierungen als auch in den Identitätsfragen der Filme angelegt. Die Verhandlung von Identität und Geschichte begründet sich besonders aus der 132-jährigen französischen Kolonisation, vor deren Hintergrund das Kino zu betrachten ist. Koloniale Praktiken, Diskurse und Institutionen haben nicht nur zu ihrer Zeit ein System der Ausbeutung geschaffen, sondern auch ein koloniales Erbe hinterlassen, das bis heute auf mehrfache Weise präsent ist. Die Konflikte und Beziehungen zwischen ehemals Kolonisierten und Kolonisatoren bestehen auf verschiedenen Ebenen (politisch, wirtschaftlich, kulturell) fort. Sie wirken sich auf das Kulturschaffen der einst dominierten Länder wie Algerien ebenso wie auf die künstlerische Produktivität im Migrationskontext aus. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Kolonisation, die daraus resultierenden Identitätsfragen und die Suche nach eigenen Ausdrucksweisen sind zentral für die literarische und filmische Produktion. Dabei bleiben sprachliche und kulturelle Verbindungen zum ehemaligen Kolonisator bestehen. Besonders in der Migrationssituation und den sich generierenden transnationalen, diasporischen Kulturen entstehen so Schreibweisen der Ambivalenz, Vielfalt und Polyphonie, die linguistische, kulturelle und nationale Grenzen transzendieren (vgl. Gafaïti / Lorcin / Troyansky 2005: 11 ff.). ← 11 | 12 →

In seiner Genese und thematischen Verankerung ist das algerische Kino eng verbunden mit der kolonialen Erfahrung. Aus dem Freiheitskampf heraus entstanden, macht es diesen zu einem bedeutenden Referenzpunkt, der für die algerische Filmgeschichte bis heute in verschiedenen Ausformungen wichtig ist und auch in kinematographischen Verhandlungen aktueller Problematiken eine Rolle spielt. Steht im Rahmen der algerischen Dekolonisation zunächst die Affirmation einer nationalen Einheit im Vordergrund, wird Letztere selbst durch zunehmende Desillusionierungen und die Krise des Staats im Bürgerkrieg der 1990er Jahre gebrochen, wodurch etablierte offizielle Identitäts- und Geschichtsentwürfe sich vermehrt in Frage gestellt sehen.

Die Spannungen zwischen nationalen und transnationalen Ausrichtungen, die das Kino prägen, lassen sich auch an der Wahrnehmung der Filme bzw. an den Erwartungen der Rezipienten festmachen. Abgesehen von dem nicht zu bestreitenden Einfluss Hollywoods auf die weltweite Filmproduktion, ist das frankophone Filmschaffen algerischer Cineasten häufig einer Kritik der ‚Verwestlichung‘ oder ‚Französisierung‘ ausgesetzt, die sich gegen die Sprache, die Positionen und Inhalte der Filme richtet. Tatsächlich sind viele algerische Regisseure/innen seit den 1990er Jahren vorwiegend im Exil tätig und auch unabhängig davon oft durch ihre Bildungswege und Biographien europäisch-französisch geprägt. In Frankreich geborene oder emigrierte algerische Regisseure wie z. B. Merzak Allouache und Nadir Moknèche, die in ihren Filmen kritisch und provokativ auf die algerische Gesellschaft blicken, müssen sich nicht selten den Vorwurf gefallen lassen, sie seien keine algerischen Regisseure (mehr), hätten sich von Algerien distanziert und passten sich ‚westlichen‘ Sichtweisen an.4 Eine solche Haltung zeugt von einer einschränkenden, essenzialistisch geprägten Auffassung von Kultur und Identität. Die Betrachtung postkolonialer Produktionen erfordert aber Denkweisen, die Letztere nicht mehr mit Sprache, Ethnie und Nation gleichsetzen und sich auf abgegrenzte Einheiten beziehen (vgl. ebd.: 8 f.). Für das Verstehen der Werke sind kritische Perspektiven notwendig, die diese in ihren hybriden Strukturen fassen können und homogenisierende Konzepte überwinden. Gerade ein Regisseur wie Allouache verkörpert exemplarisch die Komplexität des Filmschaffens über Grenzen hinweg. Als einer der einflussreichsten algerischen Cineasten, der in den 1970er Jahren neue Impulse setzte und seinen eigenen Stil bis in die heutige Zeit prägt, ist er repräsentativ für ein transnationales algerisches bzw. franko-algerisches Kino. ← 12 | 13 →

Zwar ist die filmwirtschaftliche Marginalität vieler Kinos ehemaliger Kolonien (mit Ausnahmen großer Industrien wie Bollywood) durchaus eine Tatsache. Im Rahmen dieser Arbeit war dies nicht zuletzt in der schwierigen Beschaffung algerischer Filme spürbar, die der schlechten Distribution geschuldet ist. Dichotome Denkweisen, die die Kinos der sogenannten „Ersten“ und „Dritten Welt“ diametral zueinander positionieren, sind dennoch überholt. Die Beziehungen der weltweiten Kinos sind angesichts der Verflechtungen auf Produktionsebene sowie in Bezug auf inhaltlich-ästhetische Aspekte weitaus komplexer zu sehen. Unter dem Einfluss der Postcolonial Studies sowie der Debatten um Transkulturalität und Transnationalität werden nicht nur die Literaturen der Welt aus einer grenzüberschreitenden Perspektive betrachtet5, sondern auch das Filmschaffen in seiner Vernetzung erfasst. Rücken die Kinos ehemaliger Kolonien seit zwei Jahrzehnten zunehmend ins Interessenfeld der Wissenschaft, greifen hier vor allem Ansätze zum transnational cinema, die sich den Hybridisierungsprozessen widmen. Erhöhte Aufmerksamkeit erfahren die postkolonialen Kinos vor allem in Arbeiten aus frankophonen und anglophonen Forschungszusammenhängen.

Ein Schwerpunkt bei der Auseinandersetzung mit transnationalen Kinos liegt bei den Filmen im Kontext von Exil und Migration. In Bezug auf das Filmschaffen von Migranten in Frankreich, das in zahlreichen Studien untersucht und auch im Rahmen der hier fokussierten Forschungsfrage gestreift wird, sind vor allem die Arbeiten von Carrie Tarr (Reframing difference: beur and banlieue filmmaking in France, 2005), Cornelia Ruhe (Cinéma beur. Analysen zu einem neuen Genre des französischen Films, 2006) und Will Higbee (Post-beur cinema: North African Émigré and Maghrebi-French Filmmaking in France since 2000, 2013) zu nennen. Sie beschäftigen sich mit verschiedenen Phasen, Entwicklungen und Genrebezügen franko-maghrebinischer Filmproduktion und zeigen, wie diese Klassifizierungen und Grenzen zwischen nationalen und transnationalen Kinos verwischt.

Auf der anderen Seite setzen viele Studien Schwerpunkte nach ehemals französischer oder britischer Kolonisation. Forschungen zu afrikanischen Kinos konzentrieren sich dabei häufig auf die subsaharischen Länder.6 Teilweise werden aber auch die Filmkulturen in Nordafrika und südlich der Sahara in einem Zusammenhang betrachtet (Roy Armes: African Filmmaking North and South of the Sahara, 2006). Neben sozio-ökonomischen Strukturen und Entwicklungen unter ← 13 | 14 → westlicher Marktdominanz geht es um Fragen der Selbstrepräsentation, wobei oft auch die Verbindungen zwischen autochthonen Traditionen und kinematographischen Ausdrucksweisen untersucht werden. Roy Armes, einer der Pioniere in diesem Forschungsfeld, widmet sich bereits seit den 1980er Jahren den Kinos ehemals kolonisierter Länder und legte entscheidende Beiträge für das Studium der maghrebinischen Kinos vor.7 In Postcolonial Images. Studies in North African Film (2005) bietet er eine komparative Zusammenschau der kinematographischen Entwicklungen in Algerien, Marokko und Tunesien. Diese Studie liefert eine Bestandsaufnahme an Filmen und Regisseuren/innen und verfolgt die Geschichte der maghrebinischen Filmindustrien von Beginn bis in die 2000er Jahre. Das nationale Filmschaffen und teils auch jenes in der Migrationssituation werden anhand von Beispielanalysen vertieft.

Ähnlich wie Armes untersucht die Algerienspezialistin Denise Brahimi in ihrer Studie 50 ans de cinéma maghrébin (2009) die maghrebinischen Kinos im Gesamtkontext. Entscheidende Etappen innerhalb ihres ca. 50-jährigen Bestehens werden dabei berücksichtigt und umfassen mit Blick auf Algerien neben politisch-historischen Schwerpunkten gesellschaftliche Aspekte und Genrebezüge. Eine weitere Zusammenschau über verschiedene arabische Kinos bietet Viola Shafiks Der arabische Film. Geschichte und kulturelle Identität (1996), das Verbindungen von Film und lokalen kulturellen Einflüssen wie Theater, Literatur und mündlichen Erzähltraditionen aufzeigt. Die spezifische „kulturelle Identität“ der Filme arbeitet Shafik mit dem Fokus auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede anhand von Beispielländern heraus; sie untersucht die Werke zudem entlang von Kategorien wie Realismus, historischer Film oder Autorenfilm. Einzelne Analysen zum algerischen Kino fallen aufgrund der Vielzahl von betrachteten Filmkulturen zwangsläufig kurz aus.

In Bezug auf spezielle Themen ist neben der Darstellung des Algerienkriegs, der sich verschiedenste Essays widmen, die Beschäftigung mit der Geschlechterbeziehung im algerischen Kino zentral. Die Soziologin Ratiba Hadj-Moussa lieferte hierzu 1994 eine komplexe Studie, die diese aus anthropologischer, soziologischer und narratologischer Perspektive untersucht. Detaillierte Analysen von ← 14 | 15 → bedeutenden algerischen Filmen der 1970er und 1980er Jahre zeigen die Ambivalenz der Genderbeziehung und dessen Spiegelung im Kino auf, das einerseits traditionell verankerte Männlichkeitskonstruktionen und Geschlechtertrennungen in Frage stellt, diese aber andererseits auch reaktiviert. Das „Kino der Frauen“ rückt in jüngerer Zeit weiter ins Forschungsinteresse, angesichts der allmählich steigenden Anzahl an Regisseurinnen und der hohen Relevanz an filmischen Verhandlungen zur Situation der Frauen.8 Weitere spezifische Beiträge finden sich im Rahmen von Betrachtungen zu künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem nationalen Kontext. Ranjana Khanna diskutiert in diesem Zusammenhang in Algeria Cuts (2008) die Repräsentation von Frauen in der Kolonialzeit sowie im unabhängigen Algerien und analysiert dazu verschiedenste Kunst- und Textformen. Reda Bensmaïa untersucht in Experimental Nations (2003) das Verhältnis frankophoner Schriftsteller und Regisseure zur nationalen Identität, Sprache und Kultur und analysiert deren vielfältige Sichtweisen der Nation.9

Wenn auch das Forschungsfeld hierzu noch viel Bearbeitung offen lässt, entstehen in jüngerer Zeit vermehrt Projekte, Symposien und Publikationen zum maghrebinischen und algerischen Kino, die ein wachsendes Interesse an diesem Thema bezeugen. Hintergrund hierfür ist nicht zuletzt die zunehmende historische Aufarbeitung der französischen Kolonialgeschichte und insbesondere des Algerienkriegs seit den 1990er Jahren. Dieser rückt seither und noch einmal verstärkt aufgrund der 50-jährigen Unabhängigkeit Algeriens 2012 in den Fokus wissenschaftlicher und öffentlicher Aufmerksamkeit. Dabei tragen viele Filme selbst zu den Debatten um Erinnerungen an die Kolonialgeschichte bei. Zudem beziehen einflussreiche Historiker wie Benjamin Stora in ihren Arbeiten Filme mit ein (u. a. in La guerre invisible. Algérie, années 90, 2001).

Die wenigen Monographien, die sich speziell mit dem algerischen Kino beschäftigen, stammen überwiegend aus früheren Dekaden. Einflussreiche französischsprachige Beiträge aus Algerien sind Rachid Boudjedras Naissance du cinéma ← 15 | 16 → algérien (1971), Lotfi Maherzis Le cinéma algérien. Institutions, imaginaire, idéologie (1980) und Abdelghani Megherbis Le miroir apprivoisé. Sociologie du cinéma algérien (1985).10 Während Boudjedra und Maherzi die Anfänge des algerischen Kinos beschreiben und auch kritisch auf dessen national-ideologische Verankerungen blicken, legt Megherbi eine detaillierte soziologische Studie vor, die sich neben den filmischen Produktionen besonders der Kinostruktur widmet.11 Als aktuelle Monographie zum algerischen Kino ist Guy Austins Studie Algerian national cinema (2012) zu nennen. Austin wirft ähnlich wie die vorliegende Arbeit einen umfassenderen Blick auf die Entwicklungen des algerischen Kinos und illustriert entscheidende Etappen und Themenschwerpunkte anhand von Filmbeispielen. Mit einem nationalen Fokus konzentriert er sich auf dessen eigene Spezifik, losgelöst von Frankreich, sowie auf verschiedene Repräsentationen der algerischen Nation. Seine Filmauswahl bestätigt den Kanon bedeutender algerischer Filme und auch das Korpus dieser Arbeit.

Während vorangegangene Studien ebenfalls eine postkoloniale Perspektive voraussetzen und Fragen der nationalen Identität nachgehen, stehen diese in der vorliegenden Arbeit in Verbindung mit der konkreten Analyse des Materials. Im Zentrum der Studie stehen die Filme selbst, die im Einzelnen sowie im filmhistorischen Kontext mit Blick auf ihre Geschichts- und Identitätsentwürfe betrachtet ← 16 | 17 → werden. Die Untersuchung aus transnationaler Perspektive ermöglicht einerseits das Erfassen eines heterogenen Korpus und ist andererseits zentral für die Frage danach, welche Identitätskonzeptionen sich in den Filmen ausdrücken. Vor dem politisch-historischen Hintergrund werden verschiedene Positionen, Konflikte und Ambivalenzen, die das algerische Kino ausmachen, ergründet und damit ein tieferer Einblick gewährt.

Die Arbeit ist so aufgebaut, dass zunächst die historischen und theoretischen Kontexte skizziert werden. Dabei wird die franko-algerische Geschichte in Grundzügen gestreift und auf eine für die Fragestellung kondensierte Betrachtung reduziert; ein Abriss zu den Erinnerungskonflikten verdeutlicht die weiterhin aktuelle Auseinandersetzung mit ihr. Anschließend folgt eine kurze Rahmung des theoretischen Spektrums, das konzeptuelle Voraussetzungen für die Analysen beinhaltet und vor allem als Verstehenshorizont zu sehen ist. Ein filmhistorischer Überblick im Anschluss stellt das hierzulande weitgehend unbekannte algerische Kino vor und dient der Orientierung. Entwicklungen und Tendenzen werden hier zusammenfassend aufgezeigt, bevor einzelne Fragen detaillierter in Kapitel IV untersucht werden.

Das Analysekapitel ist in vier große Blöcke unterteilt, die verschiedene Aspekte und Etappen des algerischen Kinos von der nationalen Konstruktion bis hin zu vielfältigen Sichtweisen von Nation und Geschichte verfolgen. Die einzelnen Oberkapitel orientieren sich an Schwerpunkten, anhand derer die allmähliche Diversifizierung des Kinos verfolgt wird. Teil 1 beschäftigt sich mit dem cinéma moudjahid, das im Zeichen des nationalen Unabhängigkeitskampfes steht. Teil 2 untersucht formale und inhaltliche Umbrüche, die Ambivalenzen sichtbar machen und homogene Bilder der Nation allmählich in Frage stellen. Teil 3 steht im Kontext des Bürgerkriegs und umfasst filmische Bearbeitungen des Terrorismus sowie in dieser Zeit auftauchende alternative Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart. In Teil 4 wird die Pluralisierung von Geschichts- und Identitätsentwürfen anhand des Hervortretens verdrängter, partikularer Gedächtnisse sowie vermehrt transnational-transkultureller Positionierungen der Filme verdeutlicht. Konkurrierende Erinnerungen sowie spannungsgeladene Identitätskonzeptionen reflektieren die Komplexität und Diversifizierung der filmischen Auseinandersetzung mit der franko-algerischen Vergangenheit und deren Auswirkungen in der Gegenwart. Die Arbeit zeigt insgesamt, wie die seit 1830 bestehenden Konflikte und Verbindungen zwischen Frankreich und Algerien im Film ihren besonderen Ausdruck finden und fortdauernd – jedoch auf unterschiedliche Weise – verarbeitet werden. ← 17 | 18 → ← 18 | 19 →


1       Sofern dies zur Diskussion bestimmter Fragen erforderlich ist, werden auch TV-Produktionen in die Analyse einbezogen; eine systematische Beachtung dieses Bereichs der audiovisuellen Produktion ist im Rahmen dieser Studie weder intendiert noch möglich. Dasselbe gilt für den Dokumentarfilmsektor, der punktuell berücksichtigt wird, dessen nähere Betrachtung jedoch Stoff für eine eigene Arbeit liefert.

2       Einige der Filme konnte ich nur dank der retrospektiven Filmreihen auf Festivals sichten, z. B. auf dem jährlichen Pariser Maghreb des films oder in Archiven der Bibliothèque nationale française, der Cinémathèque française, dem Centre culturel algérien in Paris oder der Deutschen Kinemathek in Berlin. Daneben haben mir einige ältere Fernsehmitschnitte aus dritter Hand dazu verholfen, mein Material um bedeutende algerische Filmklassiker zu erweitern. Aufgrund der Umbrüche in den letzten Jahren innerhalb der Cinémathèque d’Alger war eine Kooperation mit dieser für das algerische Kino zentralen Institution bedauerlicherweise nur eingeschränkt möglich. Angesichts der schweren Zugänglichkeit sowie der teils zu geringen Bildqualität des Materials ist die Arbeit mit nur wenigen und auf die Filme ungleich verteilten Bildern versehen.

3       Die analysierten arabischen und berberophonen Filme habe ich mit französischen Untertiteln gesehen. Die Filmtitel werden in dieser Arbeit primär auf Französisch angegeben; dies begründet sich durch die Zirkulation der Filme sowie ihre Verbreitung in der Literatur unter den französischen Titeln.

4       Siehe z. B. ein Interview mit Merzak Allouache auf http://www.tsa-algerie.com/entretiens/item/1333-c?tmpl=component&print=1.

5       Siehe z. B. zu Diskussionen um das Konzept der littérature-monde den 2010 von Alec Hargreaves, Charles Forsdick und David Murphy herausgegebenen Band Transnational French Studies. Postcolonialism and Littérature-monde.

6       So z. B. Olivier Barlets African Cinemas: Decolonizing the Gaze (2000), zuerst auf Französisch erschienen unter dem Titel Les Cinémas d’Afrique noire (1996).

7       In Third World Filmmaking and the West (1987) widmet sich Armes verschiedenen Kinos aus Afrika, Asien und Lateinamerika, die lange Zeit unbeachtet blieben, obwohl sie bereits in den 1980er Jahren über die Hälfte der weltweiten Filmproduktion ausmachten. Seine gemeinsam mit Lizbeth Malkmus veröffentlichte Studie Arab & African Filmmaking (1991) bietet einen Überblick zur Entstehung der Kinos in verschiedenen Ländern Nord- und Westafrikas und fragt nach der Beziehung von Film zu anderen künstlerischen Ausdrucksformen wie Literatur und Musik.

8       Im Rahmen der internationalen Forschung zu Assia Djebar sind verschiedenste Arbeiten und Artikel zu Djebars Film La Nouba des femmes du Mont Chenoua im Kontext zu ihrem Gesamtwerk und in Bezug auf Genderbeziehungen erschienen, siehe z. B. Touria Khannous 2000, Lindsey Moore 2008 sowie Claudia Gronemann 2001.

9       Die politische Bedeutung der Sprachenwahl im algerischen Kino diskutiert er in einem Beitrag in der Zeitschrift Les 2 écrans 1981. Insgesamt nehmen sich vor allem einzelne Essays oder Sonderausgaben von Zeitschriften der Untersuchung algerischer Filme an. Hier sind u. a. Zeitschriften und Online-Journals wie CinémAction, Cahiers du Cinéma, Expressions maghrébines, International Journey of Francophone Studies und The Journal of North African Studies zu nennen.

10     Die Forschungsliteratur in arabischer Sprache ist mir leider nicht zugänglich. Eine rezente Veröffentlichung von Adda Chentoufs , zu finden unter dem französischen Titel Le cinéma algérien. Entre hier et aujourd’hui (2012), zeigt aber, dass das Interesse am algerischen Kino auch von Wissenschaftlern in Algerien geteilt wird. Chentouf liefert einen Abriss der Entwicklungen des algerischen Kinos von den Anfängen über das ‚goldene Zeitalter‘ bis hin zur Krise und der allmählichen Wiederaufnahme der Produktionen. Das Anliegen war es, das Erbe des algerischen Kinos, das jüngeren Algeriern wenig bekannt ist, zu verbreiten und dem Mangel an Werken über jenes abzuhelfen. Chentouf bestätigt, dass seit den erwähnten Studien aus den 1980er Jahren keine wesentlichen Arbeiten hierzu erschienen sind. Siehe hierzu das Interview mit Chentouf auf http://www.liberte-algerie.com/culture/le-cinema-algerien-est-tres-diversifie-adda-chentouf-auteur-187365. Das Interesse am algerischen Kino als Reflexion gesellschaftlicher Prozesse wird auch in einigen Beiträgen des von der Universität Algier II veröffentlichten Bandes zur 50-jährigen Unabhängigkeit deutlich (Cinquantenaire de l’Algérie indépendante. Itinéraires et visages en devenir, 2012).

11     Er bietet neben der Untersuchung eines größeren Filmkorpus mit Blick auf Aspekte des Realismus und gesellschaftliche Themen eine Übersicht der Entwicklung der Kinosäle, Programmgestaltung und Zuschauerstrukturen. Eine aktuelle Bestandsaufnahme der wenigen verbleibenden oder wiedereröffneten Kinosäle in Algerien liefert Nourreddine Louhal in Sauvons nos salles de cinéma (2013).