II Politisch-historische und theoretische Hintergründe
1. Homogenisierungen im kolonialen und unabhängigen Algerien
Erfahrungen der (De-)Kolonisation haben sich deutlich auf die weitere politisch-historische Entwicklung und Selbstdefinition Algeriens ausgewirkt und prägen bis heute auch die kinematographische Produktion. Sie bilden die Ausgangssituation sowie den Gegenstand eines Großteils der untersuchten Filme. Zwar können die einzelnen Fakten der franko-algerischen Geschichte hier nicht detailliert aufgeführt werden.12 Im Folgenden soll aber ansatzweise auf die Grundproblematik geblickt werden, die sich aus der kolonialen sowie der anschließenden nationalen Politik ergeben hat und hier von Interesse ist.
Algerien wurde seit der Antike mehrfach zum Eroberungsziel fremder Mächte, die die Gewaltgeschichte geprägt und jeweils ihre Spuren hinterlassen haben.13 Zu den ältesten in Algerien angesiedelten Einwohnern zählen verschiedene Bevölkerungsgruppen, die unter der Bezeichnung „Berber“ zusammengefasst werden.14 Dies ist insofern bedeutend, als sich das in der antikolonialen Bewe ← 19 | 20 → gung herausgebildete und noch immer dominante nationale Selbstbild auf eine arabisch-islamische Identitätsdefinition stützt und der algerische Nationalismus in seinen Dogmen und Praktiken die Berber lange Zeit historiographisch und kulturpolitisch diskriminiert (hat). Ungeachtet der offiziellen Narration einer arabisch-islamischen Ursprünglichkeit Algeriens sind die tatsächlichen Einflüsse vielschichtig. Die verschiedenen Eroberungen führten einerseits zu einer heterogenen Zusammensetzung der Bevölkerung, andererseits beinhalteten sie auch, in unterschiedlichem Maße, eine gewaltsame Durchsetzung der Herrschaftskultur, so vor allem der Religion und Sprache der Invasoren.15 Im Gegensatz zu früheren Herrschaften, wie der ihr direkt vorangegangenen, drei Jahrhunderte andauernden osmanischen Oberhoheit, hatte die 132-jährige französische Dominanz16 durch ihre spezifische Art des Siedlungskolonialismus und ihre sogenannte mission civilisatrice besonders folgenschwere Auswirkungen auf die existenziellen Lebensgrundlagen und die politisch-kulturelle Autonomie der Autochthonen. Anders als die französischen Protektorate Marokko und Tunesien wurde Algerien in allen Souveränitätsbereichen der kolonialen Autorität unterstellt und als integraler Bestandteil mit drei Départements (Algier, Oran, Constantine) politisch angegliedert.
Für die Herausbildung der nationalen algerischen Selbstdefinition spielt die koloniale Politik und Alteritätskonstruktion eine wesentliche Rolle. Die Negierung der kulturellen und historischen Identität(en) der Kolonisierten sowie deren Homogenisierung und Inferiorisierung als indigènes, colonisés oder Arabes förderten die Entwicklung einer nationalen Gegenidentität, die sich im Zuge des Freiheitskampfes manifestiert und auch die Anfänge des algerischen Kinos prägt. ← 20 | 21 → Die auf Dichotomien basierenden Identitätsmuster der kolonialen Erfahrung schreiben sich hierin fort.
Ist die binäre Opposition zwischen colonisé und colonisateur17 aus postkolonialer Sicht vor allem als eine diskursiv erzeugte Identitätsdiskriminierung zu betrachten, instaurierte sie seinerzeit mit Hilfe der Kolonialpolitik eine de facto gelebte Zweiklassengesellschaft. Insbesondere durch das statut musulman und den code de l’indigénat war die Zweiteilung der kolonialen Gesellschaft im Rechtssystem verankert.18 Abgesehen von ihrer tatsächlichen Glaubenszugehörigkeit wurden die autochthonen Algerier so einheitlich als musulmans stigmatisiert und ← 21 | 22 → entmündigt. Für die ‚Französisierung‘ Algeriens wurde mit dem Décret Crémieux von 1870 lediglich die jüdische Bevölkerung mit der europäischen rechtlich gleichgestellt.19 Die politischen Praktiken lieferten die Legitimation zur Entwertung der autochthonen Kultur, indem sie durch Zerstörung von Lebensgrundlagen eine materielle Not der Kolonisierten herbeiführten (vgl. Bourdieu 2001: 127).20 Der rassistische Glaube an die rechtmäßige französische Vorherrschaft21 sowie der Widerspruch zwischen Assimilationsdiskurs und dem politisch-gesellschaftlichen Ausschluss der Algerier hemmten eine funktionierende Zukunftsentwicklung der Algérie française, deren Scheitern damit vorgezeichnet war (vgl. Haddour 2002: 2). Hinter der Fassade eines triumphierenden Kolonialismus, dessen Höhepunkt sich in den prunkvollen Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum des französischen Algeriens ausdrückte, ließen Landflucht und Verarmung der Autochthonen die Forderung nach Gleichberechtigung wachsen22 und standen im Kontrast zu einer blinden Selbstversicherung der Kolonialmacht über ihre „Errungenschaften“ (vgl. Verdès-Leroux 2001: 180).
Zusammen mit der rechtlichen Diskriminierung verwies die diskursive Macht die Kolonisierten auf den Platz des ‚Anderen‘. Die Infiltrierung der Denkweisen ist insofern von Bedeutung, als sie Selbstentfremdungen und Assimilationsbestrebungen vor allem der kleinen algerischen Elite hervorrief. Die Negation der ← 22 | 23 → Kolonisierten und ihre Platzierung außerhalb der Geschichte erklären dann auch den hohen Stellenwert, den das Neuschreiben der eigenen nationalen Identität und Geschichte im Kontext der Unabhängigkeitsbewegung erfährt (vgl. Fanon 1981 [1961]). Bleibt den Kolonisierten aufgrund der unmöglichen Assimilation im Sinne einer Gleichstellung letztlich nur die Revolte als Ausweg, führt die hierfür notwendige Aufwertung der eigenen Kultur Fanon zufolge zur Stärkung bestimmter Identitätskomponenten, die zur Grundlage der nationalen Mobilisierung werden. Religiöse und ethnische Identitätsmerkmale können so die Oberhand gewinnen. Die auf Religion rekurrierende koloniale Diskriminierungslinie in Algerien stärkte in der Tat den Islam als einenden Identitätspfeiler, der sich laut Stora angesichts des politischen Ausschlusses der Algerier zur „patrie de référence idéologique“ entwickelte (Stora 1991: 41). Im Dekolonisationsprozess erfuhren die Stigmatisierungen der Autochthonen als musulmans und Arabes also eine positivierte Umkehrung. Sie wurden zu zentralen identitären Referenzpunkten und avancierten letztlich zum gemeinsamen Nenner der Unabhängigkeitsbewegung und zum Fundament des Nationenkonzepts.23
Die politischen Anfänge des algerischen Nationalismus waren dennoch vielfältig. Eine erste Strömung bildete sich in den 1920er Jahren im bürgerlich-laizistischen Milieu einer kleinen autochthonen Elite, die sich auf die im französischen Bildungssystem propagierten humanistisch-demokratischen Werte berief. Die daraus entstandene Fédération des Élus Indigènes, geführt von dem Arzt Mohamed Bendjelloul sowie dem Apotheker und späteren Präsidenten der provisorischen algerischen Regierung Ferhat Abbas, strebte eine parlamentarische Lösung an, d. h. eine Gleichstellung der Algerier und eine Reformpolitik innerhalb des französischen Systems. Im linken Milieu bemühte sich seit 1936 die oft vergessene Parti communiste algérien (PCA), die trotz einer algerischen Führung hauptsächlich aus europäischen Mitgliedern bestand, ebenfalls um Gleichberechtigung und setzte auf eine brüderliche Vereinigung der Bevölkerungsgruppen. Im Gegensatz dazu forderte die militantere Bewegung der 1926 in Paris unter Messali Hadj und zunächst an der Seite der französischen Kommunisten entstandene Étoile nord-africaine (ENA) als erste Partei ein souveränes Nordafrika. Trotz mehrfacher Verbote und Verhaftung Hadjs gründete sich die Partei immer wieder unter anderem Namen neu, 1937 als Parti du peuple algérien (PPA) mit Sitz in Algier, ← 23 | 24 → 1946 als Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques (MTLD), das eine Mehrheit im muslimischen Wahlkolleg erlangte. Aus dem militanten Flügel von dessen Geheimorganisation ging 1954 das Comité révolutionnaire pour l’unité et l’action (CRUA) hervor, das sich mit dem bewaffneten Aufstand am 1. November 1954 zur Front de libération nationale (FLN) transformierte. Letztere lieferte sich als Abspaltung des MTLD einen erbitterten Kampf mit dessen Nachfolgeorganisation Mouvement national algérien (MNA). Eine weitere bedeutende Kraft des algerischen Nationalismus entstand unter der islamischen Elite, die 1931, geführt von Chikh Ben Badis, die Vereinigung der reformistischen Schriftgelehrten Oulémas gründete. Diese waren überzeugt davon, dass die algerische Nation nur durch eine Rückbesinnung auf die Werte des Korans ‚wiederbelebt‘ werden könne; sie prägten den im Unabhängigkeitskampf etablierten Slogan des algerischen Nationalismus: „Der Islam ist meine Religion, Arabisch meine Sprache, Algerien mein Vaterland“ (siehe Ruf 1997: 51 f.). Der algerische Nationalismus beherbergte ursprünglich also verschiedene Positionen – von moderaten Forderungen und Ideen eines gemeinsamen Algeriens über kommunistische Ansätze bis hin zu islamischen Ausrichtungen und Souveränitätsbestrebungen.24
Das Scheitern lang ersehnter politischer Reformen25 sowie die Massaker und Repressionen vom Mai 1945 in Sétif, Guelma und Kherrata ließen immer weniger an eine Reformierbarkeit des Kolonialstaats glauben und förderten schließlich den Kurswechsel der gemäßigten Bewegungen in Richtung Unabhängigkeit. Der 8-jährige Algerienkrieg, in dem Frankreich mit allen Mitteln an Algerien festhielt, wurde zu einem der blutigsten Kriege der jüngeren europäischen Kolonialgeschichte. Die FLN entwickelte sich hierbei zur führenden Kraft im Freiheitskampf.26 Andere politische Strömungen schlossen sich der FLN an; ebenfalls übte ← 24 | 25 → diese aber Druck auf die algerische Bevölkerung aus und erzwang den Anschluss an die von ihr propagierte „Revolution“, nicht zuletzt mittels Waffengewalt: „Le noyau populiste originel impose son hégémonie à toutes les factions, par tous les moyens, y compris la terreur. La garantie de sa prépondérance, il la tient de son contrôle sans partage sur l’appareil militaire, sur l’ALN et les groupes armés des centres urbains“ (Harbi 1980: 170 f.). Neben dem blutigen Kampf gegen die MNA sorgten interne Rivalitäten für ‚Säuberungen‘ innerhalb der FLN. Dass letztlich politische Verhandlungen zwischen Frankreich und der provisorischen algerischen Regierung im Exil (GPRA) zu den Verträgen von Evian im März 1962 führten und die Unabhängigkeit Algeriens per Referendum am 5. Juli desselben Jahres brachten, wurde durch die Heroisierung der Armee verdeckt. Ebenso wurden die inneralgerischen Konflikte nach der Unabhängigkeit im politischen Einheitsdiskurs der FLN verdrängt.
Widersprüche zwischen einem islamischen Reformismus und ‚westlich‘ geprägten, französisch-republikanischen sowie marxistischen Ansätzen begleiteten den Prozess des nation building im neuen Algerien weiterhin. Die politische Realität und die FLN selbst waren weitaus uneiniger, als es die offizielle Idee der Nation vermittelte. Mit der Unabhängigkeit gewann ein Teil des militärischen Flügels der FLN die Oberhand im Machtkampf um die Führung des neuen Staates. Mit Hilfe von Houari Boumedienes Truppen der Grenzarmee setzte sich zunächst das Bureau politique gegenüber anderen politischen Fraktionen durch und Ben Bella wurde im September 1962 erster Präsident des unabhängigen Algeriens. Mit dem Putsch des Verteidigungsministers Boumediene am 19. Juni 1965 sicherte sich der militärische Flügel endgültig seinen Machteinfluss mittels der alleinigen Inanspruchnahme der algerischen Befreiung.27 Die regierende FLN entwickelte sich gemeinsam mit dem Militär zu einem autoritären Machtapparat, etablierte sich als Einheitspartei und verbot alle anderen politischen Formationen.
War der algerische Staat in seiner Entstehung von Uneinigkeit geprägt, wurde dennoch oder gerade deshalb auf eine Politik der Einheit (politique d’unicité) gesetzt, die die politischen, sozialen und regionalen Differenzen übertönte und alternative Identitätsentwürfe sowie die kulturelle Heterogenität Algeriens negierte. Die offizielle Vorstellung der algerischen Nation, beeinflusst von der Instrumentalisierung des Islam und panarabistischen Ideen, schloss die Berber, Juden sowie andere Minderheiten aus. Frühere politische Entwürfe eines pluralen ← 25 | 26 → Algeriens wichen einer Homogenisierungspolitik zugunsten der amtierenden FLN. Die propagierte Einheit wurde durch die staatliche Kontrolle des Bildungs- und Kultursektors gestützt (vgl. Berrah 1997: 145). Die forcierte Arabisierung des Bildungswesens sollte den französischen Einfluss überwinden und ignorierte zugleich die bestehende Vielfalt an autochthonen Sprachen. Problematisch war zudem die große Differenz zwischen den mündlichen algerischen Varietäten des Arabischen, die mit Einflüssen anderer Sprachen wie des Berberischen und auch des Französischen versetzt waren, und dem klassischen Arabisch, das eigentlich nur die Schriftgelehrten beherrschten und nun im Schulunterricht verwendet wurde.28
Die Einheitspolitik konnte zudem die wachsenden sozialen Widersprüche zwischen der kleinen Machtelite und der Masse, die zunehmend in Armut lebte, nicht dauerhaft überdecken. Die Bevölkerungszahl war von ca. 10 Mio. im Jahre 1962 auf bereits 25 Mio. Einwohner 1988 gestiegen, Urbanisierung, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot nahmen zu, die Hälfte der Bevölkerung war unter 17 Jahre alt. Die Regierung verlor endgültig das Vertrauen der Algerier, als die Jugendproteste im Oktober 1988 in Algier und anderen großen Städten brutal vom Militär niedergeschlagen wurden (es gab 500 Tote allein in Algier). Die in der Folge eingeleitete Verfassungsänderung von 1989 bedeutete zwar eine Liberalisierung der Wirtschaft und mit der Öffnung zum Mehrparteiensystem das formale Ende des Einparteienstaats. Sie bewirkte allerdings keine tatsächliche Umverteilung der Machtverhältnisse; die Regierung blieb im Amt und der Führungsanspruch der FLN sowie die fehlende Gewaltenteilung fanden ihre Kontinuität in der neuen Verfassung (vgl. Ruf 1997: 79 ff.).
Während der Staat Ende der 1980er Jahre immer unglaubwürdiger geworden war, da er seine eigenen moralischen Prinzipien nicht einhielt, fanden die Islamisten vermehrt an Zuspruch, konnten sie doch ihre Ziele überzeugend in einem Argumentationsstrang mit dem Versagen des Staates anbringen. So zeichnete sich schließlich mit den ersten freien Parlamentswahlen im Dezember 1991 ein Wahlsieg der Front Islamique du Salut (FIS) ab. Um einen Sieg der FIS zu verhindern – und damit das Ende der Herrschaft von Armee und FLN sowie die von der FIS beabsichtigte Einführung der shari’a abzuwenden –, wurde der zweite Wahldurchgang im Januar 1992 abgebrochen und das Militär übernahm durch einen Putsch die Führung. ← 26 | 27 →
Aus dem brutalen Kräftemessen zwischen Regierung und Islamisten im jahrelangen Bürgerkrieg ging die Militärregierung gestärkt hervor. In diesem zweiten algerischen Krieg, der bis 1999 zwischen 100.000 und 200.000 Opfer forderte und kaum klare Fronten aufwies29, präsentierte sich das Regime als Retter der Demokratie und begründete seine eigenen Gewaltausbrüche als „lutte antiterroriste“, der seine Involvierung verdeckte (vgl. Stora 2001a: 12). Dabei herrschte während der années noires eine Undurchsichtigkeit durch interne Fraktionen der Regierung sowie der opponierenden islamistischen und terroristischen Gruppierungen, die sich gegen den Staat, ebenso aber gegen Andersdenkende, Künstler, ‚westlich‘ Orientierte und Frauen richteten. Wenn sich auch die extreme Gewalt nur schwer erklären lässt, so sind doch Verbindungen und Ursprünge einerseits in der Kolonisation, andererseits in dem offiziellen Vergessen der pluralen Ursprünge der Nation und des algerischen Nationalismus zu sehen (vgl. Stora 2001a; Ruf 1997).
Zwar ist ein konkretes Ende des Bürgerkriegs schwer auszumachen, Abdelaziz Bouteflikas „Politik der nationalen Versöhnung“ mit der Concorde civile von 1999 brachte aber eine relative Waffenruhe, u. a. durch ein Amnestiegesetz für reuige Islamisten ohne schwere Straftat.30 Bouteflika ist bis heute staatliches Oberhaupt. Die seit der Unabhängigkeit bestehende Autorität von Regierungspartei und Militär findet ihre Kontinuität in der Gegenwart, wenngleich andere politische Formationen ein Gegengewicht schaffen. Der Bürgerkrieg rief nicht nur politische Verunsicherung hervor, sondern auch eine erneute Identitätskrise, denn viele Algerier können sich weder mit der Regierung noch mit den Islamisten identifizieren und kämpfen um eine eigene Stimme in der zerrütteten Gesellschaft. Proteste während des sogenannten „Arabischen Frühlings“ im Jahre 2011 hielten sich in Algerien in Maßen – die traumatischen Erfahrungen sitzen noch tief und die Brutalität des Militärs schreckt ab. ← 27 | 28 →
2. Guerres de mémoires und nationale Erinnerungspolitik
Der Umgang mit der franko-algerischen Geschichte und der gewaltsamen Dekolonisation prägt bis heute die Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich. In Algerien, aber auch in Frankreich steht ein großer Teil der Bevölkerung durch die eigenen oder familiären Erfahrungen direkt oder indirekt damit in Verbindung. Für algerische Migranten mehrerer Generationen ebenso wie für harkis und pieds-noirs31 bleiben Fragen der Zugehörigkeit bestehen.
Das gegenseitige politische Interesse der beiden Länder ist größtenteils wirtschaftlicher Art.32 Trotz einiger Schritte der Annäherung wird eine Aussöhnung ← 28 | 29 → durch unerfüllte politische Erwartungen und Mechanismen des Vergessens erschwert und steht der Rückzug auf die eigene Wahrheit einem Dialog oft entgegen. Die FLN-gesteuerte offizielle Erinnerung in Algerien und das Beschönigen der kolonialen Vergangenheit von französischer Seite blockierten lange Zeit eine differenzierte Aufarbeitung und übertrugen die Last der Geschichte auch auf jüngere Generationen.33 Neben den politischen Diskursen stehen sich weiterhin eine Vielzahl von Gedächtnissen gegenüber. Die sogenannten guerres de mémoires zeugen von der Aktualität der Vergangenheit und entladen sich in einer immer wieder aufflammenden öffentlichen Präsenz an Debatten und divergierenden Positionen.34 Sie charakterisieren eine Fragmentierung der Geschichte durch die sich äußernden Konflikte zwischen historischen Akteuren, die um die Anerkennung ihrer spezifischen Erfahrung konkurrieren. Die politisch und medial geführten „Erinnerungskriege“ sind insofern für die Untersuchungen dieser Arbeit relevant, als sie einerseits den außerfilmischen Hintergrund verständlicher machen, die Filme andererseits selbst Anteil an den guerres de mémoires haben, indem sie (verdrängte) Erinnerungen vergegenwärtigen und teilweise große öffentliche Debatten auslösen.
In Frankreich hat der ‚Verlust‘ Algeriens lange Zeit kaum eine kritische politische Auseinandersetzung mit diesem Kapitel ausgelöst; ganz im Gegenteil wird nach wie vor das Gefühl artikuliert, mit guten Absichten gehandelt zu haben. Der Umgang mit der Kolonialgeschichte insgesamt zeigt, dass hier eine Politik ← 29 | 30 → des Verdrängens herrscht. Einen Höhepunkt der Debatten und ebenfalls Ausdruck dieser Abwehrhaltung bildete der Gesetzentwurf vom 23. Februar 2005, der in seinem Artikel 4 die „positiven Aspekte“ der Kolonisation, besonders in Nordafrika, hervorhebt und eine Vermittlung dieser Ansichten im schulischen Lehrplan vorsieht.35
Das Ausblenden trifft auch für andere Abschnitte der französischen Geschichte zu, ist aber Gilzmer zufolge bezüglich des Algerienkriegs besonders ausgeprägt (vgl. Gilzmer 2006: 112 f.). Der Algerienkonflikt wird von anderen Gedächtnisorten gar überlagert, die zwar selbst Phasen des Vergessens durchlaufen haben, sich aber besser auf einen gemeinsamen nationalen Nenner bringen lassen, so zum Beispiel der Zweite Weltkrieg, dessen Erinnerung von dem vereinenden Potenzial des Résistance-Mythos begleitet wird. Ganz anders stehen sich im Falle des Algerienkonflikts mehrere unversöhnliche und hartnäckige Fronten gegenüber.36 Bezeichnend für die Verdrängung des Algerienkriegs ist die begriffliche und damit politische Negierung dieses guerre sans nom, der erst im Jahre 1999 durch einen Beschluss der Nationalversammlung als Krieg klassifiziert wurde. Dass die verspätete Anerkennung des Kriegsstatus nicht unbedingt auf ein Schuldbekenntnis Frankreichs zurückgeht, ist aufschlussreich für die Schwierigkeit einer kritischen Betrachtung der Kolonialvergangenheit.37 Diese bleibt insgesamt ein Problem, das auf verschiedene Weise immer wieder aufflammt: „La France est malade de son passé colonial. Pour l’avoir trop longtemps repoussé aux marges de son histoire, marginalisé à l’université et dans les manuels scolaires, il est revenu comme un boomerang dans le débat public“ (Stora / Leclère 2011: 7). ← 30 | 31 →
Parallel zur französischen Politik des Vergessens etablierte sich auch in Algerien als Kehrseite einer „politique d’hyper-commémoration“ (Pervillé 2008: 108) ein großes Ausblenden von politisch inkompatiblen Aspekten der „Revolution“.38 Hinter dieser offiziellen Version verborgen blieben neben dem Kampf zwischen FLN und MNA, den Liquidierungen von Kommunisten und auch von Mitgliedern aus den eigenen Reihen (z. B. früherer FLN-Köpfe wie Abane Ramdane) ebenfalls der Beitrag der Fédération de France du FLN sowie der Frauen am nationalen Befreiungskampf. Das Vergessen der historischen ‚Gründungsväter‘ der nationalen Bewegung – Stora spricht gar von einem „ ‚meurtre‘ des pères du nationalisme“ (Stora 2001a: 106) – hatte folgenreiche Auswirkungen. An die Stelle einer Integration verschiedener Stimmen der Gesellschaft traten die Verehrung der militärischen Gewalt und die Heroisierung der FLN-Märtyrer, die eine „culture de guerre“ (ebd: 38) förderten. Die Öffnung des politischen Systems 1989 läutete zaghaft eine zweite Phase ein, in der mit der Liberalisierung der Medien und des Verlagswesens sowie mit einer vom Staat unabhängigeren Presse eine größere Meinungsfreiheit möglich wurde.39 Trotz verschiedener Gegenkräfte zur offiziellen Geschichtsnarration wird diese weiterhin instrumentalisiert.40 ← 31 | 32 →
Seit den 1990er Jahren erleben die öffentlichen Auseinandersetzungen um die franko-algerische Geschichte in beiden Ländern einen Aufschwung und es entzünden sich vermehrt Debatten zwischen verschiedenen Positionen innerhalb der eigenen Grenzen sowie darüber hinaus. Dies hat unterschiedliche Gründe. Wie für die meisten historischen Ereignisse zutreffend, tritt eine Aufarbeitung erst mit zeitlicher Distanz und einem Generationenwechsel ein. Eine intensivere Beschäftigung von Historikern und Journalisten mit dem Algerienkrieg wurde zudem durch eine Öffnung der französischen Militär-Archive von 1992 bis 2002 begünstigt, die zur Entstehung zahlreicher Arbeiten, u. a. zum Thema der Folter (z. B. Raphaëlle Branche: La torture et l’armée pendant la guerre d’Algérie, 2001) beitrug. Diese Publikationen, begleitet von Kolloquien und Zeitzeugenberichten, schufen ein Gegengewicht zu den Memoiren ehemaliger französischer Militärs.41 Daneben werden Forderungen seitens der Assoziationen von Kriegsveteranen, rapatriés (pieds-noirs), harkis oder auf der anderen Seite von algerischen Migranten und deren Nachkommen, antirassistischen Organisationen und Gruppen geäußert, die bestimmte Ereignisse in Erinnerung rufen (z. B. das Massaker an Algeriern im Oktober 1961 in Paris). Ebenso entstehen Debatten um Museumsprojekte, den schulischen Lehrplan für Geschichte oder eben auch bestimmte Filme, wie z. B. Hors-la-loi (Bouchareb, 2010, siehe IV.4.1.). Die weitere Abwesenheit eines offiziellen Erinnerungsdatums für den Algerienkrieg in Frankreich ist bezeichnend für die Uneinigkeit der verschiedenen Gedächtnisgruppen (vgl. Pervillé 2008: 108).
Angesichts der Suche nach Antworten auf die unfassbare Gewalt des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren werden auf algerischer Seite die Kolonialgeschichte und auch die Rolle der FLN seit dieser Zeit von kritischen Stimmen neu betrachtet. Allerdings wird der antikoloniale Kampf von der Militärregierung ebenso wie von den Islamisten wiederum instrumentalisiert (vgl. Stora 2001a: 51 ff.). Die offizielle Erinnerung an den Algerienkrieg wird in diesem Rahmen reanimiert, um die Einheit der Nation in Zeiten der Krise zu rehabilitieren. „Les discours officiels et ← 32 | 33 → les éditoriaux ont établi un lien entre la commémoration de ce drame national et l’appel à rétablir l’unité de la nation déchirée par la guerre civile“ (Pervillé 2008: 114). Dennoch dringen allmählich verschiedene Stimmen an die Oberfläche (nicht zuletzt auch durch exilierte Intellektuelle) und fordern das staatliche Erinnerungsmonopol heraus. Neben der Berberbewegung, die seit den 1980er Jahren stärker für eine sprachlich-kulturelle Anerkennung und Gleichberechtigung kämpft, treten verdrängte politische Gedächtnisse hervor.42 Weiterhin bleibt es jedoch schwierig, Positionen zu veröffentlichen, die Kritik am Staat oder Forderungen von Minderheiten betreffen. Während derartige entmystifizierende Perspektiven aber zumindest teilweise Verbreitung finden, wird die Aufarbeitung des Bürgerkriegs umso mehr von staatlicher Seite aus blockiert und von der Re-Instrumentalisierung der nationalen Befreiung übertönt. Verschiedene Gesetze erlegten den algerischen Journalisten bereits während des Bürgerkriegs eine strikte Zensur auf, indem hohe Strafen angeordnet wurden.43 Die Ermordungen zahlreicher Journalisten während der 1990er Jahre förderten zusätzlich eine Autozensur. Die Charte de réconciliation nationale vom März 2006 weitete nicht nur die Amnestiegesetze aus, sondern verankerte auch die Amnesie bezüglich der années noires durch weitere Vorgaben, die eine Aufarbeitung und Transparenz erschweren.
Während die Regierungen ihrerseits also weiterhin versuchen, die öffentliche Erinnerung zu lenken, durchkreuzt die hervortretende Vielfalt an Gedächtnissen die offiziellen Geschichtsversionen auf beiden Seiten des Mittelmeers. Sie zeigt, wie sich die nationale Geschichte undHistoriographie angesichts der verschiedenen Positionen neu befragen muss.44 Eine wichtige Rolle in diesem Prozess kommt den Medien zu, die das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Positionen und ← 33 | 34 → Konflikten verbreiten und inszenieren: „[L]es médias remettent en perspective le discours unilatéral sur le passé, des voix divergentes peuvent s’exprimer. De plus, la dimension strictement ‘nationale’ de la mémoire est un schème de moins en moins opérant“ (Ebd.: 18).
In den guerres de mémoires manifestieren sich einerseits alte Konflikte, die eine Annäherung verschiedener Gruppen in der Gegenwart verhindern können; andererseits stellen sie eine dynamische Kraft dar, die die Stimmen derjenigen hörbar macht, die aus der offiziellen Geschichte gestrichen werden. Die Vielzahl von Perspektiven, die zunehmend Ausdruck finden, macht es weiterhin schwer, eine gemeinsame Erinnerung an die franko-algerische Geschichte zu teilen. Über die nationalen Grenzen hinaus wird dies noch komplizierter. Zum 50-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit Algeriens im Jahre 2012 gewinnt die Frage nach Erinnerungen erneut an Aktualität.45 Sie schlägt sich auch in den fortdauernden filmischen Verarbeitungen der franko-algerischen Thematik nieder.
3. Theoretische Ausgangsperspektiven
Die Untersuchungen dieser Arbeit setzen einen theoretischen Rahmen aus postkolonialen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen voraus.46 Aus den komplexen Theoriefeldern werden hier nur einige Grundzüge zur Schärfung der Analyseperspektive aufgegriffen. Den gemeinsamen Nenner bilden Denkweisen, die ein Bewusstsein für Prozesshaftigkeit und Fragmentierung eröffnen und so beispielsweise einen kritischen Blick auf identitätsstiftende Kategorien wie Nation und Geschichte ermöglichen. Diese Ausgangsperspektive gestattet es, Differenzen, plurikulturelle Dynamiken und Ambivalenzen mitzudenken und Homogenisierungen aufzudecken. ← 34 | 35 → Theoretische Konzepte wie z. B. das der Hybridität und der Transkulturalität prägen dabei einerseits den Blickwinkel auf das Korpus und können andererseits bezüglich der Frage nach den Positionierungen der Filme selbst nutzbar gemacht werden.
3.1. Identitätskonzepte aus postkolonialer Sicht
Die oben erwähnte Umkehrung kolonialer Diskurse in der gleichermaßen auf Homogenisierung basierenden antikolonialen Identitätskonstruktion spiegelt sich im frühen algerischen Kino. Entsprechend lassen sich die auf Binarität basierenden Muster am untersuchten Filmkorpus herausarbeiten; andererseits gilt es zu fragen, wie diese gebrochen werden und andere Parameter auftreten. Eine Grundlage für die Betrachtung der verschiedenen Konstruktionsmechanismen der Filme bezüglich ihrer Identitäts- und Geschichtsentwürfe ist also zunächst die Unterscheidung zwischen kolonialen, antikolonialen und postkolonialen47 Denkweisen. Während der Kolonialdiskurs auf klaren Antagonismen und hierarchischen Gegenüberstellungen von Kulturen basiert und der antikoloniale Diskurs dessen Binarität aufrecht erhält und invertiert, unterlaufen postkoloniale Perspektiven die fixierten Dichotomien und gehen von Hybridisierungen und Gegenerzählungen innerhalb einheitlich konstruierter Identitäten aus. Bedeutend ist hier das Aufdecken und Neuinterpretieren vermeintlich monolithischer Entitäten und somit die Herausforderung kolonialer, aber auch nationaler Diskurse der neuen Machtelite. Dies drückt sich in ästhetischen Praktiken aus, wobei sich Annahmen zur postkolonialen Literatur auf filmische Artefakte übertragen lassen.
Whereas anticolonial literature relies in great part on dualistic (us versus them) rhetoric and calls for revolutionary warfare against the colonial power, postcolonial literature foregrounds a world in which the battle lines are harder to draw and the enemy harder to identify, a world in which dualism of any sort cannot be sustained easily. The literature underscores the fractures in the grand narratives of decolonization; it begins to effect a slippage away from the (former) colonizer as its main target and instead turns to a multiplicity of struggles: the hopes of nationalism giving way to disillusion and / or corruption, the forces of cultural imperialism and neocolonialism, continuing economic hardships, the spread of religious fundamentalism, and women’s issues. The mark of the postcolonial, then, is the blurring of neat, dichotomous boundaries – which does not mean the end of power differentials or the end of oppositionality (Donadey 2001: xxv). ← 35 | 36 →
Die von Donadey genannten thematischen Verschiebungen mit Blick auf Brüche und Problematiken innerhalb der neuen Nation ebenso wie Schreibweisen, die Fragmentation und Hybridität ausdrücken, manifestieren sich im analysierten Filmmaterial.
Hintergrund der Untersuchungen sind weiterhin Konzeptionen, die die seit der Aufklärung etablierten eurozentrischen Denkweisen über Kultur, Nation oder Geschichte überwinden. Individuelle und kollektive Identitäten werden hierbei nicht mehr als stabile Einheiten gedacht, wie sie im Kolonialismus und auch fortan noch in politischen Diskursen suggeriert werden. Sie gelten als temporär durch soziale Praktiken der Verankerung stabilisiert (vgl. Barker 2008: 247), prinzipiell aber als diskursiv-performative Konstrukte, denen keine Essenz zugrunde liegt. Vorstellungen fester kultureller Verwurzelung werden z. B. durch Denkfiguren wie dem Rhizom ersetzt (vgl. Deleuze / Guattari 1987). Als komplexes Wurzelgeflecht mit multiplen Verästelungen in unterschiedlichste Richtungen steht Letzteres exemplarisch für identitäre Beweglichkeit und vielfältige Vernetzungen.48 Zusammen mit diesen Annahmen bildet die u. a. von Stuart Hall formulierte und verschiedenen Ansätzen gemeinsame Grundidee von Identität als fortlaufendem Prozess das Ausgangsverständnis dieser Arbeit.49 Wird Identität generell in Repräsentationen erzeugt und ständig neu entworfen (vgl. Hall 1998), spielen gemeinsame Erzählungen und Erinnerungen eine zentrale Rolle. Medien wie der Film haben hier eine bedeutende Tragweite. Sie können Identitäten einerseits als stabil und homogen entwerfen, andererseits aber Konzeptionen von Identität als dynamisch, prozessual und beweglich vermitteln. Durch seine Multimodalität ist das Medium Film besonders geeignet, über verschiedene Komponenten (Figuren, Bewegung, Bilder, Montage, Musik, Sprache, Zeit etc.) komplexe und ambivalente Reflexionen anzustellen. ← 36 | 37 →
Die im Anschluss an Bhabha verbreitete Denkfigur der Hybridität, die sowohl absolute Macht als auch kulturelle Reinheit unterminiert und zum Leitbegriff heutiger Auffassungen von kultureller Identität avanciert ist, kann hier in einem vom streng theoretisierten Sinn gelösten Verständnis operationalisierbar gemacht werden. Als zunächst neue Perspektive der kolonialen Diskurse, die die Identitätseinheiten colonisateur und colonisé einer grundlegenden Fragilität aussetzt, ist dieses Konzept vielfach in andere Kontexte übertragen worden. Dabei ist Hybridität nicht einfach als „fröhliche Vermischung“ zu verstehen, wie dies teilweise im Zuge der Aneignung des Begriffs im populären Diskurs Konjunktur hat (vgl. Ha 2010).50 Vielmehr sind Machtstrukturen und Spannungen kultureller Aushandlungen mitzudenken, denn Hybridität umfasst gerade die Konfiguration von konfligierenden diskursiven Kräften.51 Die bei Bhabha damit verbundene Mimikry – als subversive Strategie der Kolonisierten und zugleich effektivstes Instrument des kolonialen Diskurses – produziert Ähnlichkeiten, aber ebenso Unähnlichkeiten: Kann der Kolonisierte somit in der Nachahmung, wie so oft zitiert, immer nur „almost the same but not quite“ (Bhabha 1994: 89) sein, liegt das Potenzial des Widerstands in der fortlaufenden Bedeutungsverschiebung und Umschreibung kultureller Symbole.52 Diese von Bhabha ebenso im Migrationskontext beschriebenen Prozesse, bei denen die diskursiv erzeugten Grenzen überschritten werden, stellen zugleich innere Konflikte für das Subjekt dar. Der Ausdruck von Hybridität in kulturellen Artefakten reflektiert so vielmehr eine spannungsgeladene Dynamik konfligierender Positionierungen als eine harmonisierte Mischung. Die Anschlussfähigkeit des bei Bhabha sehr abstrakten Theorems besteht darin, dass Hybridität als analytisch-kritisches Konzept eine ← 37 | 38 → Perspektive schafft, die von verschiedenen, gleichzeitigen Identifizierungen und Aushandlungen kultureller Elemente ausgeht und Vorstellungen von Homogenität und Fixierung zurückweist.53
Parallel dazu dient eine transnational-transkulturelle Sichtweise in dieser Arbeit als Ausgangspunkt und Analysekriterium. Ähnlich wie das Hybriditätskonzept geht der transkulturelle Ansatz von kulturellen Verflechtungen aus und erfasst dabei plurikulturelle Phänomene über den Rahmen des Postkolonialismus hinausgehend.54 Das Konzept steht für Gemeinsamkeiten in der Vielfalt und Differenz, für mehrfachkulturelle Anschlüsse konkreter Lebenswelten sowie für die Auseinandersetzung damit.55 Es beinhaltet so eine „Sichtweise, die ein prozessuales Kulturverständnis in Bezug auf kulturelle Begegnungen, Grenzüberschreitungen und Innovationen beschreibt und verstärkt in gesellschaftliche Diskurse einbringt“ (McPherson 2007: 31). Zwar wird Identität in der gesellschaftlich-politischen Realität weiterhin oft durch monokulturell gedachte, narrative Positionierungen festgeschrieben. Und auch in den Analysen kultureller Artefakte sind Kategorisierungen als Referenzpunkte notwendig, um Dynamiken überhaupt beschreiben zu können: „Dieses Mitdenken bewusst zu machen, ist eine mögliche Aufgabe transkultureller Analyse-Ansätze“ (ebd.: 20).56 Eine transkulturelle ← 38 | 39 → Perspektive innerhalb der Filme selbst äußert sich vor allem in einem Aufzeigen von kulturellen Verbindungen und der Konstruiertheit von Grenzen, die sich über verschiedene gestalterische Mittel ausdrücken lassen.
3.2. Nation und Geschichte als Identitätsreferenzen
Gilt es in der wissenschaftlichen Debatte spätestens seit Benedict Andersons Begriffsprägung der „imagined community“ (1983), Nationen bzw. nationale Identität als diskursive Konstruktionen zu fassen, bleibt die Nation zugleich das vorherrschende politische Modell und eine zentrale Identifikationsreferenz.57 Das Konzept der Nation lässt sich Anderson zufolge trotz seiner verschiedenen Realisierungen neben der nationalstaatlichen politischen Form allgemein durch die Vorstellung einer Gemeinschaft charakterisieren, die auf Annahmen der Ursprünglichkeit, Kontinuität und Traditionen basiert und mit einer gemeinsamen Sprache und Ethnie verbunden wird.58 Über Differenzen hinweg wird eine Einheit konstruiert, die sich in nationalen Mythen und Vergangenheitsbezügen verankert sieht. Sie gründet sich auf Erzählungen und Erinnerungen59 und wird in einem ständigen Prozess der symbolischen und sinnstiftenden Repräsentation evoziert und perpetuiert (vgl. Hall 1994: 200). ← 39 | 40 →
Wie oben erwähnt, spielt die Idee der Nation eine zentrale Rolle im Dekolonisationsprozess. Ist zunächst die Nation selbst das Ziel, das quasi mit der Befreiung gleichgesetzt wird, werden Geschichte und Kultur im nationalen re-writing mit dem Bild einer gemeinsamen (schon immer dagewesenen) Nation zusammengebracht. Die im antikolonialen Kampf vereinende und mobilisierende Vorstellung schreibt sich im Diskurs des neuen Regimes fort, das mit politischen Maßnahmen häufig zur Unterdrückung bestimmter Gruppen beiträgt. Die eigentliche Heterogenität der Nation sowie deren Spaltung während des Freiheitskampfes sehen sich so auch in Algerien durch den offiziellen Gründungsmythos ausgeblendet. Die vielen potenziellen Geschichten der Nation werden hier wie anderswo in den Schatten einer nationalen Narration gestellt, die die politische Gegenwart legitimiert. Mediale Repräsentationen haben daran einen entscheidenden Anteil.
Was Anderson für die Printmedien60 annahm, wird oft auf visuelle Medien übertragen. Diese werden als Kommunikationsmittel gesehen, die die imagined community durch Referenzen und Bilder stützen und z. B. in klassischerweise linearen und teleologisch ausgerichteten Erzählungen Imaginationen nationaler Geschichte prägen (vgl. Shohat / Stam 2003: 10). Besonders die digitalen Medien spielen heute eine wichtige Rolle, allerdings sowohl in einem nationalen als auch in einem transnationalen Kontext (siehe II.4.1.). Neben anderen Erinnerungspraktiken gelten Filme als prädestinierte Mittel zur Aktivierung von Gedächtnissen.
Filme […] können Erinnerungsfelder selbst eröffnen oder mitgestalten. Sie geben Impulse und schaffen Aufmerksamkeit für bestimmte Themen. Öffentliches Gedenken kann so vor dem Hintergrund eines Films einen neuen erinnerungskulturellen Status erhalten, bestimmte historische Themen können plötzlich brisant werden, Erinnerungsbedürfnisse können entstehen oder aber bestehende Erinnerungspraktiken können durch Filme erst bewusst werden (Wodianka/Erll 2008: 12).
William Guynn zufolge sind immer mehr Historiker der Ansicht, dass filmische Repräsentationen sogar so viel Macht besitzen, dass sie andere Formen der Erinnerung überwältigen, indem sie der öffentlichen Vorstellung unauslöschliche ← 40 | 41 → Bilder aufzwingen (vgl. Guynn 2006: 165).61 Eine theoretische Anschlussmöglichkeit bietet hier der Ansatz des Erinnerungsfilms. Als „gesellschaftlich und plurimedial ausgehandeltes Phänomen“ (Erll / Wodianka 2008: 2) existiert dieser ebenso wenig wie kulturelle Erinnerung an sich, sondern wird in Sozialsystemen erzeugt: „Nicht der Gegenstand des im Film Erinnerten, sondern das durch den Film ‚um den Film herum‘ Erinnerte macht seinen Status als Erinnerungsfilm aus“ (ebd.: 8). Vor allem die Rezeption, die öffentlich-medialen Diskurse über einen Film und sein nachhaltiger Erfolg sind also entscheidend darüber, ob dieser als Erinnerungsfilm Bedeutung erlangt. Im Kontext dieser Arbeit ist es zwar weniger von Interesse, einen derartigen möglichen Status der einzelnen Werke jeweils zu ergründen, jedoch verdeutlicht der Ansatz die Relevanz von Filmen für die öffentlichen Erinnerungsprozesse, die hier mitzudenken sind.
In ihren Narrationen erinnern und konstruieren die untersuchten Filme nationale Geschichte und Identität einerseits im Einklang mit vorherrschenden Diskursen, andererseits fragmentieren sie diese durch alternative Gegenerzählungen. Für die Analysen gilt es, die entsprechenden Aussagen und Strukturen aufzudecken. Einen theoretischen Rahmen liefern hier postkoloniale Denker, die Nation bzw. nationale Identität nicht nur als imagined, sondern als in ihrem Diskurs selbst weitaus instabiler auffassen. Ähnlich seiner Annahmen zur Hybridität, geht Bhabha z. B. von widerstreitenden Kräften innerhalb der Nation aus, die das offizielle Narrativ der Einheit unterlaufen (vgl. Bhabha 2003). Andere Erzählungen sowie andere, nicht-nationale Identitätskategorien durchkreuzen die dominanten, aber in sich fragilen Repräsentationen der Nation: „The narrative of nationality is continually displaced by other identities, like sexuality, class, or race, and there can be no end to this displacement“ (Huddart 2006: 111). Die innere Heterogenität destabilisiert den nationalen Diskurs, der sich immer wieder selbst durch symbolische Handlungen rekonstituieren muss und so für die Ausgeschlossenen eine Möglichkeit bietet, mit ihren eigenen Narrativen in den Bedeutungsprozess zu intervenieren: ← 41 | 42 →
Counter-narratives interrupt the nation’s smooth self-generation at the performative level, revealing different experiences, histories and representations which nationalist discourses depend on excluding. Hence, ‘the national memory is always the site of the hybridity of histories and the displacement of narratives’ (McLeod 2010: 141 f.).
Das Konzept der Nation bleibt zwar trotz transnational-transkultureller Vernetzungen für die Identitätsorientierung sowie für künstlerische Inszenierungen von Bedeutung, muss aber auf neue Weise, mit ihren inneren Brüchen, vorgestellt werden (vgl. Huddart 2006: 117).
Auch die Geschichte unterliegt – entgegen politischer Fixierungsversuche – Fragmentierungen in mehrfacher Hinsicht. Eine wachsende Stimmenvielfalt, die sich zunehmend medial Raum verschafft (siehe die guerres de mémoires) und mit der offiziellen Historiographie konkurriert, zeugt von den Konflikten zwischen der Festschreibung einer Geschichtsversion und der tatsächlichen Vielfalt an Gedächtnissen. Werden diese Kategorien in der Theorie anhand ihrer Subjektgebundenheit und ihres sozialen Bezugsrahmens unterschieden, durchkreuzen sie sich dennoch. Als Garant der Kohäsion einer Gruppe gilt das Gedächtnis als besonders für Mythen anfällig, während Geschichte den Anspruch der Objektivität und Genauigkeit zu erfüllen vermag (vgl. Vatter 2009: 27). Als narratives Konstrukt stellt die Geschichte bzw. die Historiographie aber ebenso wenig eine neutrale Faktensammlung dar, sondern ist immer schon eine Auslegung der Vergangenheit.62 Sie ist durch ihre politische Instrumentalisierbarkeit auch als institutionelle Macht zu sehen. Im Kontrast dazu stehen subalterne Geschichten, die keinen Zugang zur institutionalisierten Historiographie haben.
Die theoretisch diskutierte Fragmentation von Geschichte ist von verschiedenen Faktoren beeinflusst, wobei die Dekolonisationen des 20. Jhs. ihren Beitrag leisteten. Mit dem Auftreten der ‚neuen‘ Geschichten aus den ehemaligen ‚Peripherien‘ auf die politische Weltbühne wird die Idee einer einzigen ‚großen Geschichte‘ unhaltbar und das eurozentrische, hierarchische Entwicklungsden ← 42 | 43 → ken der modernen hegelianischen Geschichtskonzeption hinfällig.63 In Folge der Annahmen über die sprachliche Konstituierung von Wirklichkeit (linguistic turn) gilt zudem auch Geschichte in postmodernen Ansätzen als textuell konstruiert. „Was erinnert wird, ist bereits bearbeitet, ist zufällig und selektiv, nicht die ganze Wirklichkeit, es ist vor allem mit Sinn belegt, alles andere als Vergangenheit ‚pur’ und unmittelbar“ (Conrad / Kessel 1994: 97). Den narrativen Charakter stellt insbesondere Hayden White heraus, indem er die Nähe von Geschichte und Literatur anhand ihrer gemeinsamen textuellen Strukturen aufzeigt.
Die Ereignisse werden zu einer Geschichte gemacht durch das Weglassen oder die Unterordnung bestimmter Ereignisse und die Hervorhebung anderer, durch Beschreibung, motivische Wiederholung, Wechsel in Ton und Perspektive, durch alternative Beschreibungsverfahren und ähnlichem – kurz mit Hilfe all der Verfahren, die wir normalerweise beim Aufbau einer Plotstruktur eines Romans oder eines Dramas erwarten (White 1994: 128).
Erst durch die narrativen Verfahren, die Anordnung und Sinnstiftung nach bekannten Mustern, werde ein Verstehen der Geschichte möglich, die eine Bedeutung aus der Gegenwart heraus erhält und fiktionsbildenden Strukturen des emplotment folgt.64 Das Objektivitätspostulat sowie die Legitimität einer einzigen Geschichtsdeutung werden so entkräftet.
Ausgehend von diesen Grundannahmen ebenso wie von einer transnationalen Perspektive, wird Geschichte in dieser Arbeit in ihrer Pluralität verstanden. Das ← 43 | 44 → heißt, dass einerseits konfligierende und marginale Geschichten innerhalb der Nation und andererseits Verflechtungen darüber hinaus inbegriffen sind. Bei der Untersuchung des Filmmaterials stellt sich die Frage nach Reflexionen der offiziellen Geschichtsnarration ebenso wie nach dem Auftreten von Perspektiven, die sowohl im Kolonialismus als auch in hegemonialen Erzählungen der unabhängigen Nationen benachteiligt werden. Hier lässt sich eine Verbindung zu Ansätzen wie dem der entangled histories und der Subaltern Studies herstellen, die homogene (nationale) Geschichtsentwürfe jeweils hinterfragen. Das Konzept der entangled histories bemüht sich um eine Geschichtsauffassung, die sich nicht mehr in nationalen Teleologien verdichtet und die Nation aus sich selbst heraus erklärt, sondern von einer gegenseitigen Beeinflussung verschiedener Geschichten ausgeht (vgl. Conrad / Randeria 2002: 10 ff.). Daneben erfasst dieser transnationale Ansatz zugleich nationale Besonderheiten und Abgrenzungen als Produkt des entanglement.65
Ähnlich und vor allem mit Blick auf die Heterogenität an Stimmen und die Machtverhältnisse innerhalb einer Nation dekonstruieren die Subaltern Studies die Vorstellung von Geschichte als abgegrenzte Ganzheit.66 Der Ansatz ist in dem Sinne für die Perspektive des Untersuchungsgegenstands brauchbar, insofern „subaltern“ hier nicht hauptsächlich als unzugänglich (im Sinne von nicht dokumentiert, keinen Zugang zu Kommunikationskanälen) verstanden wird, sondern sich auf marginalisierte und ausgegrenzte Geschichten bezieht, die andere Perspektiven als die vorherrschende historiographische Rekonstruktion vertreten. Kulturelle Artefakte – in diesem Fall der Film – können dabei einen Weg aus der Verdrängung verschaffen und die unterdrückten Geschichten verbreiten.67 ← 44 | 45 →
Aus den verschiedenen theoretischen Vorüberlegungen für die Untersuchungen des Gegenstands bildet das Infragestellen von kultureller Identität, Nation und Geschichte als stabile und fixierte Ganzheiten eine gemeinsame Denkmatrix. Diese Ausgangsgedanken fassen Geschichte sowie nationale und individuelle Identität in ihrer Vielheit und Konstruiertheit. Sie stellen den narrativen Charakter der Konzepte ebenso wie Subjektivität, Fragmentation und Heterogenität heraus. Losgelöst von streng theoretischen Abstraktionen und dennoch vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, welche Perspektiven die Filme selbst anhand ihrer textuellen Strukturen diesbezüglich kommunizieren. Für eine weitere, filmwissenschaftliche Kontextualisierung des komplexen Korpus werden im Folgenden Ansätze zum transnationalen Kino skizziert.
4. Kino zwischen nationalen und transnationalen Positionierungen
Die Betrachtung des algerischen Kinos als eigenständige Filmwirtschaft in ihren spezifischen historisch-politischen und sozio-kulturellen Kontexten legt zunächst einen nationalen Fokus nahe. Auch die hier untersuchten Filme finden ihren Bezugsrahmen schwerpunktmäßig in Algerien und seiner Geschichte. Allerdings geht das gewählte Korpus in seiner Thematik, seinen Einflüssen und Produktionsprozessen über algerische Grenzen, Definitionen und Identifikationen hinaus. Entsprechend erfordert der Gegenstand einen transnational erweiterten Blick.68 Das algerische Kino, das sich aus dem antikolonialen Kampf heraus konstituiert hat und seinen Auftrag anfangs in der Stärkung der nationalen Identität sieht, ist von Beginn an grenzüberschreitend und mehrfach verortet. Es kann in einem weiteren Rahmen zum afrikanischen, arabischen oder maghrebinischen und auch zu einem mediterranen Kino69 gezählt werden, ← 45 | 46 → schreibt sich in verschiedene politische, identitäre und ästhetische Kontexte ein und findet dabei seine eigenen Ausdruckweisen. Eine isoliert nationale Perspektivierung erweist sich angesichts der voranschreitenden Transnationalisierung des franko-algerischen Filmschaffens im Kontext von Migration und Exil als besonders problematisch. Die Werke von Regisseuren/innen algerischer Herkunft in Frankreich werden zwar vor allem aufgrund ihres Produktionsortes, ihrer Finanzierung oder der Nationalität ihrer teils in Frankreich geborenen Macher häufig dem französischen Kino zugeordnet. Jedoch sind diese Faktoren nicht ausreichend, um die vielfältigen kulturellen Implikationen zu beschreiben, und die Kategorisierungen scheinen häufig arbiträr.70
Ziel dieser Arbeit ist es nun nicht, das algerische Kino streng unter einer Zuordnung zu definieren; vielmehr gilt es, das Filmschaffen anhand der Untersuchungen eines heterogenen Korpus und aus einer erweiterten Perspektive in seinen verschiedenen Facetten und Konstellationen zu erfassen. Unter Rekurs auf Ansätze zum transnationalen Kino soll eine kurze Rahmung dieses Verständnisses vorgenommen werden, die zugleich die Problematik einer Festschreibung des algerischen Kinos deutlich werden lässt. Aus dem weiten Feld an Begriffen und Konzepten zum transnational cinema, die sich mit Aspekten wie Nation, Ethnie oder Diaspora auseinandersetzen, werden hier nur einige Grundannahmen aufgegriffen, die den Hybridisierungsprozessen und der Vielschichtigkeit des Auswahlkorpus gerecht werden. ← 46 | 47 →
4.1. Nationale und transnationale Dimensionen in der Filmwissenschaft
Stellt man die Frage, wie ein nationales Kino zu definieren ist, fallen die Antworten komplexer aus, als es zunächst scheint. Ein nationales Kino kann als Prozess der Produktion, des Vertriebs und der Rezeption von Filmen innerhalb eines Landes verstanden werden. Der Begriff umfasst Filmwirtschaft, historische Entwicklungen und Institutionalisierungen, ist aber bereits an sich nicht eindeutig (siehe u. a. Hayward 2005).71 Durch die weltweiten wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen und Koproduktionen wird die klassische Zuordnung von Filmen zu einem nationalen Kino – etwa in Übereinstimmung von Produktionsort, Finanzierung und Nationalität der Macher – immer schwieriger und vermehrt kritisch diskutiert (vgl. Higson 2000). Die nationale Kategorie bleibt dennoch auf verschiedenen Ebenen relevant. Sie erfährt ihre Bedeutung mit Blick auf das algerische Kino einerseits in Bezug auf die Institutionalisierung der Filmproduktion in Form des Staatskinos, andererseits aber auch hinsichtlich der Frage nach den in den Filmen kommunizierten Aussagen, also bezüglich der Auseinandersetzung mit der Nation.
Im Allgemeinen wird Kino angesichts soziokultureller und politischer Prägungen sowie des Einschreibens in nationale Kontexte (sowohl affirmativ als auch ablehnend) weiterhin als Ausdruck nationaler und lokaler Spezifika gesehen. „As the products of national industries, produced in national languages, portraying national situations, and recycling national intertexts (literatures, folklores), all films are in a sense national“ (Shohat / Stam 2003: 10).72 Über ihren Entwurf von Eigen- und Fremdbildern vermitteln Filme Inklusion oder Exklusion von Gruppen in die nationale Gemeinschaft.73 Ebenso gut aber können sie mit ihren ← 47 | 48 → Positionierungen das politisch dominante Bild der Nation unterlaufen und bieten einen Aushandlungsraum: „Cinema offers a site to suture or contest identities of nation, as well as of gender, class, race, and ethnicity“ (Codell 2007: 365).
Nicht zuletzt spielen die Rezeption und der politische Rahmen eine Rolle bei der Definition eines nationalen Kinos. Welche Filme oder Filmformen als repräsentativ oder gar als Aushängeschild für ein nationales Kino gelten und was andererseits verboten oder marginalisiert wird, hängt von den dominanten Diskursen ab und ist sowohl arbiträr als auch dynamisch. Schließlich gibt es nicht ein einziges, fest definiertes nationales Kino, sondern ist dessen Konzeption selbst Veränderungen ausgesetzt und dessen Zusammensetzung vielfältig.
[T]there is no single cinema that is the national cinema, but several. It thereby puts an end to the dangers of historicism that identify a national cinema with specific movements or directors and suggests, rather, that there is flux, slippage between the various cinemas which constitute the nation’s cinema (Hayward 2005: 14).
Innerhalb eines nationalen Kinos, das sich im weitesten Sinne auf ein Land bezieht, lässt sich somit zwischen verschiedenen Kinos differenzieren, deren Funktionen und Haltungen gegenüber der staatlich gestützten Definition der Nation unterschiedlich sein können (vgl. Higson 2000: 63). Zudem stehen sich beispielsweise das Mainstream-Kino und alternative Produktionen oder ein sogenanntes counter cinema74 gegenüber. In Bezug auf Algerien bestehen die Differenzen hier vor allem in dem Kontrast zwischen politisch kompatiblen und oppositionellen Positionen.
Auf wirtschaftlicher und kulturpolitischer Ebene wird die nationale Klassifizierung von Kinos und Filmen selbstverständlich perpetuiert (vgl. ebd.: 69). ← 48 | 49 → Besonders im Wettbewerb, auf internationalen Filmfestivals, ist sie von Interesse.75 Der nationale Referenzrahmen bleibt insgesamt bedeutend und stellt auch in den identitären Auseinandersetzungen im Kontext von Migration und dem Hinterfragen dominierender nationaler Diskurse eine zentrale Bezugsgröße dar. Die Forschungsperspektive sollte aber unter Berücksichtigung der inneren Vielfalt und äußeren Verflechtungen erweitert werden.
Konzepte zum transnationalen Kino, die seit Mitte der 1990er Jahre in der Filmwissenschaft an Bedeutung gewinnen, antworten auf die als zu limitierend befundene nationale Sichtweise und reagieren auf (Migrations-)Bewegungen von Filmemachern und kulturellem Kapital.76 Das Transnationale wird dabei als Zusammenspiel von globalen und lokalen Kräften gesehen, das neue Formen entstehen lässt (vgl. Ezra / Rowden 2006: 4). Unter der Grundprämisse, dass nationale Filmlandschaften nicht als homogene, isolierte Einheiten zu fassen sind, beschäftigen sich die verschiedenen Beiträge zum transnational cinema einerseits mit zunehmenden Verflechtungen weltweiter Filmkulturen und -industrien auf den Ebenen der Produktion, Distribution und Rezeption. Andererseits fokussieren sie, teils unter spezifischer Begrifflichkeit, Filme im Kontext von Migration, die sich kaum auf eine eindeutige Zuordnung festlegen lassen und in ihren Erzählungen und Ästhetiken eurozentrische und nationale Sichtweisen herausfordern.
Über seinen ökonomischen und politischen Ursprung hinaus gedacht, beschreibt der Begriff „transnational“ hier Verbindungen kultureller und wirtschaftlicher Art. So wird eine transkulturelle Perspektive integriert, die Hybridisierungen ← 49 | 50 → und Vernetzungen innerhalb einer Nation und darüber hinaus berücksichtigt.77 Die Unschärfe, die der Dachbegriff des Transnationalen dennoch allgemein durch seinen vielfachen Gebrauch mit sich bringt, bleibt auch in der Filmwissenschaft nicht aus (vgl. Jahn-Sudmann 2009: 15 f.). In seiner teils ausgedehnten Funktion zur Beschreibung jeglicher Produktionen, die über nationale Grenzen hinausgehen, besteht die Gefahr, dass spezifische kulturelle, historische und politische Referenzen vernachlässigt werden: „[I]t risks celebrating the supranational flow or transnational exchange of peoples, images and cultures at the expense of the specific cultural, historical or ideological context in which these exchanges take place“ (Higbee / Lim 2010: 11 f.).78 Dennoch ist ein transnationaler Ansatz sinnvoll, solange er nicht simplifizierend im Sinne eines beschönigenden Denkens der Grenzüberwindung verstanden wird, sondern als kritische Perspektive, die eine komplexere Sicht auf das Kino ermöglicht und gerade die Auseinandersetzung mit der Nation und transkulturellen Prozessen begreift. In diesem Sinne lässt sich der Ansatz von Higbee und Lim heranziehen, die für einen kritischen Transnationalismus plädieren, der in Erweiterung, aber nicht in Negierung des Nationalen zu verstehen ist (vgl. Higbee / Lim 2010). Frühere Konzepte, die verschiedene Kinos in einem grenzüberschreitenden Kontext fassen, wie z. B. die antiimperialistische Strömung des Third Cinema79 und die häufige Übertragung dieses Terms auf Ki ← 50 | 51 → nos der sogenannten „Dritten Welt“, sind durch ihre ideologische Verankerung im antikolonialen Kampf sowie durch die binäre Abgrenzung zwischen Zentrum und Peripherie nicht (mehr) geeignet, aktuelle Dynamiken der Filmkulturen zu beschreiben (vgl. Ezra / Rowden 2006).80
Mit Blick auf die Kinos ehemaliger Kolonien bleibt die Frage, wie sich deren wirtschaftlich oft schwach gestellten Filme einen Platz in der internationalen Kinowelt verschaffen. Die Entstehung und zunehmende Verbreitung marginaler Produktionen sehen Ezra und Rowden allgemein durch die Kraft neuer Technologien wie der Digitalisierung und dem Internet begünstigt, die auch Produktionen ohne Studio und unabhängig(er) von staatlichen Geldern und Zensur ermöglichen (vgl. Ezra / Rowden 2006: 6). Die Zugänglichkeit zu diesen Filmen bleibt allerdings problematisch. Zwar werden viele Werke auf Festivals prämiert und auch die meisten Beispiele des hier ausgewählten Korpus können sich mit Auszeichnungen schmücken. Dennoch erreichen die Filme häufig nur geringe Zuschauerzahlen bzw. ein im Rahmen von Festivals eher ausgewähltes Publikum.81 Algerische Filme sind z. B. aufgrund mangelnder Distributionsstrukturen wenig im internationalen Markt verbreitet. Denise Brahimi weist darauf hin, dass wiederum viele franko-maghrebinische Filme im Maghreb selbst nicht zu sehen sind, was neben möglicher Zensur besonders auch auf die fehlenden Kinosäle und die begrenzten finanziellen Mittel zurückzuführen ist (vgl. Brahimi 2009: 8).82 Somit gewinnen Ciné-clubs sowie vor allem das Internet und Raubkopien für die Zirkulation der Filme weiterhin an Bedeutung. ← 51 | 52 →
4.2. Filmschaffen im Migrationskontext
Beschreibt der Dachbegriff des transnationalen Kinos einerseits Verflechtungsdynamiken der Produktion, Distribution und Rezeption, richtet er sich andererseits besonders auf die Filme, die Ambivalenzen und Hybridität bewusst inhaltlich-ästhetisch kommunizieren. Auch wenn mittlerweile verschiedenste Filmströmungen in postmoderner Manier feste Identitäten und konventionelle Erzählmuster aufbrechen, sind doch meist die Werke darunter gefasst, die dies explizit(er) thematisieren und sich in plurikulturellen Kontexten verorten (vgl. Jahn-Sudmann 2009: 23). Für diesen konkreteren Bezug auf Kino der (postkolonialen) Migration und Diaspora haben sich verschiedene Begriffe herausgebildet, die teilweise spezifischere Filmgruppen beschreiben, aber auch als übergeordnete Konzepte fungieren, darunter z. B. cinéma du métissage oder Kino der doppelten Kulturen (Seeßlen 2000). Auch die Bezeichnung „transkulturelles Kino“ kommt im deutschsprachigen Raum zum Tragen, besonders mit Blick auf deutsch-türkische Filme und deren plurale Identitätskonzepte (siehe z. B. Schrader 2005). Das Problematisieren gelebter sowie geopolitischer Grenzen, die Aushandlungen von Identität und der Ausdruck von Prozesshaftigkeit bilden zentrale Merkmale, die die verschiedenen Ansätze den transkulturell-transnationalen Filmen als gemeinsamen Nenner zuschreiben.
Die franko-algerischen Filme, die in Koproduktionen und vorwiegend mit französischen Geldern entstanden sind, finden verschiedene Zuordnungen, die sich mitunter überschneiden und die bewegliche Zwischenposition der Filme markieren. Unterschieden wird zunächst zwischen dem cinéma beur der in Frankreich aufgewachsenen Nachkommen von Migranten und den Filmen von später immigrierten Cineasten, wofür auch die Bezeichnung film émigré geläufig ist. Diese Differenzierung beruht einerseits auf thematischen und stilistischen Schwerpunkten, ist ebenso aber stark an den biographischen Hintergrund der Regisseure/innen gebunden.
Das in seiner Bezeichnung nicht unproblematische cinéma beur, das sich den Identitätskonflikten vor allem der männlichen Nachkommen von Migranten in den banlieues widmet, hat sich seit seiner Entstehung in den 1980er Jahren zunehmend einen Platz in der französischen Filmkultur erobert. Ähnlich der Diskussion, inwiefern es nun dem französischen Kino zuzurechnen ist, zeugt die seit dem Erfolg von Mathieu Kassovitz’ Film La Haine (1995) verbreitete begriffliche Differenzierung eines cinéma de banlieue von der Unzulänglichkeit einer ethnisierenden Kategorisierung. Anstelle derartiger reduzierender Kriterien sind vielmehr textuelle Eigenschaften und thematische Charakteristika zu betrachten. Cornelia Ruhe überwindet den biographisch zentrierten Zugang deshalb mithilfe ← 52 | 53 → des Genre-Begriffs: „Beim cinéma beur handelt es sich eben nicht um eine durch Herkunft bestimmte Richtung des Kinos, in der wahrhaft authentische Filme über die Vorstädte nur schaffen kann, wer selbst über entsprechende biographische Erfahrungen verfügt, sondern um ein Genre“ (ebd.: 111). Durch den Genrebezug – mit seinem Rückgriff auf ein System von Regeln, intertextuellen und interkulturellen Referenzen, der Berücksichtigung von inhaltlichen und formalen Strukturen der Filme – können diese abgesehen von ethnisch-biographischen Zuschreibungen in ihren textuellen Eigenschaften gefasst werden (vgl. hierzu Ruhe 2006: 16–39).
Die Unterscheidung zwischen einem film beur und einem film émigré kann ebenso mit Blick auf Genreaspekte und Themen getroffen werden, dabei sind die Grenzen aber wiederum nicht eindeutig zu ziehen. Das cinéma beur konzentriert sich (ursprünglich) auf das Leben in den tristen Wohnblöcken, spielt also vor allem in Frankreich. Es drückt ein meist schwieriges Verhältnis der Jugend zur Herkunftskultur ihrer Eltern aus und zentriert sich um Figuren, die mit schulischen Problemen, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung zu kämpfen haben, wobei zugleich enge Freundschaften eine Rolle spielen (vgl. Ruhe 82 f.). Die films émigrés sind laut Carrie Tarr mehr an populären Genres (wie Komödie, Melodram, road movie) orientiert; sie sind im Vergleich zum cinéma beur heterogener im Stil und weniger direkt autobiographisch inspiriert (vgl. Tarr 2005: 189 f.). Dabei stellt die Frage nach der Zugehörigkeit und Identität im multi-ethnischen Frankreich eine große Gemeinsamkeit zum cinéma beur dar. Andererseits beschäftigt sich das Kino emigrierter Regisseure mehr mit ihrem Heimatland, wobei sich hier Tarr zufolge insgesamt grob drei Themenfelder herauskristallisieren: der Platz des Immigranten oder auch Besuchers in Frankreich, die Auseinandersetzung mit dem Islam und die Repräsentation Algeriens (vgl. ebd.). Ein möglicher Unterschied ist demnach in dem größeren Bezug der films émigrés zu Algerien zu sehen (vgl. ebd.: 197).83 Will Higbee (2013) verwendet mit Blick auf die Entwicklungen seit den 2000er Jahren den Begriff post-beur cinema, der zeigt, wie die Filme etablierten Kategorisierungen trotzen und sich immer schwieriger in nationale oder herkunftsbezogene Muster einteilen lassen. Er beschreibt ähnlich wie Tarr, wie die Filme der Cineasten nordafrikanischen Hintergrunds sich populären Genres zuwenden und nicht (mehr) in der ‚Peripherie‘ festzuschreiben sind. Zugleich ← 53 | 54 → zeigen Higbees Beobachtungen zusammen mit denen von Ruhe und Tarr, wie die Diversifizierung an thematischen und ästhetischen Orientierungen, die Herausbildung eigener Stile und die Entwicklungen einzelner Regisseure Veränderungen auch innerhalb von Genres und möglichen Einteilungen hervorrufen und so eine Durchlässigkeit bedeuten.
Die franko-algerischen Filme des in dieser Arbeit untersuchten Korpus entgehen ebenfalls einer strengen Zuordnung, indem sie z. B. ihren Fokus auf Bewegungen zwischen Algerien und Frankreich setzen, sich einerseits dem Leben der Migranten, andererseits der Kolonialgeschichte und dem aktuellen Algerien widmen. Die Schwierigkeit der eindeutigen Klassifizierung der franko-algerischen Filme zeugt von deren Heterogenität, die durch das Aufbrechen von Genremustern und die spürbare Autorenhandschrift in vielen Filmen gefördert wird. Sie spricht für eine Perspektive, die statt einer festen Zuordnung und trotz möglicher biographischer Einflüsse auf die Werke die Spannungen und Aushandlungen der Filmtexte in den Vordergrund stellt.
Ein besonderes Augenmerk auf die textuelle, ästhetische Reflexion von Migrationserfahrungen und die Problematisierung homogener Identitäten legt Hamid Naficys Konzept des accented cinema, das sich mit hybriden Schreibweisen unter Auswirkungen vom Leben im Exil und in der Diaspora befasst. Über Grenzen, Genres, Ethnien und Genderfragen hinweg beschreibt dieser Ansatz Filme, die jeweils auf ihre eigene Weise „akzentuiert“84 sind und spannungsgeladene Beziehungen zum Herkunftsland und der neuen Heimat ausdrücken (vgl. Naficy 2001: 39).85 Der „Akzent“ der Filme ist im Gegensatz zu der jeweils dominanten (nationalen) Filmkultur sowie in Abgrenzung zu von Hollywood beeinflussten, international etablierten Standards und Narrationsmustern zu sehen. Produktionsmodi außerhalb des Studiosystems, ein marginaler Status und die Tendenz zu experimentellen Formen sind charakteristisch.86 Deterritorialisierung, Verlust, ← 54 | 55 → Nostalgie, das Motiv der Suche, physische und metaphorische Reisen sowie Fragen der Zugehörigkeit sind häufige Schwerpunkte. Das Unterlaufen konventioneller Strukturen drückt Naficy zufolge auf formaler Ebene Konflikte, Ambivalenz und hybride Existenzen aus (vgl. ebd.: 28). So kennzeichnen sich die Filme z. B. durch multiperspektivische, nicht-lineare Erzählweisen und Polyphonie (ebd.: 25) aus.
Ist Naficys Konzept für diese Arbeit insofern interessant, als es sich auf hybride Ausdrucksweisen bezieht, die Formen des Widerstands gegen homogene Konzeptionen und offizielle Sichtweisen der Nation generieren, scheint es durch seine enge Bindung an die Biographie der Filmemacher und die vorausgesetzte Marginalität zugleich begrenzend. Denn damit kann das accented cinema z. B. nicht mehr die in Frankreich entstandenen Filme von Regisseuren wie Merzak Allouache oder Rachid Bouchareb fassen, die große Erfolge erzielen, das Genrekino auf ihre Weise umschreiben und gerade ein Aufbrechen zwischen Marginalität und Mainstream bedeuten. Boucharebs jüngere Werke wie Hors-la-loi (2010) mögen sich durch ihre Anleihen bei Hollywood-Kriegs- und Actionfilmen Letzterem angepasst haben, dennoch vermitteln auch sie hybride Schreibweisen und Identitätskonflikte.
Einen geeigneteren Ansatz, der ähnlich der vorigen Konzepte die Spannung zwischen nationalen und transnationalen Positionen mitdenkt, dabei aber problematische Festschreibungen von Zentrum und Peripherie überwindet und der Vielfalt des untersuchten Filmkorpus angemessener ist, liefert Will Higbee mit seinem Begriff des cinema of transvergence. Das Konzept fasst insbesondere, aber nicht ausschließlich, das frankophone Kino von emigrierten Filmemachern. In der Denkweise eines kritischen Transnationalismus berücksichtigt es Prozesse innerhalb des lokalen, nationalen Rahmens sowie in der transnationalen Dimension.
Rather than being applied as an alternative to the national or transnational, the concept of ‘transvergence’ thus functions as a theoretical approach (or point of entry) via which we might better understand the negotiation for the disaporic or postcolonial film-maker ‘between’ the national and the transnational – exploring the lines of flight, difference and derailment through which a truly (trans)national cinema functions (Higbee 2007: 90).
Um die verschiedenen Positionierungen der Filme und Filmemacher zu greifen, stützt sich Higbee auf den Begriff der Transvergenz, wie ihn Marcus Novak im architektonischen Kontext87 mit Blick auf Fragmentation und Differenz verwen ← 55 | 56 → det; ebenso bezieht er sich auf das Konzept des Rhizoms von Deleuze und Guattari, das multidirektionale Verbindungen symbolisiert. Da es weder hierarchisch noch zentriert ist, repräsentiert das Rhizom eine Vielfalt an Verknüpfungen, die Higbee auf sich bewegende Kontaktpunkte zwischen Filmemachern, Kinos und Filmkulturen überträgt. Diese sieht er als „complex and shifting matrix of local, national and global positionings“ (ebd.: 87). Die Grundgedanken des Konzepts stellen Instabilität und Diskontinuität heraus und ermöglichen es so, einen prozessualen Status der Filme und Cineasten zu erfassen: „Because of the open-ended possibilities of both transvergence and the rhizome, the identity and positioning of the film-maker within any given national or transcultural cinematic ‘network’ is never fixed, it is always under negotiation, always in a process of becoming“ (ebd.).
Ähnlich wie beim accented cinema ist auch beim cinema of transvergence die Differenz gegenüber dominierenden Positionen zentral. Das Konzept bezieht dabei aber Verbindungen zwischen Identifikation und Alienation ebenso wie verschiedene Positionierungen im nationalen Referenzrahmen deutlicher mit ein. Entsprechend postkolonialer Ansätze wird das Widerstandspotenzial der marginalen Stimmen in dem Aufbrechen national-zentrierter Narrationen gesehen bzw. in dem Neuschreiben der Nation aus anderen Perspektiven, die die bestehenden ‚Normen‘ unterminieren. Das Konzept der Transvergenz impliziert in dieser Hinsicht bewegliche Positionen der Filme: „At one moment, placed on the peripheries, pointing away from the centre but also, and at certain times, temporarily coming into contact with the notional ‘centre’, only to move off at a later time on another, new trajectory“ (ebd.: 86). Das Problem, dass Regisseure wie Merzak Allouache oder Mahmoud Zemmouri ebenso wie ihre Werke nicht eindeutig als französisch oder algerisch klassifiziert werden können, wird hier gerade zum Charakteristikum.88
[B]y considering them neither as purely national nor as transnational film-makers but, rather, as ’transvergent‘, we can usefully consider the ways in which these directors negociate a position that, at different times and in different contexts, alternates ‘between‘ French and Algerian cinema, while still maintaining a distinct position ‘within‘ the two film cultures and industries. The identity of these film-makers is thus constantly evolving through a process of ‘becoming’ (ebd.).
Allouaches Filme sind Higbee zufolge bestes Beispiel dafür, wie sich Differenz und Verbundenheit zu dominanten Filmkulturen zugleich ausdrücken kann und sich ← 56 | 57 → der Regisseur sowohl an europäischen, insbesondere französischen Einflüssen, als auch an algerischen kulturellen Traditionen orientiert. Er rekurriert z. B. auf die Komödie, die einerseits als populäres ‚westliches‘ Genre gilt, deren Elemente aber ebenso im arabischen Kino als bedeutender Bestandteil der Gesellschaftskritik verbreitet sind. Zudem verkörpern vor allem die Figuren seiner Filme eine Differenz, die dominante nationale Perspektiven auf die Gesellschaft durchbricht – wenngleich die Werke oftmals Mainstream-kompatibel sind (vgl. ebd.: 89 f.).89
Charakterisiert das Konzept des cinema of transvergence die Dynamik und Hybridität von Filmen und Filmemachern bezüglich ihrer Referenzen, Positionierungen und idenititären Verortungen (besonders im Migrationskontext), lässt sich dieser Denkansatz als Hintergrund für das hier untersuchte Korpus fruchtbar machen, da er auch eine Vielfalt an (subversiven) Positionen innerhalb eines nationalen Rahmens erfasst. Filme von Regisseuren wie Allouache, die sich zwischen Frankreich und Algerien bewegen, stehen beispielhaft für die Anknüpfungen des algerischen Kinos an verschiedene Kontexte, was sich sowohl innerfilmisch als auch auf der Makroebene äußert. Allouache analysiert in seinen Werken die algerische Gesellschaft (z. B. Omar Gatlato, 1976; Bab el-oued city, 1993; Les Terrasses, 2013) ebenso wie die französische (Salut Cousin!, 1996), stellt Verbindungen und ambivalente Begegnungen zwischen unterschiedlichen kulturellen Prägungen her oder beschreibt z. B. Fluchtversuche aus Algerien (Harragas, 2009). Sein Gesamtwerk umfasst verschiedenste Blickwinkel und (trans-)nationale Referenzen. Ähnlich der Situation dieses Filmemachers ist das algerische Kino zwischen nationalen und transnationalen Verortungen zu begreifen. Das Korpus bewegt sich durch verschiedene Produktionskontexte, Orientierungen, Stile und Denkrichtungen, angefangen vom antikolonialen Kino, über das Staatskino, bis hin zu den Filmen emigrierter oder in Frankreich aufgewachsener Regisseure/innen. Die sich verändernden Rahmen des Filmschaffens prägen dessen Heterogenität, die sich unter dem Dach einer kritischen transnational-transkulturellen Perspektive erfassen lässt. ← 57 | 58 → ← 58 | 59 →
12 Zur franko-algerischen Geschichte und zum Algerienkrieg gibt es unzählige Erscheinungen. Besonders einflussreich sind die Arbeiten Charles-Robert Agerons (Histoire de l’Algérie contemporaine, Band 1–3, 1964–1979), Benjamin Storas (u. a. La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie, 1998; Histoire de la guerre d’Algérie, 2004; La guerre invisible. Algérie, années 90, 2001) und Mohammed Harbis (Le F.L.N. – mirage et réalité, 1980; siehe auch die von Stora und Harbi gemeinsam herausgegebene Arbeit La guerre d’Algérie: 1954–2004, la fin de l’amnésie, 2004).
13 Das Algerien in seinen heutigen Grenzen stellte vor der französischen Kolonisation kein geeintes Staatsgebiet dar. In Bezug auf frühere Epochen und Eroberungen handelt es sich vor allem um die Küstenregionen.
14 Der Begriff homogenisiert eine Vielzahl von Gruppen, die vor allem in den nördlichen Gebieten des Maghreb beheimatet sind und u. a. zu den Nachfahren verschiedener Numider-, Libyer- und Mauretaniervölker zählen. Von den zahlreichen Dialekten, die unter der Sprache Tamazight zusammengefasst werden, bildet das Kabylische die größte Sprachgruppe in Algerien. Ursprünglich ist der Begriff „Berber“ pejorativ konnotiert; seit den 1980er Jahren und der Bewegung für eine Gleichberechtigung und Anerkennung der Sprache wird er vermehrt und parallel zu dem Ausdruck „Imazighen“ (Sing. amazigh, „freier Mensch“) als Selbstbezeichnung genutzt (vgl. Faath 2002: 22). Stellvertretend für die dahinterstehende Vielfalt verwendet auch diese Arbeit den Begriff „Berber“.
15 Die Gebiete unterstanden u. a. der karthagischen Herrschaft, dem Königreich Numidien unter maurischen Berberstämmen, dem Römischen Reich in Folge der punischen Kriege sowie kürzeren Herrschaftsperioden der Vandalen und von Byzanz. Mit der arabischen Eroberung Nordafrikas im 7. Jh. wurden sie islamisiert. 1519 wurden sie im Zuge der türkischen Unterstützung im Kampf gegen die Spanier (Reconquista) Teil des Osmanischen Reichs und unterstanden als halbautonomer Vasallenstaat von lokalen Machthabern gewählten Statthaltern (Deys).
16 Nach der Landung eines Expeditionskorps in Sidi Ferruch 1830 und der anschließenden Eroberung von Algier drang das französische Militär schrittweise unter brutaler Niederwerfung des arabisch-berberischen Widerstands ins Landesinnere vor. Bis in die 1840er Jahre dauerte der Kampf unter dem bekanntesten algerischen Widerständler Emir Abdelkader an, der einer einflussreichen Familie einer religiösen Bruderschaft angehörte. Einem zweiten großen Widerstand in der Kabylei war die Kolonialmacht 1871 ausgesetzt, angeführt von Mohamed el-Mokrani.
17 Die in den 1950er und 1960er Jahren entstandenen Schriften von Frantz Fanon sowie Albert Memmi über die Mechanismen des Kolonialismus liefern bis heute bedeutende Beiträge über die koloniale Beziehung. In seinem Portrait du colonisé précedé du Portrait du colonisateur (1957) analysiert der franko-tunesische Schriftsteller Memmi die gegenseitige Bedingtheit und Ambivalenz der konstruierten „Antagonisten“ im dichotomisch angelegten Kolonialsystem. Fanon untersucht in seinen für die postkoloniale Debatte einflussreichen, marxistisch geprägten Studien ebenso die Auswirkungen der kolonialen Diskriminierung auf Identitäts- und Alteritätsbildung. In seinem viel rezipierten Peau noire, masques blancs (1952) stellt er Kategorien wie „Schwarzsein“ als diskursiv erzeugt heraus. Ein zentrales Werk für den antikolonialen Widerstand ist Les damnés de la terre (1961), das vom algerischen Befreiungskampf, dem sich der aus Martinique stammende Autor und in Algerien praktizierende Psychiater anschloss, beeinflusst ist. Neben Theorien zur Gewalt verhandelt Fanon darin Identitätsfragen in Bezug auf die Herausbildung eines nationalen Bewusstseins. Die von den Autoren beschriebenen binären Oppositionen sind aus dem historischen Kontext zu betrachten, handelt es sich doch um Werke des Widerstands, die sich in Zeiten des Dekolonisationsprozesses und teils inmitten des Algerienkriegs gegen ein System wenden, das durch seine Diskriminierungen eine Zweiteilung der kolonialen Welt forcierte und spürbar machte. Ambivalenzen werden dennoch bereits in ihren Werken mitgedacht.
18 Das statut musulman unterteilte die Kolonialgesellschaft in französische Bürger mit vollen Staatsbürgerrechten (citoyens) und rechtlose Staatsangehörige (sujets). Die Kolonisierten konnten die Staatsbürgerschaft (citoyenneté) nur beantragen, wenn sie auf die wenigen verbleibenden Bereiche muslimischen Rechts verzichteten. Dies hätte eine Abwendung von der eigenen Gemeinschaft bedeutet, außerdem wurden kaum erfüllbare Bedingungen seitens der Kolonialpolitik auferlegt. Bourdieu beschreibt das koloniale System in Algerien daher treffend, wenn er es als „Kastensystem“ (Bourdieu 2001: 128) bezeichnet. Getrennt durch institutionelle und gelebte Barrieren, resultiert aus dieser Beziehung eine „ségrégation raciale de fait“ (ebd.). Die „Kasten“ seien dabei selbst zwar innerlich nach Klassen oder z. B. Gender hierarchisch differenziert. „Mais si chaque caste présente une échelle de statuts hiérarchisés, s’il est permis à tout individu de la caste inférieur de gravir les échelons de sa caste, il est pratiquement impossible de franchir l’abîme qui sépare les deux échelles“ (Bourdieu 2001: 129).
19 Seit der Antike und insbesondere mit der spanischen Reconquista ab 1492 kamen Juden nach Algerien. Ihre Gleichstellung mit den Franzosen schürte eine Feindlichkeit der zuvor miteinander lebenden Religionsgemeinschaften; zudem förderte sie den Antisemitismus der colons, die ihre Privilegien bedroht sahen.
20 Bourdieu legt in seiner Studie Sociologie de l’Algérie die Zerstörung und Transformationen gesellschaftlicher Strukturen durch Umsiedlung und Enteignung dar. Er untersucht die Folgen der Überführung der gemeinschaftlichen Böden (Kollektivbesitz) in das kapitalistische Wirtschaftssystem der Kolonialherrschaft genauer, so z. B. den mit der Vertreibung einhergehenden Zerfall traditioneller sozialer Einheiten wie Stammes- und Familienstrukturen und die Auswirkungen der europäischen Ansiedlung auf den Nomadismus und Semi-Nomadismus. Er beschreibt, wie die algerische Gesellschaft so entwurzelt und „dekulturalisiert“ wurde (siehe Bourdieu 2001: 120–135).
21 Zur Berufung auf das „lateinische Erbe“ in Nordafrika sowie u. a. zur Stadtentwicklung siehe Jordi / Planche (1999).
22 1919 wurde der muslimischen Elite zwar ein geringer Zugang zu kommunalen politischen Instanzen gewährt, doch dies änderte nichts an den Machtverhältnissen, bei denen die Stimmverteilung extrem disproportional zu den Bevölkerungsanteilen verlief. Ereignisse wie die russische Revolution, die Entstehung des islamischen Reformismus und des arabischen Nationalismus im Nahen Osten sowie die ägyptische Unabhängigkeit 1922 wirkten motivierend auf die algerischen Bewegungen (vgl. Ahmed-Ouamar 1989: 46).
23 Die Freiheitskämpfer bezeichneten sich mit dem Begriff moudjahidin (Sing. moudjahid), abgeleitet vom Wortstamm djihad. In ihrer die Anschläge vom 1. November 1954 begleitenden Erklärung definierte die FLN als eines ihrer Ziele die „Wiederherstellung des algerischen souveränen, demokratischen und sozialen Staates im Rahmen der islamischen Prinzipien“ (zitiert nach Ruf 1997: 56).
24 Die Angaben zu den verschiedenen Strömungen und Entwicklungen des algerischen Nationalismus können hier nur verkürzt und zwangsläufig vereinfacht angeführt werden. Für eine ausführlichere Analyse siehe Le nationalisme algérien avant 1954 (Stora, 2010b), Les sources du nationalisme algérien (Stora, 1989) sowie die Werke Mohamed Harbis (siehe Fußnote 26).
25 Neben verfehlten Reformansätzen in den 1930er Jahren war hier u. a. die Ablehnung des von Ferhat Abbas initiierten Manifeste du Peuple Algérien (1943) bedeutend, das ein neues Algerienstatut und letztlich Autonomie forderte.
26 Verschiedene Gründe hierfür, u. a. die Verbindung zu einflussreichen Familien, die Unterstützung Ägyptens und des ägyptischen Radios, untersucht Mohamed Harbi in Le FLN. Mirage et réalité (1980). Harbi zufolge wurde die FLN aus Sicht der ‚verwestlichten‘ algerischen Intellektuellen und der französischen Linken als Gegensatz der MNA, d. h. modern und laizistisch gesehen. Die tatsächlichen Gegensätze der Parteien lagen aber nicht hierin, sondern im Mittel zum Ziel (Harbi 1980: 159–162).
27 Die Nationalcharta von 1976 und auch die späteren Verfassungen besiegelten die Macht des Staates und der FLN, die sich darin als Trägerin der nationalen Befreiung und Hüterin der revolutionären Ziele glorifizierte und die Stellung des Präsidenten festigte (vgl. Stora 2001b: 41).
28 Durch die Unterdrückung des Arabischen während der Kolonisation hatte sich in Algerien kein modernes Standard-Arabisch etabliert, wie es anderswo als Amts- oder Mediensprache Verbreitung fand (vgl. Ruf 1997: 71 f.).
29 Dass das Regime Straflager führte und eine strenge Pressezensur auferlegte, erhöhte das Misstrauen. Stora untersucht ausführlicher die mediale „Unsichtbarkeit“ des Kriegs und die Parallelen zur Verschleierung des Algerienkriegs durch Frankreich. Er nennt das Massaker von Bentalha 1997 und den Mord an Präsident Boudiaf 1992 als Beispiele für Verstrickungen seitens des Regimes. Die schwierige Frage der Benennung des Kriegs und der „Fronten“ verweist ihm zufolge auf die Unklarheit bezüglich des Ziels (vgl. Stora 2001a: 11–15).
30 Bei den Parlamentswahlen 1997 gewann die RND (Rassemblement national démocratique) gemeinsam mit der FLN; die Opposition protestierte gegen Wahlbetrug, so auch bei Bouteflikas Wahl zum Präsidenten 1999.
31 Mit der Unabhängigkeit kam es zur Ermordung von über zehntausenden harkis, die freiwillig oder gezwungen auf französischer Seite gekämpft hatten (vgl. hierzu Stora 2001b: 14 f.). Die Bedrohung der harkis ebenso wie Armut ließen viele Algerier nach Frankreich emigrieren. Besonders aber verließ fast die Gesamtheit der ca. 1. Mio. pieds-noirs (Siedler), die teils seit Generationen in Algerien etabliert waren, exodusartig das Land. Der Begriff „pied-noir“ ist ursprünglich pejorativ und homogenisiert die europäischstämmige Bevölkerung. Der Ursprung des Ausdrucks ist nicht eindeutig. Zunächst schien er als stigmatisierende Bezeichnung der Autochthonen zu dienen; im Petit Robert wird er 1901 mit „chauffeur de bateau indigène“ erklärt. Ab 1955 gebrauchten ihn Franzosen des ‚Mutterlandes‘ desolidarisierend gegenüber den Algerienfranzosen. Letztere adaptierten den Begriff als Selbstbezeichnung (vgl. Buono 2004: 7 f.). In Abgrenzung zu den Kolonisierten und den Franzosen hatte sich das Identitätsbewusstsein der Algerienfranzosen vorwiegend auf die Verbindung zur terre natale (Algerien) gegründet. Verstärkt wurde dies durch den fehlenden Bezug (vor allem der nicht ursprünglich französischen Siedler) zum Herkunftsland der Vorfahren (vgl. Hureau 2001: 35). Die heterogene Gruppe der pieds-noirs, die innerhalb der Kolonie einen privilegierten Status genoss, jedoch selbst hierarchisch aufgebaut war, fand ihren gemeinsamen Nenner in der Betonung ihrer Algerianität. Stellte das territoire dafür den hauptsächlichen Referenten dar, bedeutete das rapatriement in Frankreich neben dem Verlust der Privilegien ebenso einen Identitätsverlust (vgl. Buono 2004: 28).
32 Die Evian-Verträge sicherten früh Frankreichs Interessen und legten einen Grundstein für die Amnesie, indem u. a. Amnestie-Gesetze aufgenommen wurden. Die seit 2002 von Bouteflika gestellte Reueforderung an Frankreich bleibt unerfüllt. Sarkozys Politik einer antirepentance sowie die Gesetzentwürfe vom Februar 2005 (siehe unten) rückten den von Chirac 2003 anvisierten Freundschaftsvertrag in weite Ferne. Sarkozy interessierte sich vor allem für eine wirtschaftliche Verbindung im Rahmen einer Mittelmeerunion. Nach einer langen Eiszeit unternimmt Frankreich zugleich allmählich Schritte der Annäherung. 2005 erkannte der französische Botschafter bei einem Besuch in Algerien die Massaker vom Mai 1945 an. Vereinzelt folgten weitere Gesten, z. B. im Oktober 2012 die Anerkennung der Massaker vom Oktober 1961, die bis heute nicht aufgeklärt wurden. Ein neuer Ansatz der bilateralen Beziehungen wurde im Dezember 2012 begangen, indem Bouteflika und Hollande eine Freundschafts- und Kooperationserklärung unterzeichneten. Dahinter stehen nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen, die sich auch bei Hollandes jüngstem Besuch in Algier im Juni 2015 äußerten.
33 Die unterdrückte Vergangenheit taucht in Form von Diskriminierungen wieder auf, die besonders die Nachkommen von algerischen Migranten in Frankreich zu spüren bekommen. Ideologien der Rechten, die gegen eine „Invasion“ des Islam und eine Überfremdung wettern, vermischen sich mit Ansichten ehemaliger Verfechter einer Algérie française, die sich um ihren „rechtmäßigen“ Anspruch auf das Territorium betrogen fühlen (siehe Stora 1998).
34 Die zahlreichen Aspekte dieses komplexen Begriffes, der sich in den 1990er Jahren etabliert hat, sollen hier nicht im Einzelnen aufgegriffen werden. Erwähnt sei, dass die guerres de mémoires in Frankreich verschiedenste Momente der Geschichte betreffen, die sich gegenseitig überlagern. Für eine nähere Auseinandersetzung mit den guerres de mémoires und konkreten Debatten siehe insbesondere Stora / Thierry: La guerre des mémoires. La France face à son passé colonial (2011), Blanchard, Pascal / Veyrat-Masson, Isabelle (Hg.): Les guerres des mémoires: la France et son histoire (2008) sowie Henry Rousso: Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours (1990).
35 Das Gesetz löste heftige Kontroversen aus, u. a. fand ein Protest von Hochschullehrern statt, initiiert von Claude Liauzu, ebenso eine Mobilisierung gegen das Gesetz auf Martinique; letztlich wurde Artikel 4 im Januar 2006 aufgehoben (vgl. ebd.: 20–27).
36 Der Résistance-Mythos steht einer Aufarbeitung des Algerienkriegs im Wege, denn er würde dadurch selbst in Frage gestellt werden, da viele ehemalige Résistance-Helden für Folter und Massaker in Algerien verantwortlich waren. Die von Henry Rousso beschriebenen Phasen der Erinnerung bezüglich Vichy unter dem Begriff des „syndrome de Vichy“ sind Rousso selbst zufolge nur teilweise auf den Algerienkrieg übertragbar, da dieser eine viel größere Spaltung von Interessengruppen hervorgerufen hat (vgl. Gilzmer 2006: 114). Von politischer Seite aus gesehen hatte die Einigung der Franzosen nach dem Algerienkrieg Vorrang und die offizielle Erinnerungspolitik stützte dies mit der Konzentration auf die Weltkriege (vgl. Pervillé 2008: 107).
37 Den Hintergrund zu der Abstimmung in der Nationalversammlung 1999 bildeten finanzielle Interessen ehemaliger Soldaten. Diese übten mit Hilfe von Assoziationen Druck auf die Politik aus, um ihren Rentenanspruch geltend zu machen, der einen Kriegsstatus voraussetzt (vgl. Stora 2011: 27).
38 Unter Boumediene wurden Erinnerungsdaten des Kriegs systematisiert und vervielfacht: „Der offizielle Geschichtsdiskurs stützt sich auf eine Art Revolutionskalender, dessen Schlüsseldaten den Ablauf der Revolutionsgeschichte bestimmen“ (Soufi 2006: 175). Der 1. November 1954 wurde als das Urereignis und als Ausdruck der „glorreichen“ Vergangenheit der Nation definiert. Auch die Verfassung von 1989 sowie die Lehrbücher des Geschichtsunterrichts basieren auf diesem Grundstein (Pervillé 2008: 111).
39 „La Constitution de 1989 a permis une ouverture qui a facilité la diffusion d’informations plus précises, notamment sur les personnages qui étaient jusque-là bannis par la mémoire officielle (Abane Ramdane, Ferhat Abbas, Messali Hadj…). Mais les préjugés restent tenaces parce qu’ils sont liés à des intérêts particuliers, comme le démontre l’avocat et ancien moudjahid Hocine Zahouane, ami de Mohammed Harbi et emprisonné comme celui-ci par le colonel Boumediene, en dénonçant l’histoire officielle comme un instrument de l’ambition personnelle de celui-ci“ (Pervillé 2008: 112).
40 Schon vor 1989 gab es kritische Arbeiten algerischer Historiker und ehemaliger Akteure. Diese erschienen aber meist in Frankreich und waren in Algerien verboten, wie z. B. Mohammed Harbis Werk über die Ursprünge der FLN, Aux origines du Front de Libération National: La scission du PPA – MTLD: Contribution à l’histoire du populisme révolutionnaire en Algérie (1975). Harbi war selbst an entscheidenden Prozessen des Algerienkriegs beteiligt, u. a. als Mitglied der Führung der Fédération de France du FLN und an den ersten Verhandlungen von Evian. Er widersetzte sich 1965 dem Staatsstreich und wurde daraufhin ohne Verurteilung für fünf Jahre inhaftiert. Wie viele Intellektuelle ging er ins Exil; 1980 erschien in Frankreich Le FLN – mirage et réalité, das die internen Konflikte der FLN aufdeckt.
41 Publikationen zur franko-algerischen Geschichte sind nicht gerade gering (Stora zählt 2.500 zwischen 1962 und 1982), aber sie blieben lange Zeit einseitig hinsichtlich der Interessengruppen. In den 1970er Jahren waren es vor allem autobiographische Erfahrungen der Soldaten und pied-noirs; in den 1980er Jahren gab es dann einige Gegendarstellungen seitens der porteurs de valises, die die algerische Unabhängigkeit unterstützten, wie z. B. der von Henri Alleg herausgegebene Sammelband La Guerre d’Algérie aus dem Jahre 1982 (vgl. Stora / Thierry 2011: 16 f.). Das Zeugnis von Louisette Ighilahriz in Le Monde, 20. Juni 2000 löste die Debatte über Folter neu aus (vgl. Pervillé 2008: 289).
42 Die Regierung macht sich in diesem Zuge die Reaktivierung der Erinnerung an die ‚Gründungsväter‘ der Nation im Sinne eines nationalen Patriotismus zunutze (vgl. Stora 2001a: 108). Dazu zählt u. a. die Umbenennung einiger Flughäfen nach historischen Personen, z. B. Messali Hadj in Tlemcen und Abane Ramdane in Bejaja.
43 Seit 1992 ermöglichte ein den Ausnahmezustand ergänzendes Dekret die Schließung von Zeitungen und die Verhaftung von Journalisten auf Veranlassung des Innenministers. Ab 1994 verschärfte ein Embargo über Informationen zur Sicherheitslage die staatliche Zensur; die mediale Verbreitung von Informationen außerhalb der offiziellen communiqués wurde verboten. Journalisten wurden dazu angehalten, die Effizienz der Sicherheitskräfte zu betonen und den Terrorismus abzulehnen, wobei auch staatskritische Äußerungen darunter zählen konnten (vgl. Stora 2001: 25 f.).
44 „L’histoire dès lors est de moins en moins dictée par les vainqueurs, et la lecture du passé (monolithique et linéaire) devient un espace inépuisable d’interprétations, dont les conséquences peuvent varier du rééquilibrage des mémoires jusqu’aux manipulations politiques les plus nocives“ (Blanchard / Veyrat-Masson 2008: 26).
45 „Le cinquantième anniversaire de la fin de la présence française en Algérie se présente avant tout comme une déroutante cacophonie. Sur le sujet lui-même: que commémore-t-on donc en mars 2012? La signature des accords d’Evian? Le retour du contingent? L’exode des pieds-noirs? La victoire du FLN? La défaite de la France? Le terrorisme sanglant de l’OAS? Le massacre des harkis? Chacun s’accroche à ses souvenirs et, un demi-siècle plus tard, ne veut pas entendre parler de ceux des autres“ (www.franciszamponi.fr/ptsdevue.php).
46 Die diversen und auch kontrovers diskutierten Theorien innerhalb der postkolonialen Debatte sollen hier nicht im Detail behandelt werden. Mit seinen teils abstrakten, kritischen und politisch geprägten Ansätzen beinhaltet der Postkolonialismus eine Vielfalt im Begriff selbst (vgl. McLeod 2010: 3). Er stellt letztlich eine „offene wie umstrittene Arena unterschiedlicher Positionierungen und oft gegensätzlicher Stimmen“ (Ha 2010: 47) dar. Von Interesse sind hier die Grundideen, die trotz aller Kritik zentral für das Verständnis dynamischer Prozesse sind.
47 Ist es weitgehender Konsens der wissenschaftlichen Debatte, „postkolonial“ nicht als zeitlich begrenzt auf eine historische Epoche nach der Dekolonisation zu fassen, sondern als Auseinandersetzung mit aus dem Kolonialismus hervorgehenden Strukturen, die sowohl Veränderung als auch Kontinuität begreift (McLeod 2010: 39), wird der Begriff hier ebenfalls in diesem Sinne verstanden.
48 Kultur wird mitunter in Begriffen der Bewegung und Reise verstanden und beispielsweise von Paul Gilroy als bewegliche „Route“ beschrieben, die die feste Verwurzelung ersetzt (vgl. hierzu McLeod 2010: 249 f.). Neben diesen Vorstellungen ist auch die Auffassung von Kultur als Text von Bedeutung, die auf Clifford Geertz’ (1973) Kultursemiotik zurückgeht, wobei ihm teils ein holistischer Ansatz vorgeworfen wird. Zum kulturwissenschaftlichen Verständnis und den Debatten um „Kultur als Text“ siehe Bachmann-Medick 2004.
49 „Cultural identity, in this second sense, is a matter of ‘becoming’ as well as of ‘being’. It belongs to the future as much as to the past. It is not something which already exists, transcending place, time, history and culture. Cultural identities come from somewhere, have histories. But, like everything which is historical, they undergo constant transformation. Far from being eternally fixed in some essentialised past, they are subject to the continuous ‘play’ of history, culture and power“ (Hall 1998: 225).
50 Vgl. zur Begriffsgeschichte und zur Verbreitung des Begriffs in Deutschland Kien Nghi Ha 2010. Ha kritisiert, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse im Kontext des deutschen Hybriditätsverständnisses häufig wenig berücksichtigt werden und der Begriff als bunte Mischung rezipiert wird (vgl. ebd.: 90).
51 „Strukturell zeichnen sich hybride Phänomene durch ihre Prozesshaftigkeit, ihre permanente Dekonstruktion von (vermeintlich natürlichen und Machtverhältnissen stabilisierenden, kolonialen) Dichotomien aus“ (Struve 2013: 100).
52 Die Strategie der Hybridisierung öffnet so neue Möglichkeiten der Äußerung und Positionierungen, die Bhabha in einem „Dritten Raum“ (Third Space) verortet. Dabei entstehen „neue Formen mit inhärenten Differenzen, Ambivalenzen und Widersprüchen“ (Bonz / Struve 2011: 136). „Hybridität, so ließe sich weiter folgern, ist gerade die vermischte Unauflöslichkeit – keine homogene Masse, die aus der Mischung entsteht, sondern eine Art heterogenes Gemisch. Um diese Form der Hybridisierung zu beschreiben, die in keine erlösende Synthese mündet, nutzt Bhabha u. a. das Bild der Verhandlung“ (Struve 2013: 101). Für eine aktuelle Differenzierung zu Bhabhas Konzepten siehe Karen Struve 2013.
53 Das Konzept bleibt problematisch, insofern es von dem Aufeinandertreffen von separaten homogenen kulturellen Sphären ausgeht (vgl. Barker 2008: 258). Als Prozess der Überkreuzung ist Hybridität auf stabile Kategorien als Gegenpol angewiesen, die für die Reflexion über Differenzen von Bedeutung sind. So ist auch eine Analyse nicht möglich, ohne Zuschreibungen und temporäre Stabilität von Identität zu formulieren.
54 Das im deutschen kulturwissenschaftlichen Diskurs vor allem durch Harald Welsch verbreitete Konzept der Transkulturalität sucht die komplexe Verfasstheit von Kulturen allgemein zu greifen (vgl. Welsch 2005). Bereits 1940 beschreibt Fernando Ortiz Transkulturalisierungsprozesse mit dem Begriff transculturación in seiner Arbeit Cuban Counterpoint: Tobacco and Sugar (vgl. Ortiz in Allolio-Näcke / Kalscheuer / Manzeschke 2005).
55 Welsch entwickelt sein Transkulturalitätsmodell in Auseinandersetzung mit dem klassisch-modernen Kulturbegriff Herders. Er kritisiert dessen internes „Homogenisierungsgebot“ und externes „Abgrenzungsgebot“ und ersetzt das Modell durch ein „vielmaschiges und integratives“ Konzept (Welsch 2005: 332), das auf der Idee der Netzwerkbildung in Richtung des Rhizomkonzepts basiert. Kulturelle Identität wird durch mehrfachkulturelle Anschlüsse und eine Vielzahl von Identifikationsangeboten erzeugt, die nicht an einen festen Ort gebunden sind. Sie wird in diesem Verständnis von der nationalen Identität entkoppelt (ebd.: 328).
56 „Eben die Auflösung der Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden durch die Sichtbarmachung konstruierter Grenzziehungen spiegelt dabei den transkulturellen Zugang wider“ (McPherson 2007: 27).
57 Bei antikolonialen Bewegungen, sozialistischen Revolutionen und jeglichen Souveränitätsbestrebungen ist die Nation, unter jeweils verschiedenen Adaptionen, das dominierende Konzept (vgl. Anderson 1991: 4). Dennoch ist der Nationalismus ehemals Kolonisierter nicht als bloße Kopie zu sehen, sondern nimmt eigene Formen an, wie der Historiker Partha Chatterjee in The Nation and its Fragments (1993) betont.
58 Die Vorstellung der Zusammengehörigkeit ist dabei nicht nur an den aktuellen Lebensort innerhalb von Staatsgrenzen gebunden, sondern kann auch im Exil bzw. in der Diaspora (sogar intensiviert) erfahren werden, indem sich Gemeinschaften besonders auf ihre nationale Herkunft berufen (vgl. Higson 2000: 64)
59 Identitäre Prozesse werden aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit Erinnerungspraktiken zusammengebracht. Der bereits 1925 von dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs geprägte und in den 1980er weitergedachte Begriff des kollektiven Gedächtnisses stellt die soziale Bedingtheit von Erinnerung heraus. Demnach bildet sich Letztere in kommunikativen und sozialen Prozessen. Die Erinnerung erschafft dabei die Vergangenheit als Produkt der Gegenwart, da sie nach deren Sinnbedürfnissen konstruiert wird (vgl. Assmann 2006: 187 f.). Diese Performanz geht in Richtung des Ansatzes des französischen Historikers Pierre Nora (1997), der in seinem Konzept der lieux de mémoire Erinnerungsorte als Symbole des nationalen Gedächtnisses fasst. Erinnerungsorte „können geographische Orte, Gebäude, Denkmäler und Kunstwerke ebenso umfassen wie historische Persönlichkeiten, Gedenktage, philosophische und wissenschaftliche Texte oder symbolische Handlungen“ (Erll 2005: 23).
60 Das Zusammenwirken von Kapitalismus, Printtechnik und die Herausbildung der (schriftlichen) Standardsprachen ermöglichte Anderson zufolge die Imagination neuer Formen von Gemeinschaften (vgl. Anderson 1991: 42 f.). Während Anderson den realistischen Roman und die Zeitung in ihren Merkmalen der Linearität und Kontinuität als charakteristische Repräsentationen der Moderne herausstellt, lässt sich auch im Film nach Schreibweisen fragen, die Vorstellungen von Geschlossenheit oder aber Pluralität kommunizieren.
61 Laut Anton Kaes sind Massenmedien das effektivste institutionelle Mittel um das historische Bewusstsein zu schärfen (vgl. Guynn 2006: 166). Auch Kilbourn stellt konkret das Kino als eines der wichtigsten Gedächtnismedien heraus: „[M]emory today derives its primary meaning, its existence as such, from visually based technologies like cinema; that cinema is not merely one of the most effective metaphors for memory but that cinema – alongside photography – is constitutive of memory in its deepest and most meaningful sense“ (Kilbourn 2010: 1). Für einen einflussreichen früheren Beitrag zur Diskussion der Bedeutung von Film als „agent de l’histoire“ siehe Marc Ferro (1977).
62 Aleida Assmann merkt hierzu an, „daß es keine Geschichtsschreibung gibt, die nicht zugleich auch Gedächtnisarbeit wäre, also unhintergehbar verquickt ist mit den Bedingungen der Sinngebung, Parteilichkeit und Identitätsstiftung“ (Assmann 1999: 133). Sie schlägt vor, Geschichte und Gedächtnis als „zwei Modi der Erinnerung festzuhalten, die sich nicht gegenseitig ausschließen und verdrängen müssen“ (ebd.: 134). Geschichte bzw. Historiographie ließe sich demnach eher als „besitzerlos“, fixiert, archiviert und institutionell charakterisieren; Gedächtnis kann eher als gegenwärtiger, „gelebt“ und emotionaler verstanden werden. Dennoch bleibt auch diese Unterscheidung durchlässig.
63 So kommentiert der frankophone karibische Schriftsteller und Kulturtheoretiker Édouard Glissant: „ ‘Wo die Geschichten von Völkern zusammentreffen, die noch gestern als geschichtslos galten, endet die GESCHICHTE (in Großbuchstaben)‘. Die GESCHICHTE ist ein sehr folgenreiches Phantasma des Okzidents, aus einer Zeit stammend, als dieser noch allein Weltgeschichte ‚machte‘ “ (Glissant 1986: 89). Glissant, der in seinem Denken und Schreiben Konzepte der Kreolität und eine Ästhetik der Kulturenvielfalt vertritt, verhandelt auch Geschichte unter diesen Perspektiven und dementiert die Totalität der modernen Geschichtsauffassung: „Die GESCHICHTE ist so zersplittert, daß kein Mensch mehr behaupten kann, ihre Ganzheit zu beherrschen, ja, er kann sie sich nicht einmal mehr vorstellen“ (Glissant 1986: 95). Seine Aussage entspricht damit dem Postulat der konstruktivistischen Historiker, nach welchem es nicht möglich ist, „ein Wissen vom Ganzen der Wirklichkeit zu erlangen, sondern nur Fragmentarisches über sie in Erfahrung zu bringen“ (Goertz 2001: 86).
64 White geht davon aus, dass Geschichte nach archetypischen Grundmustern erzählt wird: als Romanze (Metapher), Komödie (Metonymie), Tragödie (Synekdoche) oder Satire (Ironie). Situationen und Ereignisse werden für tragisch oder komisch erachtet, weil diese Konzepte Teil unseres kulturellen und literarischen Erbes sind (vgl. ebd.: 131).
65 „Der Begriff der ‚geteilten Geschichte’ geht daher konzeptionell über die Betonung historischer Gemeinsamkeiten hinaus. Die vielfältigen Interaktionen produzieren nicht nur eine geteilte/gemeinsame Geschichte, sondern zugleich Grenzziehungen und Brüche“ (Conrad / Randeria 2002: 18 f.).
66 Im Zusammenwirken von politischen Demokratisierungsbestrebungen und postmodernen Bewegungen entstanden verschiedene Arbeiten, die „der Idee des Fragments mehr Gewicht beizumessen begannen als dem Ganzen oder der Totalität“ (Chakrabarty 2010: 37). Chakrabarty nennt hier z. B. Partha Chatterjees The Nation and its Fragments, 1993.
67 Ähnlich wie Spivak in ihrem Aufsatz „Can the Subaltern speak?“ kritisch fragt, ob die Subalternen tatsächlich für sich selbst sprechen können, ist auch hier anzumerken, dass nicht alle Stimmen Zugang zu Kommunikationskanälen haben. Spivak kommt allerdings selbst zu der „Ansicht, dass Literatur einen rhetorischen Raum für subalterne Gruppen schaffen kann, der es ermöglicht, die unterdrückten Geschichten des subalternen Widerstands zu artikulieren“ (Do Mar Castro Varela / Dhawan 2005: 78). Algerische Regisseure/innen können ihre Filme ebenfalls zum Sprachrohr der Vermittlung marginalisierter Geschichten machen, auch wenn diese bereits deren Interpretationen unterliegen.
68 Shohat und Stam machen die Notwendigkeit einer transnationalen Perspektive in der Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen allgemein sowie besonders in den Medienwissenschaften deutlich: „The global nature of the colonizing process, and the global reach of the contemporary media, virtually oblige the cultural critic to move beyond the restrictive framework of monoculture and the individual nation-state“ (Shohat / Stam 2003: 1).
69 Elisabeth Arend diskutiert die Frage, inwiefern sich spezifische Schreibweisen bzw. filmische Codes eines mediterranen Kinos identifizieren lassen. Kann man zwar nicht von einem einheitlichen Stil ausgehen und sind die Kinos der Mittelmeerländer in sich vielfältig, könnte die Reflexion der kulturellen Pluralität des Mittelmeerraums gerade ein gemeinsames Charakteristikum sein. Innerhalb der Diversität an filmischen Ausdrucksweisen und trotz der Tatsache, dass viele Regisseure ihren eigenen Autorenstil geprägt haben, lassen sich thematische Schwerpunkte wie z. B. die Beziehungen und Dichotomien zwischen Familie und Individuum, Gesellschaft und Staat, traditionellen Strukturen und Modernität sowie die Auseinandersetzung mit Geschlechterbeziehungen, Geschichte und Mythen ausmachen. Diese zugleich universellen Themen könnten zusammen mit kulturellen und filmischen Referenzen, Bildtraditionen und Raumkonstruktionen Elemente eines Mittelmeerkinos darstellen. Die Erforschung einer spezifischen Ästhetik steht aber noch aus (vgl. Arend 2010). Dies ist bereits mit Blick auf das algerische Kino schwierig, das sich von verschiedenen Filmtraditionen und Einflüssen inspiriert sieht.
70 Sie hängen z. B. von Firmen und Rechten, aber auch von Entscheidungen der Filmemacher selbst ab. Ein Beispiel für die wechselnden nationalen Zuordnungen sind die Werke Rachid Boucharebs. Sein Film Indigènes (eine französisch-belgisch-algerisch-marokkanische Koproduktion) ging 2006 bei den Césars als französischer Film in den Wettbewerb, in Cannes und bei den Oscars als algerischer Film, was auch auf Boucharebs persönliche Entscheidung zurückzuführen ist, Algerien mit seiner geringen Filmproduktion eine Chance auf den Auslandsoscar zu ermöglichen (vgl. hierzu Ruhe 2009: 69 ff.).
71 Laut Hayward handelt es sich besonders um die Filme, die von Kritikern und Historikern als national kanonisiert wurden; bei diesem diskursiven Prozess spielt auch der Erfolg der Filme eine Rolle (vgl. Hayward 2005: 1).
72 Die Verbindung zur Nationalsprache ist angesichts der Mehrsprachigkeit vieler Länder problematisch.
73 Im Zeitalter des Nationalismus entstanden, steht Kino von Beginn an mit der Konstruktion von Differenz in Berührung und ist vom Bestreben nationaler Abgrenzung geprägt. Siehe hierzu Susan Hayward 2005, die u. a. auf frühe Filme wie Griffith’ The Birth of a Nation (1915) hinweist, bei dessen nationaler Ausrichtung auch ein rassistischer Unterton nicht zu übersehen ist. Seit seinen Anfängen ist Kino aber nicht nur ein Medium, das nationale Prägungen ausdrückt, sondern auch eines, das transnationale Verbindungen zieht und über Grenzen hinweg Techniken, Bilder oder Genres teilt (vgl. Higbee 2007: 80). Auch das dominierende Hollywoodkino weist Hybridisierungen und Genremischungen auf, ist in sich vielfältig, „multi-faceted“ (vgl. Geoff King 2012: 2).
74 Der Begriff counter cinema oder Gegenkino bezieht sich auf filmische Ausdrucksweisen, die sich bewusst von dominanten Repräsentationsmustern und damit verbundenen Ideologien des kommerziellen Hollywoodkinos abheben. Als Merkmale des Mainstreamkinos gelten z. B. ein narrativer linearer Stil sowie das continuity editing durch „unsichtbare Schnitte“, die den Eindruck eines ununterbrochenen Flusses der Bilder und damit eine Illusion der Wirklichkeit erzeugen (vgl. Hickethier 2007: 147). Diese Konventionen werden im counter cinema unterlaufen. Der Terminus prägte sich in den 1970er Jahren und umfasst verschiedenste alternative Filmformen, die z. B. zu Gruppierungen wie dem feministischen Kino, Avantgarde- und Kunstkino zählen und hegemoniale Repräsentationsweisen, soziale und insbesondere Genderhierarchien in Frage stellen (siehe z. B. die Forderung Laura Mulveys 1989, den „männlichen Blick“ und patriarchale Strukturen des Hollywoodkinos zu durchbrechen). In einem weiteren Sinne wird counter cinema hier als alternatives Kino verstanden, das sich nicht nur gegen die dominanten Erzähl- und Denkweisen Hollywoods, sondern auch gegen die im eigenen nationalen Kontext richten kann.
75 „To promote films in terms of their national identity is also to secure a prominent collective profile for them in both the domestic and the international marketplace, a means of selling those films by giving them a distinctive brand name“ (Higson 2000: 63). Wobei auch gerade kritische, teils im eigenen Land verbotene Filme auf internationaler Bühne Anerkennung finden, siehe z. B. in jüngerer Zeit iranische Filme wie Jafar Panahis Taxi Teheran (2015).
76 Mittlerweile hat sich besonders in der anglophonen Forschung ein breites Spektrum an Ansätzen zum transnational cinema etabliert. Einen Schlüsselbeitrag lieferte der Sammelband Transnational Cinema: the Film Reader (Ezra / Rowden 2006), ebenso die Beiträge zur gegenwärtigen Debatte um transnationale Kinos sowie den damit verbundenen Begriff des world cinema im Band World Cinemas, Transnational Perspectives (Ďurovičová 2009). Die transnationale Perspektive hat allgemein eine derartige Verbreitung erlangt, dass gar von einem transnational turn die Rede ist. Jahn-Sudmann (2009) verweist auf den einerseits inflationären Gebrauch des Begriffs, andererseits auf dessen große Bedeutung. Zum transnational turn in den Literaturwissenschaften siehe Paul Jay 2010.
77 Beide Begriffe charakterisieren sich auf unterschiedlichen Ebenen durch transitorische Momente. Während das Transnationale sich auf die Nation bezieht, dient das transkulturelle Vokabular dem zugrunde liegenden Kulturverständnis für Beschreibungen von Identifikationen und kulturellen Praktiken (vgl. McPherson ebd.: 23–26).
78 Auch die Kinoexpertin Mette Hjort weist darauf hin, dass die transnationale Perspektive in der Filmwissenschaft zwar eine berechtigte Verbreitung erfährt, gerade aber eine Ausdifferenzierung wichtig ist, die über universale Phänomene hinausgeht. „That cinematic transnationalism is a ubiquitous phenomenon at the beginning of the new millennium is by now an accepted fact. The time is ripe as a result for work on cinematic transnationalism that goes beyond affirmative description in order to distinguish carefully among tendencies that are more or less positive within a larger scheme of things. It may be a matter, for example, of trying to ensure that cinematic transnationalism continues to find diverse typological expressions, rather than being reduced to a single, in all likelihood, globalizing, type […]. Cinematic transnationalism is no doubt the future, but as such it is also an ‘open’ phenomenon with the potential to develop in many different directions” (Hjort 2009: 30).
79 Das Konzept des Third Cinema ist aus historischer Perspektive bedeutend, wird jedoch im Zusammenhang mit der Kritik an binären Oppositionen zwischen sogenannter „Erster“ und „Dritter Welt“ hinterfragt. Der Begriff bezieht sich im engeren Sinne auf eine antiimperialistische und antikoloniale Ideologie, die Kino als ‚Waffe‘ versteht. Er beschreibt eine kritische Gegennarrative zum europäisch-amerikanischen Kino, das von den Vertretern des Third Cinema als Ausdruck von Imperialismus und Neokolonialismus gesehen wird. Ursprünglich geht das Konzept zurück auf das Manifest der argentinischen Filmemacher Fernando Solanas und Octavio Getino Hacia un Tercer cine (1969). In den 1980er Jahren etablierte sich der Begriff insbesondere unter Einfluss Teshome Gabriels in der Filmwissenschaft. Der Begriff wird unter Berücksichtigung der Dynamiken im weltweiten Filmschaffen neu diskutiert. Siehe hierzu beispielsweise die Beiträge in Rethinking Third Cinema (Guneratne / Dissayanake 2003).
80 Ella Shohat stellt dem Third Cinema das Konzept eines Post-Third-Worldist Cinema gegenüber, das die Suggestion einer geschlossenen nationalen Identität im antikolonialen Kampf entlarvt und überwindet (vgl. Shohat 2006: 48). Shohats Ansatz berücksichtigt verschiedene Stimmen und Differenzen innerhalb der Nation, untersucht z. B. weibliche Schreibweisen, die die männlich dominierte Konzeption der Nation und Kinotradition herausfordern.
81 Algerische international erfolgreiche Filme sind tatsächlich überwiegend Koproduktionen, die sich teilweise hollywoodähnlichen Mustern annähern (z. B. Chronique des années de braise und Indigènes, siehe Kapitel IV).
82 Dieses Phänomen trifft auf viele afrikanische Länder zu (vgl. Higbee 2007: 84).
83 Sowohl Ruhe als auch Tarr zeigen jedoch, wie sich das cinéma beur selbst weiterentwickelt, indem es Muster dekonstruiert und sich anderen Räumen und Themenschwerpunkten zuwendet. Seit den 1990er und vermehrt seit den 2000er Jahren befassen sich viele Regisseure/innen algerischer Herkunft mit unterschiedlichsten Aspekten der Geschichte, der Migrationserfahrung und gegenwärtigen Problematiken.
84 „Accented films are personal and unique, like fingerprints, because they are both authorial and autobiographical“ (ebd.: 34).
85 Je nach der realen und imaginierten Beziehung der Cineasten zum Herkunfts- und Aufnahmeland, differenziert Naficy deren Zuordnung zwischen „exilic“, „postcolonial ethnic and identity“ und „diasporic“, denen ein doppeltes identitäres Bewusstsein gemeinsam ist (vgl. ebd.: 21). Exilfilme konzentrieren sich demnach auf das „dort und dann“, die zweite Gruppe auf das „Hier und Jetzt“ und Diaspora-Filme meist auf beides (Herkunfts- und Aufnahmeland). Allerdings ist fraglich, ob die Einteilungen so deutlich gemacht werden können.
86 „The variations among the films are driven by many factors, while their similarities stem principally from what the filmmakers have in common: liminal subjectivity and interstitial location in society and the film industry“ (Naficy 2001: 10). Der accented style setzt nicht unbedingt immer eine Exilsituation voraus, sondern kann sich auch auf oppositionelle Ausdrucksweisen innerhalb des eigenen Landes beziehen (vgl. ebd.: 23).
87 Novaks Konzept der Transvergenz fordert die Lehre von Kontinuität und Konsistenz heraus und ist im Gegensatz zur Konvergenz (auf einen fixierten Punkt zulaufend) zu verstehen.
88 Die Biographie der Filmemacher/innen spielt also wiederum eine Rolle und ist insofern bedeutend, als viele Filme eigene Exilerfahrungen verarbeiten. Dennoch ist zentral, dass nicht die Herkunft, sondern das Textuelle vorrangig ist.
89 Higbee nennt hier als Beispiel insbesondere Allouaches Film Chouchou (2003), der in Frankreich über 3 Mio. Zuschauer erreicht hat (vgl. Higbee 2007: 90). Die Hauptfigur ist ein Transvestit maghrebinischer Herkunft, der ‚Normvorstellungen‘ der Nation und Auffassungen von fixierter Identität auf Genderebene unterläuft.