III  Filmgeschichtlicher Abriss

Zur besseren Orientierung und historischen Einordnung der Filme des Analyseteils in Kapitel IV gibt dieses Kapitel einen zusammenfassenden Einblick in die Entwicklungen des algerischen Kinos und nimmt dafür einige Aspekte vorweg, die in den Analysen detaillierter dargestellt werden. Wesentliche Etappen der Kinogeschichte werden anhand struktureller Gegebenheiten und thematischer Tendenzen skizziert, wobei die Auswahl der Filme exemplarisch zu verstehen ist. Dazu wird kurz die Vorgeschichte des Kolonialkinos in Algerien aufgegriffen, bevor das algerische Kino in seinen Konturen und Transformationen umrissen wird.

1.    Vorgeschichte – Kolonialfilme und Einführung des Kinos in Algerien

1.1.    Algerien als Bühne europäischer Projektionen

Seit den Anfängen des europäischen Kinos – mit den ersten öffentlichen Filmvorführungen des Kinematographen der Brüder Louis und Auguste Lumière 1895 in Frankreich – wurde diese neue technische Errungenschaft und Attraktion schon bald auch in Algerien erprobt. Allerdings war es nicht die algerische Filmkunst, die hier in den Anfängen des Kinozeitalters ihren Ausgangspunkt nahm, sondern die französischer Filmpioniere, die Algerien und seine Nachbarländer zu ihrer Kulisse machten. Die Entstehung eines algerischen Kinos, das Ausdruck der Lebensrealität und Imaginationen der Algerier wäre, ist zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt.90 Sowohl die Filmproduktion als auch die Kinobetriebe waren ebenso wie andere kulturelle und wirtschaftliche Bereiche in französischer Hand. Als französisches Repräsentations- und Machtinstrument diente das cinéma colonial in Algerien der Selbstbestätigung und Unterhaltung der europäischen Siedler ebenso wie Propagandazwecken (vgl. Spaas 2000: 128). Seine Bindung an koloniale Interessen und Ideologien lässt sich sowohl anhand der Infrastruktur (Produktion, Vorführung) als auch an den filmischen Darstellungsweisen festmachen. ← 59 | 60 →

Die ersten Vorführungen mit dem Kinematographen fanden in Algerien im Jahre 1896 in Algier und Oran statt. Ab 1908 wurden erste Filmtheater eingerichtet, und bis 1914 gab es bereits sieben Kinos in Algier. Mit dem Anstieg der europäischen Bevölkerung, von 781.000 im Jahre 1912 auf über 1 Mio. gegen Ende der Kolonialzeit, nahm die Zahl der Filmtheater bedeutend zu. 1930 waren es schon 150, 1956 über 300 Kinosäle.91 Fast alle der 35-mm-Kinos befanden sich in den großen Städten, die durch die Einflussnahme der Siedler von einer europäisierten Kulturszene geprägt waren. Im Durchschnitt wurden während der Kolonialperiode ca. 15 Filme pro Jahr im Maghreb gedreht, was jedoch keinen Aufbau lokaler Filmindustrien bewirkte, da die Filme in Frankreich gefertigt wurden (vgl. Salmane 1976: 9).92

Bereits mehrere Aufnahmen der im Lumière-Katalog zwischen 1895 und 1905 aufgelisteten Kurzfilme wurden in Nordafrika gedreht. Einer der bekanntesten Kameramänner der Lumières, Félix Mesguich, der selbst in Algerien geboren war, erstellte 1905 den in seinem Titel pejorativ anmutenden Film Ali bouff’à l’huile. Dennoch war Mesguich laut Rachid Boudjedra einer der wenigen Filmemacher, der Nachrichtenmaterial lieferte und sich in seinen Dokumentationen, z. B. unter den Titeln Prière de Muezzin und Marché arabe, der Realität der Algerier zumindest ansatzweise genähert zu haben scheint (vgl. Boudjedra 1971: 10). Denn im Gegensatz zu Mesguichs Versuchen, die Lebensweisen der Autochthonen – wenn auch mit einem eurozentrischen Blick – einzufangen, entzog sich das französische Kolonialkino weitgehend der sozio-kulturellen und politischen Realität und präsentierte, ganz im Sinne einer Traumfabrik, koloniale Abenteuer, exotistische Bilder und verzerrende Perspektiven auf die Kolonisierten. Auch der große französische Kinopionier und Vorreiter fiktionaler Filmrichtungen Georges Méliès inszenierte z. B. 1897 in seinem Streifen Le Musulman rigolo ‚den Araber‘ als komische Kreatur, die ebenso wie in nachfolgenden Filmen der Kolonialperiode fremd und unverständlich erschien.

Der Maghreb wurde lange Zeit als Einheit, ohne Unterscheidungen zwischen einzelnen geographischen, sprachlichen oder kulturellen Differenzen, entworfen. Befreit von den politischen und sozialen Begebenheiten, wurde er so in der Stummfilmära zum mythischen Ort (vgl. ebd.: 9). Die Imaginationen des „Ori ← 60 | 61 → ents“ aus der europäischen Malerei und Literatur des 19. Jhs. schrieb sich mitsamt der dort etablierten Stereotype im Kino weiter fort.93 Wurde „der Araber“ als faul, gefährlich oder hinterlistig dargestellt, galt die „Orientalin“ als begehrenswertes Objekt. Die Reduktion der Kolonisierten auf eine orientalisierte Silhouette und die dichotome Gegenüberstellung von „Orient“ und „Okzident“ kam dem europäischen Selbstentwurf zu Gute. Vorstellungen von Überlegenheit und Projektionen lustvoller Phantasien ergänzten sich dabei und unterdrückten die eigene Stimme der Kolonisierten.

Waren die Algerier zum einen von der Filmproduktion ausgeschlossen, spielten sie zum anderen auch keine bedeutende Rolle vor der Kamera. Die arabischen Figuren, die in den Spielfilmen auftraten, wurden nur schablonenhaft dargestellt und sogar oft von Europäern verkörpert. Auch der geographische und filmische Raum wurde aus kolonialistischer Perspektive mit Bedeutungen aufgeladen. Neben der Wüstenlandschaft diente die verwinkelte Casbah Algiers (die arabische Altstadt) als orientalistisches Dekor, so z. B. in Julien Duviviers Pépé le Moko (1937). Dass dieser vorwiegend in der Casbah verortete Film überwiegend im Studio und weniger in Algier gedreht wurde, unterstreicht umso mehr die exemplarische Kulissenhaftigkeit Algeriens für französische Kolonialfilme.94 Die Exklusion der Algerier manifestiert sich in Pépé le Moko darin, dass europäische Figuren und Schauspieler im Zentrum stehen. Überdies wird die arabische Bevölkerung als größte Einwohnergruppe der Casbah bei einer dokumentarisierenden Aufzählung eines voice-over-Kommentars zu Beginn des Films ausgeschlossen. „There are, as most commentators on the film have noticed, no Arabs in the Casbah!“ (Armes 2006: 23).95 Die arabische Stimme wird entsprechend ausgespart, ← 61 | 62 → indem auf der Tonebene des Films kein Arabisch zu hören ist. Die Story über den Juwelendieb Pépé le Moko (Jean Gabin), der sich in Gaby (Mireille Balin), die Maitresse eines reichen Geschäftsmannes, verliebt und so gefasst werden kann, ist also ein europäisches Drama, das auch an einem beliebig anderen Ort hätte spielen können. Die Absenz der Algerier in diesem sowie vielen französischen Filmen der Kolonialzeit zeigt, wie die auf das europäische Publikum zugeschnittenen Drehbücher kaum einen Raum und Subjektstatus für die einheimische arabisch-berberische Bevölkerung boten.

Wie bereits der Kolonialroman und insbesondere die Literatur der Algerianisten spiegelten die Filme die Weltsicht der Kolonisatoren und inszenierten seit den 1930er Jahren zunehmend ein von Siedlern bevölkertes Algerien (vgl. Benali 1998: 35). Im Gegensatz zu Pépé le Moko spielten die meisten von ihnen im ländlichen Milieu und konzentrierten sich auf die Verdienste der colons, die als Helden ein angeblich wüstes Land urbar machten (vgl. Armes / Malkmus 1991: 16).96 Die filmischen Repräsentationen Algeriens kreierten ein fiktionales Universum und Idealbild des œuvre coloniale, das die Inanspruchnahme des maghrebinischen Raums rechtfertigte. Das Kolonialkino erschuf Algerien und den Maghreb so insgesamt als einen Ort, der den Identitäts- und Geschichtskonstruktionen der Kolonisatoren diente: „Contrairement aux documentaires de propagande, les films coloniaux de fiction créent un cadre normatif permettant de raconter l’épopée française dans un espace étranger“ (Benali 1998: 50). Das cinéma colonial und seine Struktur in den Kolonialgebieten lassen sich letztlich durch eine mehrfache Exklusion der Autochthonen definieren: und zwar neben deren Absenz als Filmproduzenten und für sich selbst sprechende Hauptakteure auch bezüglich der Filmrezeption.

Durch die vorwiegende räumliche Situierung der Filmtheater in den europäisch geprägten Städten sowie aufgrund sprachlicher und finanzieller Barrieren war der Kinobesuch überwiegend den Siedlern vorbehalten (vgl. Spaas 2000: 134). Nur wenige Kinos waren für ein autochthones Publikum bestimmt und zeigten z. B. auch ägyptische Filme97 in arabischer Sprache. Diese waren oft durch hoch besteuerte Eintrittspreise für die Algerier kaum erschwinglich (vgl. Armes / Malkmus 1991: 5). Das Kolonialkino, das strukturell die Segregation der Bevölkerung spiegelte, hatte nach Hala Salmane vor allem zwei Aufgaben: ← 62 | 63 →

1) To distort the image of colonised people in order to justify to Western public opinion the policy of colonisation; the ‘natives’ had therefore to be portrayed as sub-human;

2) To convince the ‘natives’ that their colonial ‘mother’ protected them from their own savagery and from the unhappiness which was their essential state of mind (Salmane 1976: 8).

Vor dem Hintergrund politischer Entwicklungen wurde das algerische Publikum letztlich durch propagandistische Filme gezielt angesprochen, um z. B. während des Zweiten Weltkriegs algerische Männer als Soldaten zu gewinnen. Zur Einflussnahme auf die ländliche Bevölkerung wurden mobile Kinobusse, ciné-bus, eingesetzt, die meist Dokumentarfilme präsentierten (vgl. Armes / Malkmus 1991: 21). Der Ansatz der Kolonialregierung, eigene Distributions- und Produktionsnetzwerke im Maghreb einzurichten, zielte nicht zuletzt auch darauf ab, dem Einfluss des ägyptischen Kinos und einer möglichen Verbreitung des sich entwickelnden panarabischen Nationalismus entgegenzuwirken: „En cherchant à créer un cinéma maghrébin, on cherchait à préserver les pays du Maghreb de l’influence du nationalisme arabo-musulman à visée indépendantiste“ (Benali 1998: 337). Politisch brisante Themen wurden weiterhin gemieden, so vor allem der seit 1945 erstarkende algerische Nationalismus (vgl. Boudjedra 1971: 16). Besonders während des Algerienkriegs diente das Medium Film als Propagandainstrument.98 Hierzu wurden in größerem Maße Dokumentationen erstellt, die ungeachtet ihres eigentlichen Zwecks erstmals auch die Lebensrealität der Algerier zeigten:

[D]uring the Algerian War, the French army made extensive use of newsreel footage specially edited to put the case for ‘pacification’ to the Algerian people. Shots of Algerian combatants were naturally omitted, but it was not possible to avoid all aspects of Algerian reality. The ironic result, as Megherbi points out, was that Algerians saw their own lives – the squalid living conditions of the colonized rural masses, for example – depicted realistically on the screen for the first time, thanks to the propaganda efforts of the French army (Armes / Malkmus 1991: 21).

Insgesamt reflektierten sowohl die Propagandafilme als auch die Spielfilme des cinéma colonial die konstruierte hierarchische Dichotomie zwischen colonisateur und colonisé. Die kolonialistische Weltsicht, verklärt durch orientalistische Dar ← 63 | 64 → stellungen und einen Diskurs der französischen Überlegenheit, prägte auch die visuellen (Selbst-)Eindrücke der Algerier, die, wenn überhaupt, dann vorwiegend die kolonialen Sichtweisen präsentiert bekamen.

1.2.    Repräsentationen des Algerienkriegs im französischen Kino

Nicht nur während der Kolonialzeit und des Unabhängigkeitskriegs, sondern auch noch Jahre danach blieb das französische Kino im Hinblick auf den Algerienkonflikt stark beeinträchtigt von Politik und Zensurmaßnahmen. Abgesehen von den Vorstößen einiger engagierter Antikolonialisten, wurde eine direkte Auseinandersetzung lange Zeit vermieden. Entsprechend der politischen Negierung des Kriegs und dessen Verharmlosung als événements und entreprises de pacification (Stora 1998: 13) ist auch im Kino eine Ausblendung dieses dunklen Kapitels der Kolonialgeschichte zu vernehmen. Diese bedeutet allerdings nicht etwa eine zu vermutende geringe Anzahl an Filmen zu diesem Thema. Studien seit den 1990er Jahren zeigen, dass es sich vielmehr um eine ‚gefühlte‘ Abwesenheit handelt (vgl. Dine 2002: 215).99 Diese resultiert aus den von Tabuisierungen beeinflussten, nicht-expliziten Repräsentationsweisen.

Dokumentationen antikolonialer Filmemacher wie René Vautier und Pierre Clément, die das Kriegsgeschehen auf Seiten der Algerier bezeugten (siehe III.2.), wurden verboten und nur heimlich gezeigt. Das dadurch entstehende ‚Parallelkino‘, das sich unter anderem in Jacques Panijels Octobre à Paris (1962)100 ausdrückte, wirkte als Gegenkraft zum Mainstream-Kino, das sich seit 1958 zunehmend auf die Reanimierung des Résistance-Mythos konzentrierte (vgl. Dine 2002: 218). Mit den technisch-ästhetischen Innovationen der Nouvelle Vague und ihren provokativen Positionierungen setzte sich diese Entwicklung ansatzweise auch in Spielfilmen fort. Mehrere große Regisseure der Nouvelle Vague griffen den Alge ← 64 | 65 → rienkonflikt auf, wobei die Zensurmaßnahmen die Veröffentlichung der Filme bis nach Kriegsende verzögerten und so deren Aktualität minderten.101

Unabhängig von den Innovationen dieser Strömung blieb der Krieg überwiegend im Hintergrund der Inszenierungen. Die meisten Werke konzentrieren sich auf die Geschichten eingezogener Soldaten; sie beschreiben Abschied und Rückkehr der appelés sowie deren persönliche psychische Folgen und zerstörte Beziehungen (vgl. Branche 1997: 57)102: „Un regard sur ces films indique qu’ils ne montrent pas vraiment la guerre d’Algérie. Les cinéastes évoquent ce qui se passe avant et après, mais jamais pendant la guerre“ (Stora 2008: 264). Auch Alain Resnais’ Film Muriel (1963), der als erster die Folter zu einem zentralen Thema macht, blendet diese bezeichnenderweise visuell aus und vermittelt die Schrecken indirekt. Die Repräsentationsschwierigkeit der kolonialen Gewalt wird hier exemplarisch deutlich, symbolisiert durch das titelgebende, aber nicht sichtbare Folteropfer Muriel.103 Godards 1960 entstandener und bis 1963 verbotener Film Le petit Soldat zeigt zwar Folterszenen, allerdings auf Seiten der FLN. Dass Le petit Soldat in Genf spielt und die meisten anderen Filme in Frankreich, ist bezeichnend für die von Distanz geprägte französische Erfahrung des Algerienkriegs, die die Filme dieser Periode spiegeln. In logischer Konsequenz und Kontinuität zu den Kolonialfilmen bleiben die Algerier im Hintergrund. Die fellaghas (Widerständler) werden, wenn überhaupt repräsentiert, stereotypisiert, die ALN aufgrund des fehlenden Kriegsstatus nicht erwähnt.104 Auch nach 1962 lässt sich somit eine mehrfache Absenz Algeriens im französischen Kino konstatieren: in Bezug auf die Kriegsbilder, die authentischen Schauplätze und die algerischen Akteure (und deren Perspektiven).

Ab 1968 und im Laufe der 1970er Jahre entstehen einige antimilitaristische und kritische Filme von bereits zuvor aktiven Oppositionellen wie René Vautier oder ← 65 | 66 → z. B. Laurent Heynemann, der Henri Allegs La Question (1977) adaptierte. Einige wenige Filme wie Avoir vingt ans dans les Aurès105 (René Vautier, 1972) und RAS (Yves Boisset, 1973) spielen nun in Algerien und zeigen erstmals deutlich die brutale Gewalt des Kriegs. Dennoch konzentrieren auch sie sich auf den individuellen Kampf französischer Protagonisten, in diesem Fall Deserteure. Mit dem Fokus auf den Kriegsverweigerern wird Stora zufolge der Mythos des Widerstands evoziert und die Verantwortung Frankreichs wiederum durch humane Helden verdeckt (vgl. Stora 2008: 265). In den 1970er Jahren zeigen sich weitere Veränderungen, wovon besonders das (Wieder-)Auftreten des pied-noir-Gedächtnisses mit Filmen wie Le Coup de sirocco (Alexandre Arcady, 1978) zu nennen ist. Dieser ist einer der ersten pied-noir-Filme seit James Blues gleichnamiger Adaption von Jean Pélégris Roman Les Oliviers de la justice (1962), der noch gegen Ende des Kriegs in Algerien entstand und die Utopie eines brüderlichen französischen Algeriens verbreitete.106

War der Algerienkrieg selbst lange nur im Hintergrund präsent, so rücken ihn einige Filme in den 1990er und 2000er Jahren in den Mittelpunkt und spiegeln damit das Wiederaufleben der Erinnerungen und öffentlichen Debatten. In den 2000er Jahren findet zunehmend eine direktere Auseinandersetzung mit Gewalt und Folter statt, die im Kontext der beginnenden Aufarbeitung und Publikationen über den Algerienkrieg zu sehen ist. Filme wie La Trahison (Philippe Faucon, 2005), Mon Colonel (Laurent Herbiet, 2006) und L’Ennemi intime (Florent-Eimilio Siri, 2007) stellen das Kriegsgeschehen ins Zentrum und betrachten diese aus ver ← 66 | 67 → schiedenen Perspektiven. In dieser Tendenz bringen vermehrt franko-algerische und transnationale Produktionen den Algerienkrieg zurück auf die Leinwand (siehe IV.4.1.). Eine eindeutige Zuordnung der Filme wird angesichts dessen immer schwieriger und zeigt sich auch an der Entwicklung des algerischen Kinos.

2.    Zeugnisse des Kriegs: Erste (franko-)algerische Filme im Befreiungskampf

Mit der Unabhängigkeit und teilweise bereits während der Freiheitsbewegungen verschiedener Länder in Afrika und Asien sollte das Medium Film sich oftmals zu einem politischen Instrumentarium der Dekolonisation entwickeln und eine bedeutende Rolle bei der Rekonstruktion der nationalen Identität spielen. Dies trifft insbesondere auf die Anfänge des algerischen Kinos zu, das regelrecht aus dem Unabhängigkeitskampf heraus geboren wurde.

Die ersten dokumentarischen Kurzfilme, die während des Kriegs auf Seiten der Algerier produziert wurden, präsentierten den Kampf im Maquis oder die miserablen Lebensumstände der autochthonen Bevölkerung. Sie wurden meist in gemeinsamer Arbeit von algerischen und französischen FLN-Sympathisanten gedreht, deren Anliegen es war, das koloniale Unrecht und die Ziele des Freiheitskampfes aus algerischer Perspektive zu bezeugen und der französischen Propaganda entgegenzuwirken. Das algerische Kino fand seinen Ausgangspunkt somit in Reaktion auf das Unausgesprochene, le non-dit, – bezüglich der kolonialen Unterdrückung sowie einer algerischen Identität – und machte sich zum Sprachrohr eines Volkes, das bis dahin seines eigenen Wortes und Bildes beraubt war. Es ist in seinem Ursprung ein politisches Kino, das sich mit der Verteidigung der nationalen Ziele an der Seite der FLN in einen antikolonialen Diskurs einschrieb: „Il a d’abord été un cinéma de combat, né dans le maquis (1957) à l’instigation d’une poignée de militants, et se définissait prioritairement comme un cinéma d’histoire et de témoignage de la lutte de libération nationale“ (Hadj-Moussa 1994: 87). Dabei war nicht der künstlerische Ausdruck prioritär, sondern die Funktionalität der Filme. Sie sollten die Ereignisse des Kriegs sowie dessen „wahres Gesicht“ einfangen und bildeten quasi eine „ideologische Front“, die den bewaffneten Kampf mit der Waffe des Bildes unterstützte (vgl. Boudjedra 1971: 48 f.).

Die ersten derartigen Produktionen entstanden unter der Regie des antikolonialen französischen Filmemachers René Vautier. Vautier leitete ab 1957 die erste algerische Produktionseinheit Groupe Farid, die politisch an den FLN-Einflussbezirk der wilaya 1 angegliedert war. Mit dieser produzierte er 1957 unter dem Pseudonym Farid Dendani den bekanntesten dokumentarischen Kurzfilm der Kriegszeit, Algérie en flammes, der für die meisten Filmhistoriker den Anfangspunkt der algeri ← 67 | 68 → schen Filmgeschichte markiert.107 Während der Dreharbeiten zu diesem Film im Aurès-Gebirge verlor Vautier einige seiner Schüler durch Angriffe; er selbst kam verletzt nach Ost-Berlin, wo er Algérie en flammes fertigstellte.

Die provisorische Regierung der FLN (GPRA) bemühte sich darum, das Potenzial des Mediums Film gezielt zur Massenmobilisierung zu nutzen. Dazu wurde der unter Vautier gegründete Filmdienst von Tebessa als Service du cinéma national der GPRA angeschlossen (vgl. Shafik 1996: 33). Dieser bildete erste organisatorische Vorläufe des algerischen Kinos, war für die Bearbeitung des Materials aber auf die Hilfe verbündeter Staaten wie Tunesien oder Jugoslawien angewiesen. Um die internationale Aufmerksamkeit auf die Geschehnisse des Algerienkriegs zu lenken, gab die GPRA Produktionen in Auftrag, die zur Solidarität mit den Algeriern beitragen sollten. Unter der Leitung Mohamed Lakhdar Haminas und Djamel Chanderlis wurden dazu vier Filme in Kollektivarbeit erstellt. Der erste 1960 in dieser Reihe entstandene Film, Djazaïrouna, ist eine Archivmontage, die auf Vautiers Une nation, l’Algérie (1954) und auf Aufnahmen Chanderlis basiert; er erlangte Aufmerksamkeit, indem er bei einer UNO-Versammlung in New York vor verschiedenen ausländischen Delegationen präsentiert wurde (vgl. Bedjaoui 1987: 147). Djazaïrouna / Unser Algerien weist mit seinem Titel auf die Rückforderung ihres eigenen Landes durch die Algerier hin und beschreibt die Geschichte des nationalen Widerstandes. Das Material wurde für einen Folgefilm unter dem Titel La Voix du peuple ergänzt. Ein weiterer Film, Les Fusils de la liberté, begleitet einen ALN-Konvoi, der Waffen von der tunesischen Grenze durch die Wüste schmuggelt. Eine symbolischere Sprache findet sich in Yasmina, der als erster algerischer Fiktionsfilm mit einem hohen dokumentarischen Anteil gilt. Yasmina appelliert an die Emotionen der Zuschauer, indem er von den Erfahrungen eines jungen Mädchens in einem Flüchtlingslager erzählt. ← 68 | 69 →

In seinem Ausgangspunkt im Kriegsgeschehen angesiedelt, ist die Kriegsthematik dem algerischen Kino originär. Das Entstehen der algerischen Filmkultur in diesem Kontext sowie die damit oft verbundene Form des Dokumentarischen ebneten den Weg für die bedeutende Stellung des Befreiungskampfes und des dokumentarischen Einflusses in der weiteren Entwicklung. Die Produktionen während des Kriegs sind nicht nur beispielhaft für den politisch-thematischen Ursprung der algerischen Filmgeschichte, sondern sie zeigen auch, dass spätere Schlüsselfiguren des algerischen Kinos, wie z. B. Mohamed Lakhdar Hamina, schon früh involviert waren und die Herausbildung der nationalen Filmkultur von Beginn an geprägt haben. Trotz seiner ideologischen Ausrichtung auf die nationale Befreiung bewegt sich das algerische Kino seit seinen Anfängen über nationale Grenzen hinweg und ist von verschiedenen Einflüssen geprägt – vor allem durch die Ausbildung der Cineasten im Ausland sowie durch das Engagement europäischer Filmemacher und Sympathisanten, die wie Vautier entscheidend zur Entstehung des algerischen Kinos beigetragen haben und auch an den ersten Produktionen nach 1962 beteiligt waren.

3.    Das algerische Kino seit der Unabhängigkeit

In diesem dritten Abschnitt werden nun wesentliche Rahmenentwicklungen, Orientierungen und Transformationen des algerischen Kinos von der Unabhängigkeit bis hin zu seiner existenziellen Krise verfolgt. Das algerische Kino lässt sich grob anhand von verschiedenen Phasen beschreiben. Es handelt sich dabei aber weniger um eine strikt zeitlich und inhaltlich festzulegende Einteilung als um thematische und strukturelle Tendenzen, die teils parallel verlaufen und vor dem politischen Hintergrund zu betrachten sind. Als größere Perioden kann zwischen dem Staatskino von Ende der 1960er Jahre bis in die 1980er Jahre und einer 1984 einsetzenden Phase der Privatisierung des Kinosektors unterschieden werden. Während bis in die 1980er Jahre hinein in Algerien die einflussreichste Filmindustrie im Maghreb beheimatet war, erfährt das algerische Kino in den 1990ern durch die wirtschaftlichen und politischen Umstände einen Zusammenbruch, von dem es sich bis heute nicht erholt hat. Auf Produktions- sowie auf Inhaltsebene bedeutet dies weitere Umbrüche und beispielsweise eine Ansiedelung des Filmschaffens algerischer Regisseure außerhalb Algeriens.

3.1.    Organisation des Kinosektors

Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit gab es außer den vielen Kinosälen, die die Kolonialmacht in Anlehnung an den Bedarf der Siedlerbevölkerung eingerichtet ← 69 | 70 → hatte, kaum eine Infrastruktur, auf die der neu entstehende algerische Filmsektor hätte aufbauen können. Das Kolonialkino war an die französische Filmwirtschaft gebunden gewesen, die antikolonialen Filme während des Kriegs mit improvisatorischen Mitteln und Unterstützung anderer Länder entstanden. Der Aufbau eines algerischen nationalen Kinos ab 1962 stand also vor verschiedenen Herausforderungen, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen und sozialen Problemen des Landes insgesamt. Da es an Studios, Filmlaboren sowie technischer und professioneller Expertise mangelte, wurden insbesondere die Bearbeitung und die Postproduktion des Filmmaterials weiterhin im Ausland, vor allem über französische Produktionsfirmen, abgewickelt. Außerdem fanden sich Gegebenheiten, die wirtschaftlich kaum aufrechterhalten werden konnten. Denn bei den gut 300 von der Kolonialmacht ‚vererbten‘ Kinosälen handelte es sich um eine kommerzialisierte Struktur, die über 100 Filme pro Jahr zirkulieren lassen musste. Dies betraf im Übrigen auch die anderen Maghrebstaaten und war angesichts der geringen eigenen Produktionsleistung dieser Länder sehr unverhältnismäßig (vgl. Armes / Malkmus 1991: 5 f.). Der dadurch bedingte hohe Import an amerikanischen, europäischen, ägyptischen, indischen und russischen Filmen förderte wiederum neokoloniale Machtverhältnisse des Marktes und erschwerte es der algerischen Filmproduktion, sich gegen die große Konkurrenz an ausländischen Filmen durchzusetzen.

In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit organisierte sich der neu entstehende Filmsektor zunächst über mehrere staatliche und auch einige wenige private Institutionen, die unterschiedlich ausgestattet waren und verschiedene Bereiche umfassten, sich aber teilweise überschnitten und miteinander konkurrierten. Das Centre audio-visuel Ben Aknoun, geleitet von Vautier und seinem ehemaligen Schüler Ahmed Rachedi, besaß z. B. lediglich einige 16-mm-Projektoren, bemühte sich aber um die Verbreitung von Filmen und organisierte dazu Vorstellungen in sogenannten ciné-pops nach Vorbild der französischen ciné-bus, die der ländlichen Bevölkerung Zugang ermöglichten. Trotz seiner geringen Mittel brachte das Centre audio-visuel eigene Produktionen hervor.108

Neben dieser Einrichtung gab es die wohl einzige private Produktionsfirma im eigentlichen Sinne, Casbah Films, die sich dank seines Gründers Yacef Saadi kostspieligere Projekte erlauben konnte und sich in ihrer kurzen Existenz von 1964 bis 1967 auf Auslands-Koproduktionen spezialisierte. Saadi, einer der füh ← 70 | 71 → renden FLN-Köpfe in der Schlacht um Algier, inspirierte inhaltlich Pontecorvos Film La Bataille d’Alger (1966), der gemeinsam von Casbah Films und dem italienischen Igor Film produziert wurde. Neben diesem international erfolgreichen Werk koproduzierte Casbah Films u. a. Luchino Viscontis Literaturadaption von Albert Camus’ L’Étranger (1967). Die Verstaatlichung des Filmsektors 1967 führte letztlich zur Schließung der Filmgesellschaft (vgl. Boudjedra 1971: 58).

Zu den verschiedenen staatlichen Filminstitutionen, die vor 1967 gegründet wurden, zählte das Nachrichtensystem Office des Actualités Algériennes (OAA), das dem Informationsministerium unterstellt war und von den Cineasten Lakhdar Hamina und Pierre Clément 1963 in die Wege geleitet wurde. Abgesehen von Nachrichtenmaterial und Kurzfilmen für erzieherische Maßnahmen – beispielsweise zur Alphabetisierung oder Hygiene – wirkte das OAA auch an der Produktion von Langspielfilmen mit, so z. B. von Lakhdar Haminas einflussreichem Film Le Vent des Aurès (1966). Auch die Radio- und Fernsehanstalt Radiodiffusion Télévision Algérienne (RTA) beteiligte sich an der Erstellung von Spielfilmen. Die Karrieren vieler algerischer Regisseure nahmen hier ihren Ausgangspunkt (vgl. Armes 2005: 15 f.).

Um den Kinosektor zu stabilisieren und besser zu beherrschen, wurde mit der Gründung des Centre National du Cinéma Algérien (CNCA) 1964 ein Zentralisierungsversuch unternommen. Das CNCA, ebenfalls dem Informationsministerium angegliedert, war zuständig für Verwaltung, Finanzen sowie Regulierungen und kontrollierte die Distribution sowie einen Großteil der Produktion. Parallel dazu wurden fast alle 35-mm-Kinos, die nach der Unabhängigkeit meist von algerischen Geschäftemachern erworben wurden, verstaatlicht und den Kommunen unterstellt. Das CNCA war zudem verantwortlich für die Einrichtung der Cinémathèque und einer Filmschule, dem Institut National du Cinéma. Es brachte jedoch nicht die gewünschte Stabilisierung des Kinosektors. Mit seiner Auflösung wurde auch die Filmschule, die in ihrer sehr kurzen Existenz bekannte algerische Regisseure wie z. B. Merzak Allouache ausgebildet hatte, bereits 1967 wieder geschlossen – ohne Aussichten auf eine Nachfolgeinstitution.

Nach dieser Anfangsphase, in der erste Strukturen eines staatlichen Kinos aufgebaut wurden und daneben zugleich private Initiativen wie Casbah Films existierten, wurde der Kinosektor gegen Ende der 1960er Jahre vollständig unter die Ägide des Staates gestellt. Auch in den anderen maghrebinischen Ländern sowie in weiteren ehemaligen Kolonien wurde das Kino staatlich kontrolliert. In Algerien ließ sich aber Armes und Malkmus zufolge das konsequenteste Beispiel eines nationalen Staatskinos im Maghreb finden, das im Kontext der Kulturpolitik zu betrachten ist (vgl. Armes / Malkmus 1991: 52). Die algerische Regierung ← 71 | 72 → ordnete die Kultur vollkommen der Politik unter und instrumentalisierte das Kino für Bildungszwecke in ihrem Sinne. Um die Rentabilität des Kinosektors zu erhöhen und diesen staatlich zu kontrollieren, wurden 1967 dem staatlichen Office National pour le Commerce et l’Industrie Cinématographique (ONCIC) die meisten Aufgaben der vorigen Organisationen übertragen und somit sämtliche Bereiche in dieser Institution vereint. Mit dieser Monopolisierung hatte der Staat letztlich die Verantwortung und Kontrolle über das gesamte Filmgeschäft: Produktion, Import, Export, Distribution und Programmgestaltung lagen in einer Hand – bis zur Auflösung des ONCIC 1984. Daneben bestanden nur noch die Nachrichten-Organisation OAA (bis 1974) sowie das Centre Algérien de la Cinématographie (CAC), das für die Verwaltung der Cinémathèque sowie für Ordnungsaufgaben zuständig war.109 Nach dem finanziellen Zusammenbruch des ONCIC 1984 entstanden zwei Nachfolgeorganisationen unter der Schirmherrschaft des neu gegründeten Centre Algérien pour l’Art et l’Industrie Cinématographiques (CAAIC), die allerdings Ende der 1980er Jahre ebenfalls durch finanzielle Probleme geschwächt waren (Spaas 2000: 134 f.).

Die Filmproduktion wurde durch die Verstaatlichung zwar gefördert, Filmemacher wurden verbeamtet und finanziell abgesichert. Die Professionalisierung sowie der Zugang zu Mitteln waren so aber auch nur unter der Kontrolle des Staates möglich. Einflussreiche algerische Filmemacher waren wohl nicht zufällig häufig auch Leiter der nationalen Filminstitute. Das gilt z. B. für Mohamed Lakhdar Hamina als Leiter des OAA von 1963 bis 1974 sowie für Ahmed Rachedi als Vorsitzender des ONCIC zwischen 1967 und 1973 als bedeutende Regisseure dieser Periode, die einerseits regimekonform arbeiteten, andererseits auch die geringen Spielräume zu nutzen wussten.

Durch die vollständige Verstaatlichung stand das Kino umso mehr im Einklang mit dem offiziellen nationalen Einheitsdiskurs, der die kulturelle Heterogenität Algeriens ignorierte. Eine Dreherlaubnis wurde nur nach Vorlage des Drehbuchs vor einem Komitee vergeben, das dieses auf politische, kulturelle und religiöse Kriterien überprüfte. Kritische Positionen oder gar ein politisch engagiertes, oppositionelles Kinos waren so nur schwer möglich, weshalb nationale Glorifizierungen das Kino der Anfangszeit dominierten:

Le cinéma algérien, à cause certainement de cette situation qui lui est faite, se limite à chanter – mièvrement d’ailleurs – les héros de la guerre de libération, à flatter les faiblesses de la société algérienne, au lieu de les dénoncer et à se détourner des vrais ← 72 | 73 → problèmes politiques, économiques et socio-psychologiques d’une société en pleine mutation (Boudjedra 1971: 57).

Denise Brahimi sieht die staatliche Bevormundung verantwortlich für eine Einschränkung der möglichen filmischen Darstellungen und eine dadurch bedingte relative Gleichförmigkeit: „Ce qui signifie qu’un code de représentation s’installe assez vite, et que les éventuelles tentatives pour lui échapper donnent des résultats peu lisibles ou peu cohérents“ (Brahimi 2009: 21).

Viele Filmemacher schienen die Nationalisierung dennoch zu begrüßen, erhofften sie sich dadurch doch eine höhere Effizienz und Stabilität des algerischen Kinos, das nicht nur im Hinblick auf seine internationale Verbreitung, sondern auch bezüglich der Distribution und des Rezeptionsverhaltens im eigenen Land einer starken Konkurrenz ausgesetzt war. Dem Druck der ausländischen Filme konnten die algerischen Produktionen in ihrer Quantität aber auch nach der Verstaatlichung kaum standhalten.110 Im Durchschnitt produzierte das ONCIC nur drei bis fünf Langspielfilme pro Jahr, die bei weitem nicht ausreichten, um die Säle zu füllen.111 Hinzu kam, dass die algerischen Filme oft nicht den gewünschten Anklang beim Publikum fanden. Meist wurde ihnen ihre didaktische Haltung vorgeworfen und ihre Ausrichtung ging zunehmend an den Interessen der Bevölkerung vorbei. Das vor allem junge Publikum identifizierte sich immer weniger mit den Figuren des Freiheitskampfes und sehnte sich nach Filmen, die ihre eigenen, aktuellen Probleme thematisierten oder dem internationalen Mainstream entsprachen. Die durch Hollywood sowie durch Bollywood und ägyptische Filme geprägten Sehgewohnheiten der Algerier beeinflusste die Rezeption der eigenen Filme. So äußerte sich Ahmed Rachedi in einem Interview 1969: „Notre public aime les westerns, les films que nous avons faits en Algérie sont méprisé par le public ou presque. Ce sont des œuvres dont les auteurs sont couverts de lauriers, à l’étranger“ (zitiert in Boudjedra 1971: 60). Die einzigen algerischen Filme der ersten Periode, die ihre Kosten einspielten, waren Boudjedra zufolge Pontecorvos internationaler Erfolg La Bataille d’Alger und die Komödie Hassan Terro (Lakhdar Hamina, 1968).

Mit der Frage der Rezeption und Diffusion der Filme verbunden war auch die Problematik der Sprachenwahl, die sich in vielen ehemaligen Kolonien stellte. ← 73 | 74 → Während die Entscheidung für das Arabische einerseits eine politisch-identitäre war (vgl. hierzu Bensmaїa 1981), die das Berberische ohnehin ausschloss, ergaben sich mit der Wahl der Sprache auch wirtschaftliche Fragen (vgl. hierzu Boudjedra 1971: 61 ff.). Bot das Französische für das algerische Staatskino im Kontext des nationalen Aufbaus keine wirkliche Option, barg die Auswahl des Arabischen diesbezüglich weitere Probleme: Griff man auf das in den arabischen Ländern als eine Art Verkehrssprache fungierende (eher schriftliche) ‚Standard-Arabisch‘ zurück, war die Sprache des Films weit entfernt von der gelebten algerischen Realität und daher nicht nur für die überwiegende Masse an Analphabeten unverständlich oder befremdlich. Entschied man sich hingegen für die lokalen mündlichen Sprachvarietäten, die sich in Algerien sehr stark vom ‚Standard-Arabisch‘ der Schriftsprache und den ihr näherstehenden Formen anderer arabischer Länder unterscheiden, wurden die Filme selbst in den Nachbarstaaten kaum verstanden, was ihre Vermarktung zusätzlich erschwerte.112

3.2.    Das Kino im Zeichen nationaler Konstruktion – cinéma moudjahid

Nach dieser Skizze zur strukturellen Organisation wird nun ein Einblick in die thematische Ausrichtung des frühen algerischen Kinos gegeben. Die überwiegende Mehrheit der Filme in der ersten Phase nach der Unabhängigkeit konzentriert sich inhaltlich auf den Freiheitskampf, der als traumatische Gründungserfahrung der algerischen Nation einen hohen identitätsstiftenden Stellenwert besitzt und noch bis in die 1970er Jahre die Produktionen beherrscht.113 Sowohl Dokumentationen, wie Ahmed Rachedis L’Aube des damnés (1965), als auch Spielfilme, angefangen mit Jacques Charbys Une si jeune paix (1964), beschäftigen sich mit dem Algerienkrieg und der Dekolonisation im weiteren Sinne. Aufgrund dieses kollektiven Fokus der Filme wird die erste Phase des algerischen Kinos auch als cinéma moudjahid (Freiheitskämpfer-Kino) oder als cinéma de guerre (Kriegskino) bezeichnet. Die Funktion des Kinos bestand darin, sich mit dem Neuschreiben der ← 74 | 75 → nationalen Geschichte und Identität von den orientalistisch-eurozentristischen Narrationen des französischen Kinos zu befreien114 und dessen visuelles Vakuum bezüglich des Algerienkriegs mit eigenen Bildern zu füllen.

Filme wie z. B. La Nuit a peur du soleil (Badie, 1965), La Bataille d’Alger (Pontecorvo, 1966) oder Le Vent des Aurès (Lakhdar Hamina, 1966) waren für diese Selbstrepräsentationen und Darstellungen der algerischen Geschichte prägend. Sie setzten den französischen stereotypen Vorstellungen und Ausblendungen ihre Sichtweisen entgegen, kreierten dabei aber ihrerseits nun ein vereinheitlichendes Bild der ehemals Kolonisierten. Trotz ihrer Unterschiede ist den Filmen dieser Phase ein homogenisierender Blick auf die Nation im Entstehen gemeinsam, der teils koloniale Diskriminierungen übernimmt. Die inhaltliche Konzentration auf die nationale Emanzipation muss dabei im Kontext der politisch geleiteten Rückbesinnung auf die arabische Identität gesehen werden, die nicht nur in Algerien, sondern auch im Maghreb insgesamt ihre Ausdrucksformen im filmischen Medium suchte (vgl. Armes 2005: 15).

Als massenwirksames Kommunikationsmittel115, das Identifikationsangebote bereithält und auch eine zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit überwiegend analphabete Bevölkerung erreichen konnte, wurde das Kino insbesondere nach der Verstaatlichung politisch weiter instrumentalisiert. ← 75 | 76 →

Après l’indépendance de 1962, se voulant en rupture avec le cinéma colonial pour qui ‘l’indigène’ apparaissait comme un être muet, évoluant dans des décors et des situations ‘exotiques’, le cinéma algérien témoigne d’abord de la volonté de faire exister le nouvel État indépendant. Les nouvelles images, qui correspondent au désir d’affirmation d’une identité nouvelle, se déploient d’abord dans le registre de la propagande, puis, progressivement, dévoilent des ‘sujets’ de société (Stora 2008: 266).

Geprägt von einem politischen Diskurs der Einstimmigkeit konzentrierten sich die Filme dieser Periode allerdings nicht nur auf direkte Darstellungen des Kriegs (vgl. Bedjaoui 1987: 147). Die Kriegshandlungen standen sogar weniger im Vordergrund und es galt vielmehr, über die emotionale und ideologische Ebene Tapferkeit, Heroismus sowie den Zusammenhalt der Gesellschaft (z. B. Le Vent des Aurès) symbolisch herauszustellen.

In seiner Repräsentation nationaler Kohärenz vertrat das cinéma moudjahid die Mythen und Ideologien der FLN-Regierung bzw. stand es dieser aufgrund seiner strukturellen Anbindung unkritisch gegenüber. In der Literatur zum algerischen Kino wird ihm somit eine Konformität mit den von der Einheitspartei formulierten Leitsätzen, der unicité de pensée, zugesprochen (vgl. u. a. Berrah 1997). Allerdings sind ebenfalls Ausnahmen oder Ambivalenzen zu beobachten, die in Kapitel IV aufgezeigt werden. Sicher ist, dass es für die damaligen Cineasten im staatlich diktierten Rahmen schwierig war, persönliche Sichtweisen zu verbreiten.

Die Konzentration auf die Stabilisierung der nationalen Einheit, bei der die Heterogenität der Bevölkerung ebenso vernachlässigt wurde wie eine tatsächliche Auseinandersetzung mit der algerischen Geschichte, hatten zur Folge, dass das Kino zunächst kaum einen anderen Bezugsrahmen hatte als die offizielle Konstruktion der algerischen Identität, die sich auf die jüngste Vergangenheit des Freiheitskampfes gründete. Bilder der jungen Nation wurden, wie Stora beschreibt, nach Gusto der Regierung neu geschaffen, Referenzen von offizieller Seite aus selektiert.

Le cinéma algérien examine, fouille alors dans le passé proche, mais il n’y a pas d’image première de référence. Tout est à reconstruire à partir de rien. Quelque chose relève ici de l’insolence des pionniers, ceux pour qui tout n’est que (re)commencement. Cette image sans passé (rien sur les figures anciennes du nationalisme algérien, de Messali Hadj à Ferhat Abbas, ou d’Abane Ramdane à Amirouche) cache peut-être aussi la hantise de se voir dévoré par des ancêtres jugés ‘dépassés’ (Stora 2008: 267).

Verschiedene Tabus und Verdrängungen begleiteten so insbesondere das cinéma moudjahid, aber auch nachfolgende Phasen. Vor allem die Konflikte während des Algerienkriegs zwischen den verfeindeten Gruppen innerhalb der Freiheitsbewegung ebenso wie die Interessen von Minderheiten wurden ausgeblendet. Das Sagbare war vom offiziellen politischen Diskurs bestimmt, wodurch auch im Kino ← 76 | 77 → bestimmte Themen, Gruppen sowie historische Figuren ausgeschlossen wurden. Neben politischen Verdrängungen und der ethnisch-sprachlichen Ausgrenzung der Berber sind genderbedingte Exklusionen auffällig. Das cinéma moudjahid – sowie das algerische Kino insgesamt – ist ein männlich dominiertes Kino. Das anfängliche Fehlen weiblicher Regisseure spiegelt auf Produktionsebene auch die zunächst geringe Rolle, die Frauen in den Filmen spielten. Dem cinéma moudjahid wurde bereits zur damaligen Zeit teilweise vorgeworfen, dass es aktuelle Probleme verdecke und sich der Realität verschließe (vgl. Salmane 1976: 26 f.). Unter den Filmemachern selbst wurden Kritik und der Drang nach Neuerungen größer, wodurch sich dann im Laufe der 1970er Jahre bedeutende Veränderungen abzeichneten.

Ungeachtet der politischen Rahmenbedingungen und ideologischen Ausrichtung des frühen Staatskinos, ist dieses von Beginn an auch transnational verankert und ästhetisch von verschiedenen Filmkulturen inspiriert. Dies hängt nicht zuletzt mit der erwähnten europäisch-algerischen Zusammenarbeit und dem Hintergrund der algerischen Filmemacher zusammen, die meist in französischen oder sowjetischen Filmschulen ausgebildet wurden. Eine eigene Filmtradition existierte nicht und entwickelte sich erst im Zusammenspiel verschiedener Einflüsse. Die Filmemacher orientierten sich an internationalen Vorbildern wie dem sowjetischen Revolutionskino und dem italienischen Neorealismo, die von ihren politischen Ausrichtungen her mit den algerischen Konzepten des Sozialismus und Antikolonialismus übereinstimmten.116 Darüber hinaus herrschte in Algier, das lange Zeit als Zentrum der „Dritten Welt“ verstanden wurde, ein reger internationaler Austausch zwischen Intellektuellen und Künstlern. Als „Mèque du Tiers Monde“ (Brahimi 2009: 200) galt dann auch die weltoffene Cinémathèque Algiers, die als bedeutendste in Afrika eine große Rolle in der vielfältigen Prägung der Cineasten bildete. Ohne die Cinémathèque, die mehrere Filme pro Tag aus ← 77 | 78 → aller Welt zeigte, gäbe es laut Hennebelle kein algerisches Kino, zu dessen Herausbildung einer originalen Filmsprache diese entschieden beigetragen habe (vgl. Hennebelle 1976: 21). Gerade diese Originalität der Filmsprache ist jedoch schwer zu definieren, und wie es Jacques Choukroun beschreibt, ist es gar unmöglich „de définir strictement les composantes d’une esthétique du cinéma algérien“ (Choukroun 2004: 66). Dies wird dadurch erschwert, dass viele Filmemacher innerhalb ihrer Möglichkeiten ihren eigenen Stil entwickeln und so den Filmen im Sinne eines Autorenkinos ihre eigene Handschrift verleihen. Eher lassen sich also thematische und ästhetische Tendenzen herauskristallisieren.117

3.3.    Umbrüche im „neuen algerischen Kino“ – cinéma djidid

In den 1970er Jahren setzte sich die Experimentierfreudigkeit einiger Filmemacher allmählich durch und diversifizierte das algerische Kino anhand von verschiedenen inhaltlichen und formalen Neuerungen. Insgesamt fand eine Umorientierung in Richtung gesellschaftlicher Themen statt. Dies wurde insofern von politischer Seite mitgetragen, als die Filme meist mit den Grundsätzen des algerischen Sozialismus übereinstimmten und kritische Positionen eher indirekt anbrachten. An der Schnittstelle zwischen innovativen Impulsen und politisch-ideologischer Konformität weist das Kino in dieser Umbruchphase zunehmend Ambivalenzen auf, die die Komplexität der gesellschaftlichen Veränderungen und Widersprüche reflektieren.

Den thematischen und formalen Neugestaltungen, die sich in den 1970er Jahren und insbesondere zwischen 1972 und 1976 abzeichneten, verdankt diese Phase der Kinogeschichte die Bezeichnung cinéma djidid (Neues Kino). Dieser Begriff ist allgemein in der wissenschaftlichen und filmkritischen Auseinandersetzung mit dem algerischen Kino etabliert, beinhaltet jedoch keine enge Definition, weshalb die Meinungen darüber, welche Filme das cinéma djidid exakt repräsentieren, divergieren können. Eine grundlegende Einigkeit besteht indes darin, dass das cinéma djidid in Opposition zum cinéma moudjahid zu sehen ist, da mit ihm eine Abwendung von der bis dahin vorherrschenden Kriegsthematik verbunden ist. Als Dachbegriff umfasst der Terminus somit Filme meist jüngerer Cineasten, die mit den heroischen Befreiungsmythen brechen und neue Blickweisen auf die Gesellschaft einnehmen. Ein Großteil der Filme widmet sich sozialpolitischen Aspekten und Auswirkungen der Modernisierung Algeriens, ← 78 | 79 → so z. B. den Transformationen des bäuerlichen Daseins, der Herausbildung einer Arbeiterklasse und auch der Frage nach der Stellung der Frau. Die Filme zeigen die Widersprüche und Herausforderungen des Lebens zwischen Traditionen und Modernisierung auf und äußern Kritik an feudalen Strukturen sowie auch an der neuen bürokratischen Elite. Beispielhaft hierfür ist der als Klassiker des cinéma djidid geltende Le Charbonnier (Mohamed Bouamari, 1972), der dies in einer besonders spannungsgeladenen Filmsprache ausdrückt. Standen die Filme überwiegend im Einklang mit dem sozialistischen Diskurs der Regierung, wandten sich einige Werke auf der anderen Seite dadurch von der dominanten FLN-Rhetorik ab, dass sie sich komödiantischer Formen und Erzählungen annahmen, wie zum Beispiel Les Vacances de l’inspecteur Tahar (Moussa Haddad, 1973) oder L’Évasion de Hassen Terro (Mustapha Badie, 1974). Das cinéma djidid bedeutete insgesamt eine Öffnung des algerischen Kinos hin zu einer vielfältigeren Gestalt und stand im Kontext ähnlicher paralleler Entwicklungen in anderen arabischen Ländern118, die Viola Shafik als Ausdruck eines weiter gefassten „Neuen arabischen Kinos“ beschreibt (Shafik 1996: 58).

Ausschlaggebend für die Veränderungen waren neue Impulse und Forderungen119, die vor allem von der jungen Generation von Filmemachern ausgingen. Als Vorläufer, die die Entstehung des cinéma djidid begünstigt haben, nennt der zeitgenössische französische Kritiker Guy Hennebelle eine Reihe von dokumentarischen Kurzfilmen, die sich Beobachtungen der Lebensrealität annahmen. Dazu zählten z. B. Mohamed Bouamaris L’Obstacle (1965) oder Ahmed Lallems Elles (1966), der sich der Emanzipation der Frauen widmete, ebenso wie Aufnahmen verschiedener Filmemacher – darunter Merzak Allouache und Lamine Merbah –, die die Situation von Jugendlichen einfingen und 1966 unter dem Titel Alger vu par… veröffentlicht wurden. Die beteiligten Cineasten brachten dann teilweise bedeutende Langspielfilme des cinéma djidid hervor. Sie hatten überwiegend am nationalen Filminstitut in Algier gelernt, das während seiner kurzen Existenz bis 1967 um die 60 Filmemacher und Techniker ausgebildet hatte. Die Cinémathèque tat ein Übriges zur Inspiration der jungen Cineasten. Von Seiten der Regierung wurde das Medium Film unter den sozialistischen Prämissen Boumedienes erneut als wichtiges Agitations- und Erziehungsmittel aufgefasst, und so fanden vermehrt ← 79 | 80 → sozialistisch orientierte Filmemacher, oft ländlichen Ursprungs, ihren Weg in die staatlichen Filmstätten (vgl. Hennebelle 1976: 30 f.).

Durch diese Ausrichtung veränderte sich auch der Blickwinkel auf den Befreiungskampf. Wurde der Krieg zuvor als Endpunkt gesehen, galt er nun als eine Etappe auf dem Weg zu einem weiteren Ziel: nämlich der sozialen Befreiung, vornehmlich von feudalen und bourgeoisen Strukturen (vgl. ebd.). Auch wenn der ‚revolutionäre‘ Impetus der Regierung kaum eine reale Verbesserung für die Bevölkerung zur Folge hatte, stimmten viele Cineasten im Glauben an positive Veränderungen in diesen politischen Diskurs ein. Die von der Regierung 1971 verkündete „Agrarrevolution“ bildete somit einen Hauptreferenzpunkt vieler Filme. Ebenso machten sich die anvisierte Industrialisierung und Modernisierung Algeriens bemerkbar. Neben Repräsentanten der verarmten Landbevölkerung bestückten nun auch andere soziale Gruppen wie Industriearbeiter und auch Arbeiterinnen das Figurenrepertoire (vgl. Shafik 1996: 196). Der Gegenwartsbezug brachte insgesamt eine stärkere Betonung der inneralgerischen sozialen Gegensätze hervor.

Zwar drücken sich in den thematisch-ästhetischen Orientierungen der Filme des cinéma djidid Gemeinsamkeiten aus, die z. B. in einer Ablehnung von dominanten Hollywoodmustern bestanden. Von einer einheitlichen Schule kann aber nicht die Rede sein. Die Besonderheiten des cinéma djidid liegen nach Hennebelle in dem Versuch, eine „authentischere“ algerische Filmkultur zu prägen, die sich durch Autorenstile auszeichnet (vgl. Hennebelle 1976: 29 f.). Dabei ist gerade die Vielfalt an Herangehensweisen repräsentativ:

Sie reichen von der beobachtenden Beschreibung sozialer Verhältnisse über persönlich gestaltete autobiographische Erzählungen bis hin zu avantgardistischen Kunstfilmen. Anders als der kommerzielle oder der sozialistische Film neigt das Neue Kino zu unkonventioneller Gestaltung und Tabubrüchen (Shafik 1996: 58).

Eine innere Widersprüchlichkeit kann dabei durchaus als charakteristisch gesehen werden, indem das cinéma djidid sich zwischen innovativen bzw. subversiveren Ausdrucksweisen und zugleich politisch kompatiblen Darstellungen bewegt – innerhalb eines weiterhin staatlich kontrollierten Filmsystems, dessen Spielräume die Cineasten nun aber kreativer austesteten. Dabei treffen regimekonforme und kritisch geschärfte Sichtweisen auch innerhalb der Filme aufeinander und erhöhen so die interne Ambivalenz der Werke, wie an Le Charbonnier sichtbar wird (siehe IV.2.). Andererseits finden sich Beispiele, die nicht nur mit dem cinéma de guerre brechen, sondern sich auch von den klassenideologischen Denkweisen der sozialistischen Filme wegbewegen, häufig mit einem humoris ← 80 | 81 → tischen Unterton. Dies erschwert eine strikte zeitliche und inhaltliche Definition des cinéma djidid.120

Statt einer radikalen Neuerung insgesamt sind die besonderen oder gar revolutionären Impulse tatsächlich innerhalb des weiter gefassten cinéma djidid zu suchen. Nur wenige Filme wagten einen ‚wirklich neuen‘, d. h. eigenen und unabhängigen Vorstoß: „Ein echtes Sinima Djidid, das gesellschaftskritische Themen mit einer adäquaten Darstellung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verbindet, konnte sich, wie man sieht, unter der Last des politischen Auftrags nur im Ausnahmefall entwickeln“ (Shafik 1996: 205).121 Merzak Allouaches Komödie Omar Gatlato ist solch eine Ausnahme und gilt als Meilenstein in der Entwicklung des algerischen Kinos. Anstelle einer klassenpolitischen Aussage verfolgt der Film den banalen Alltag eines Jugendlichen. Er stellt eine subtile Beobachtung der gelebten Realität an, die sowohl Kritik als auch Selbstironie vermittelt und ihn zu einem der größten Publikumserfolge in Algerien machte. Bereits fünf Jahre zuvor hatte Mohamed Zinet in seinem experimentell-poetischen Film Tahia ya Didou eine neue Filmsprache entwickelt und mit seinem originellen Blick auf Gegenwart und Vergangenheit einen deutlichen Bruch mit den Kriegsfilmkonventionen hervorgebracht.

After Algerian cinema had been dominated by war for a long time, the original, poetic film Tahia ya Didou (Viva Didou!, 1971) by Mohamed Zinet effected a true break with the linear concepts that valued warlike heroism over aesthetic work. The deflation of the post-independence euphoria during the late 1970s, which marked progressive films like Omar Gatlato (1976) by Merzak Allouache, brought with it a rethinking of political, ← 81 | 82 → cultural, and aesthetic possibilities, as the rhetoric of revolution began to be regarded with a certain scepticism (Salhi 2008: 445).

Diese beiden Filme können also als Beispiele für ein ‚echtes‘ cinéma djidid im Sinne Shafiks gesehen werden. Tahia ya Didou zeigt, dass schon 1971 einige Filme mit unkonventionellen Veränderungen überraschten, womit eine chronologische Zweiteilung der Periode nicht greifen würde. Bedeutend ist, dass derartige Werke neue Ausdrucksweisen und Revolutionierungen innerhalb des Systems hervorbrachten. Dennoch heißt das nicht, dass das Kino von da an grundsätzlich einer Neuerungstendenz folgte und sich eine lineare Entwicklung abzeichnete. Parallel zum cinéma djidid produzierte das ONCIC mehrere Filme mit einem teils ungewöhnlich großen Budget, die die Kriegsthematik und die heroischen Mythen wiederbelebten. Dies gilt besonders für die Zeit des 10-jährigen Jubiläums der Unabhängigkeit und des 20-jährigen Jubiläums des Beginns des Freiheitskampfes.122 Filme wie L’Opium et le bâton (Ahmed Rachedi, 1971) und vor allem Lakhdar Haminas in Cannes prämierter Chronique des années de braise (1975) sind Beispiele für den Versuch, den Freiheitskampf noch einmal feierlich zu würdigen und zugleich das Kino kommerzieller zu gestalten. Dazu griffen die Cineasten auch auf konventionellere Muster Hollywoods zurück. Trotz dieser gleichzeitigen Gegenentwicklung war die thematische und filmästhetische Öffnung des Kinos durch die Impulse des cinéma djidid unwiderruflich.

3.4.    Diversifizierungen über Grenzen hinaus

Die Diversifizierung des algerischen Kinos setzte sich trotz gleichzeitiger konservativer Tendenzen Ende der 1970er und während der 1980er Jahre weiter fort. Die zunehmende Vielfalt an Stimmen und Perspektiven zeigte sich beispielsweise in einem verstärkten Interesse an der Situation der Frauen. Im Jahre 1978 trat zudem mit Assia Djebars La Nouba des femmes du Mont Chenoua der erste von einer Frau gedrehte algerische Film auf die Bildfläche. Dieser semi-dokumentarische Film stellt erstmals Frauen als Subjekte der Geschichte in den Vordergrund und lässt diese mit ihren eigenen Stimmen über ihre Erinnerungen an den Unabhängigkeitskrieg erzählen. Auch Djebars zweiter vom RTA produzierter Film La Zerda ou les chants de l’oubli (1982) widmet sich der Position der Frauen und räumt ebenso wie La Nouba der Musik einen zentralen Platz ein. Mit einem geschärften ← 82 | 83 → Blick auf gesellschaftliche Aspekte nahmen sich zudem viele der männlichen Regisseure in den 1970er und 1980er Jahren diesem Thema an. Angefangen mit Filmen des cinéma djidid wie Mohamed Bouamaris Le Charbonnier (1972), Abdelaziz Tolbis Noua (1972) oder Sid Ali Mazifs Leila et les autres (1977), die den weiblichen Beitrag am Aufbau der modernen algerischen Gesellschaft verhandeln, konzentrieren sich auch mehrere Filme in den 1980er Jahren auf den Konflikt junger Frauen zwischen familiären Traditionalismen und Selbstbestimmung. Dazu zählt beispielsweise der Film Houria (Mazif, 1986), der die Suche einer jungen Studentin nach ihrer persönlichen Freiheit unter Aufgabe einer aussichtslosen Liebesbeziehung beschreibt. Allouaches in Frankreich gedrehter Film Un amour à Paris (1986) erzählt von der Liebesgeschichte zwischen einer französischen Jüdin und eines in Clichy geborenen Algeriers und erweitert so das Spektrum um grenzüberschreitende Problematiken. Auch Mohamed Chouikh, der in seinen Arbeiten vorwiegend gesellschaftliche Zwänge und Traditionen hinterfragt, drehte in den 1980er Jahren seine ersten Kinofilme.123 Ebenso wie seine späteren Werke L’Arche du désert (1997) und Douar de femmes (2005) zeigen La Rupture (1982) und La Citadelle (1988) Konflikte, die sich in traditionalistischen Gesellschaftsstrukturen für beide Geschlechter ergeben. Hintergrund für die intensivere Auseinandersetzung mit der Stellung der Frau in den 1980er Jahren war die politische Entwicklung in Algerien, die mit dem 1984 verankerten code de famille die Rechte der Frauen gesetzlich beschnitt.

Weitere Diversifizierungen fanden auch innerhalb der alten Kriegsthematik statt. Während auf der einen Seite Filme wie Les Portes du silence (Amar Laskri, 1987) heroische Geschichten wiederbelebten, wagten andere Werke völlig neue Blickweisen. Okacha Touitas Les Sacrifiés thematisiert zum Beispiel 1982 erstmals die innere Gewalt während des Befreiungskampfes zwischen FLN und MNA. Die Komödie Les folles années du twist (Zemmouri, 1983) hingegen präsentiert unbeschwerte Jugendliche, die sich inmitten des Algerienkriegs provokativ nur um ihre eigenen Interessen und Vorteile bemühen.

Während in Frankreich seit Ende der 1970er Jahre pied-noir-Filme wie Alexandre Arcadys Le Coup de sirocco (1979) erschienen, die die Exilerfahrungen und Nostalgie der pieds-noirs verarbeiteten, entstanden parallel dazu erste algerische Filme mit Migrationsthematik in Algerien sowie von emigrierten maghrebinischen Filmemachern in Frankreich. Der erste Langspielfilm zu diesem Thema, ← 83 | 84 → Ali Ghalems Mektoub?, wurde bereits 1969 veröffentlicht. Etablierte Filmemacher wie Ahmed Rachedi wandten sich ebenfalls dieser Problematik zu, beispielsweise in Ali au pays des mirages (Rachedi, 1979), der Erfahrungen des Fremdseins und des Rassismus in Frankreich verarbeitet. Auch Mohamed Bouamari näherte sich mit seinem Film Le Refus (1982) der Immigration nach Frankreich, verbunden mit einem Rückblick in die Zeit des Freiheitskampfes. Diese Verknüpfung ging bereits Michel Drachs franko-algerischer Film Elise ou la vraie vie (1972) ein, der die Beziehung eines FLN-Kämpfers mit einer Französin in Paris thematisierte und damit den konfliktreichen Ursprung der franko-algerischen Migrationsgeschichte im Kontext des Unabhängigkeitskriegs verhandelt.

Viele der algerischen und franko-algerischen Filmemacher bewegen sich sowohl thematisch als auch geographisch zwischen Algerien und Frankreich. Dazu zählen insbesondere nach Frankreich emigrierte Regisseure wie Merzak Allouache oder Mahmoud Zemmouri. Zemmouris erster Film Prends dix milles balles et casse-toi (1981) thematisiert die von Frankreich mit 10.000 Francs geförderte Rückkehr von Migranten (loi Stoléru) und die Fremdheitserfahrung der in Frankreich aufgewachsenen Kinder im Land ihrer Eltern, Algerien.124 In weiteren Werken behandelt er auf spielerische Art die Spannungen des Lebens zwischen verschiedenen kulturellen Einflüssen.

Ebenfalls in Frankreich verortet, beschäftigt sich das cinéma beur (siehe II.4.2.) seit den 1980er Jahren mit den Problemen der Immigranten-Community in den banlieues. Mehdi Charfes genreprägender Klassiker Le Thé au harem d’Archimède (1985), eine Adaption seines eigenen Romans, porträtiert den von Arbeitslosigkeit und Rassismus gezeichneten Alltag junger beurs. Seit den 1990er Jahren entstehen vermehrt Filme, die sich der Migration der ersten Generation im Kontext des Algerienkriegs annehmen und die Lebenssituation in den bidonvilles beleuchten, so z. B. Vivre au paradis (Bourlem Guerdjou, 1998). Viele beur-Filmemacher entwickeln ihre Themen im Laufe ihrer Karriere weiter und beschäftigen sich in jüngerer Zeit häufiger mit dem Herkunftsland ihrer Eltern. Mehdi Charef kehrt z. B. in seinen späteren Filmen La Fille de Keltoum (2001) und Cartouches Gauloises (2007) in das aktuelle Algerien sowie in die franko-algerische Geschichte zurück. Damit steht er beispielhaft für eine Tendenz, die die Filme der in Frank ← 84 | 85 → reich aufgewachsenen und emigrierten Regisseure betrifft. Abdelkrim Bahloul beispielsweise, der 1985 seinen ersten Film Le Thé à la menthe herausbrachte, in dem ein junger Algerier erfolglos sein Glück in Frankreich sucht, setzt sich in Le Soleil assassiné (2003) mit dem ermordeten Poeten Jean Sénac und somit mit der gemeinsamen franko-algerische Geschichte auseinander. Ähnlich vielfältig gestalten sich die Werke Rachid Boucharebs. Sein erster Film Bâton rouge (1985) konzentriert sich ebenfalls auf frustrierte Jugendliche, die in diesem Fall zu einem neuen Leben in die USA aufbrechen wollen. Der Regisseur löste sich von diesem thematischen Fokus und bewegt sich mit verschiedensten Schwerpunkten zwischen Europa und Afrika. Seine jüngeren Filme Indigènes (2006) und Hors-la-loi (2010) werfen neue Perspektiven auf die franko-algerische Vergangenheit und rüttelten insbesondere in Frankreich die guerres de mémoires um den Algerienkrieg wach.125

Parallel dazu sind auch teilweise Veränderungen in der pied-noir-Thematik festzustellen. In den 1990er Jahren erweiterten Filme von weiblichen Regisseuren das Spektrum um neue Sichtweisen. Outre-mer (Brigitte Roüan, 1990) schildert das Leben sowie den Niedergang gut situierter europäischer Siedler aus der Erfahrungsperspektive dreier Schwestern und reflektiert dabei die Rolle der Frauen in der Kolonialgesellschaft. Dominique Cabreras Film De l’autre côté de la mer (1996) zeichnet im Gegensatz zu den meisten früheren Beispielen ein weniger nostalgisches Bild und stellt anhand der Verbindung eines pied-noir und eines beur deren parallel verlaufende Identitätsfragen heraus.126 Die erwähnten Filme veranschaulichen insgesamt die Schwierigkeit einer eindeutigen Zuordnung zum algerischen oder französischen Kino, auch wenn viele Werke aufgrund ihrer Produktionsseite Letzterem zugerechnet werden. ← 85 | 86 →

3.5.    Krise und Transnationalisierung

3.5.1.    Zusammenbruch des Kinosektors und filmischer Widerstand in den 1990er Jahren

Die allmähliche Diversifizierung der Themen und Positionen im algerischen Kino ist nicht zuletzt im Zusammenhang mit Veränderungen des Filmsektors seit Mitte der 1980er Jahre sowie im Kontext der politischen Umbrüche 1989 zu sehen. Neben den zunehmenden Koproduktionen mit ausländischen Firmen erlaubten die politische Liberalisierung und die Teil-Privatisierung der Produktionsstrukturen den Regisseuren auch in Algerien größere Ausdrucksfreiheiten. Die Auflösung des hoch verschuldeten ONCIC im Jahre 1984 brachte zwar einerseits eine Schwächung des Filmsektors mit sich, bedeutete andererseits aber auch eine Lockerung des bis dahin streng monopolisierten Staatskinos. Den Filmemachern wurde es ermöglicht, ihre eigenen Firmen zu gründen und – wenn auch nicht frei von staatlichen Kontrollen – die Filmwelt eigenständiger zu gestalten. Dies war allerdings wiederum mit finanziellen Risiken für die Regisseure verbunden.

Im November 1987 übernahm das CAAIC die meisten früheren Aktivitäten des ONCIC; das RTA wurde im gleichen Jahr neu formiert zur ENPA (Entreprise nationale de production audiovisuelle). In den 1990er Jahren gründeten sich einige private Produktionsstätten, jedoch befand sich das Kino weiterhin in einer prekären Lage. Nachdem die Reorganisation von 1987 zunächst die Produktion begünstigt zu haben schien – 19 Spielfilme entstanden zwischen 1990 und 1993 –, nahm die Anzahl der algerischen Filmproduktionen ab 1993 deutlich ab. Weitere Beschneidungen der Filmförderung erschwerten es den Filmemachern staatliche Hilfe für ihre Projekte zu erlangen; diese hing von einer Kommission ab, die streng über die Annahme der Drehbücher entschied. Zwei Hauptfaktoren führten letztlich fast zum Erliegen der algerischen Filmwirtschaft: Zum einen trieb der Terrorismus viele Kulturschaffende und Cineasten ins Exil; zum anderen brachte die Privatisierung des Filmsektors viele ungelöste Probleme mit sich. Der definitive Zusammenbruch des Kinosektors vollzog sich 1998, als das CAAIC, die ENPA und die Nachrichtenorganisation ANAF von der Regierung ohne absehbare Folgestrukturen geschlossen wurden. Lediglich ein Film, die vietnamesisch-algerische Koproduktion Fleur de lotus (Laskri / Trân Dac), wurde 1998 realisiert.

Hinzu kam, dass die Gemeinden die Kinosäle nicht mehr ausreichend finanzieren konnten. Nicht nur in Algerien, sondern insgesamt im Maghreb hatte sich bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten ein kontinuierlicher Rückgang an Kinos abgezeichnet. In Algerien sank die Zahl extrem, so dass sich die über 300 Säle im Jahre 1962 auf nur einige Dutzend in rezenter Zeit reduzierten. Neben ← 86 | 87 → den ökonomischen Faktoren und der Konkurrenz durch Satelliten-TV, Videos und DVDs hat die terroristische Bedrohung die Schließung der Kinosäle hier weiter beschleunigt.127 Die Abnahme der Publikumszahlen von 9 Mio. 1980 auf eine halbe Mio. 1992 ließ die Einnahmen, über die sich das Kino finanzierte, weiterhin schrumpfen. Angesichts der kaum mehr vorhandenen Infrastruktur wurden Filme seither häufig in Cafés oder Video-Clubs gezeigt und vor allem durch Raubkopien verteilt (vgl. Choukroun 2004: 65). Durch den Zerfall der staatlichen Produktionsstrukturen und Filmfinanzierung wurden nur vier Spielfilme zwischen 2000 und 2005 produziert; mehrere Filme wurden nicht fertiggestellt oder blieben unveröffentlicht.128

Ungeachtet ihrer geringen Quantität sind gerade die algerischen Filme der 1990er Jahre bezüglich ihrer inhaltlichen Botschaften bedeutend und spiegeln angesichts der schwierigen Bedingungen ein großes Engagement der Cineasten. Das Kino konzentrierte sich auch in dieser Zeit weiterhin hauptsächlich auf Inhalte, die die eigene Gesellschaft betrafen. Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen setzten sich die Filmemacher aber auch unter neuen Blickwinkeln mit der franko-algerischen Geschichte auseinander. Einige Filme widmeten sich z. B. nun den komplizierten Beziehungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen während der Kolonialzeit. Dazu zählt Le Cri des hommes (Touita, 1990), der von der Freundschaft eines pied-noir mit einem Algerier handelt, die sich 1959 in Mostaganem zwischen den feindlichen Seiten befinden. Sid Ali Fettars Amour interdit aus demselben Jahr erzählt von der zum Scheitern verurteilten Liebe eines Algeriers und einer Algerienfranzösin im Algerien von 1955: „Such a film would have been deemed conventional anywhere but in Algeria, where instead it represents a move away from the socially and politically committed mainstream“ (Armes 2005: 56).

Zugleich verbanden etablierte und neue Filmemacher Rückblicke auf die Vergangenheit mit aktuellen Fragestellungen und Problemen, darunter Mohamed Lakhdar Haminas Sohn, Malik Lakhdar Hamina, der in seinem Film Automne, Octobre à Alger (1991) die Revolte vom Oktober 1988 thematisiert. Die politische Situation und die zunehmende Gefahr durch den Fundamentalismus spiegelten ← 87 | 88 → sich mit Verschärfung der Lage in verschiedenen Filmen. Auf sehr unterschiedliche Weise zogen z. B. L’Honneur de la tribu (Zemmouri, 1993), Youcef (Chouikh, 1993) oder Bab el-oued city (Allouache, 1993) ihre Bilanz der jahrzehntelangen FLN-Regierung und kritisierten dessen Versagen bezüglich der Demokratisierung Algeriens. Auch ein weiblicher Widerstand machte sich diesbezüglich sowohl inhaltlich als auch auf kreativer Seite bemerkbar. In Mohamed Rachid Benhadjs Touchia (1992) werden über die Erinnerungen einer Frau die Unterdrückung von Frauen, die Enttäuschungen nach der Unabhängigkeit sowie Parallelen zwischen der Gewalt während des Unabhängigkeitskriegs und der filmischen Gegenwart Anfang der 1990er sichtbar. Die Romanautorin Hafsa Zinaï-Koudil illustrierte in ihrem Regiedebüt Le Démon au féminin (1993) die verheerenden Gefahren eines blinden Radikalismus, der den Islam für sich beansprucht, diesen aber durch gewaltsame Praktiken und Intoleranz verzerrt. Mit ihren Werken der 1990er Jahre widersetzten sich die Regisseure/innen somit der erneuten Gewalt in Algerien und machten zugleich Staat sowie konservative Gesellschaftsstrukturen mit verantwortlich für die aktuelle Krise.

Konnte das algerische Kino Mitte der 1990er Jahre bezüglich seiner Produktionsseite den negativen politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen kaum noch standhalten, so gab ihm eine weitere engagierte Bewegung noch während dieser Krisenzeit neue Impulse. Erste Filme in Tamazight wurden produziert und erkämpften sich das Wort, das der berberischen Bevölkerung durch die Arabisierungspolitik Algeriens lange verwehrt gewesen war. Dazu zählen Machaho (Belkacem Hadjadj, 1995), der eine kritische Analyse traditioneller Strukturen anstellte, die Literaturadaption La Colline oubliée (Abderrahmane Bouguermouh, 1997) sowie der erste Spielfilm des Dokumentarfilmers Azzedine Meddour, La Montagne de Baya (1997), der die Legende einer kabylischen Widerständlerin des 19. Jhs. aufgreift. Die Filme sind im Kontext der politischen Bewegung für die Anerkennung der berberischen Identität und Sprache zu sehen, die durch die politische Öffnung 1989 an Kraft gewann. Durch das Auftreten dieses cinéma amazigh diversifzierte sich das algerische Kino in kultureller Hinsicht sowie mit Blick auf die filmische Verhandlung der nationalen Geschichte. Die Entstehung dieser Filme gerade in Zeiten des Terrorismus zeigt, dass engagierte Cineasten trotz aller Schwierigkeiten neue Positionen hervorbringen und sich der Stagnation des Landes sowie der Gewalt entgegenstellen. Das Kino entwickelt sich in dieser Krisenzeit zu einem Sprachrohr oppositioneller Stimmen. ← 88 | 89 →

3.5.2.    Ausblick auf das (franko-)algerische Kino

Die Talfahrt des algerischen Kinos bezüglich der Produktion und des desolaten Zustands seiner Infrastruktur hat sich bis heute nicht wesentlich gewendet. Zwar bestehen erste Anzeichen eines Wiederaufbaus – das Kulturministerium verkündet seit mehreren Jahren das Vorhaben, die Filmindustrie anzukurbeln, einige wenige Kinosäle wurden neu eröffnet, zudem entstehen allmählich wieder mehr Filme in Algerien. Ein tatsächlicher Aufschwung an Produktionen sowie der Aufbau nachhaltiger Strukturen zur Filmförderung, zu Distribution oder Gründung von Ausbildungsstätten bleiben jedoch abzuwarten.129 Die geringen Möglichkeiten sowie die Exilierung vieler Filmemacher im Zuge der 1990er Jahre erschweren eine Erholung des Filmsektors. Zum einen sind viele Cineasten überwiegend in Frankreich geblieben, zum anderen sind sie – unabhängig von ihrem Wohnsitz – aufgrund der häufig fehlenden Unterstützung von algerischer Seite darauf angewiesen, ihre Filmprojekte mit Hilfe ausländischer Fördermittel umzusetzen. Wenngleich diese Situation eines überwiegend ins Exil getriebenen Kinos nicht schön zu reden ist, lässt sich anstelle eines monierten „nicht-existenten“ algerischen Kinos eher von dessen Transformierung in eine andere Gestalt sprechen. Die Arbeiten algerischer Regisseure/innen innerhalb und außerhalb des Landes entstehen zunehmend in einem Zwischenraum. So gesehen hat das algerische Kino, politisch und wirtschaftlich bedingt, in den letzten Jahren erneut eine transnationale und weniger geographisch gebundene Existenz ausgeprägt und ist, wenn auch nicht freiwillig, in einer Phase angekommen, in der es sich immer schwieriger nur im nationalen Rahmen definieren lässt. ← 89 | 90 →

Armes spricht nicht nur in Bezug auf Algerien von einem „particular type of transnational cinema in the Maghreb“ (ebd.: 183), das abhängig vom finanziellen Engagement anderer Staaten, insbesondere Frankreichs, ist. Es stellt sich die oben angesprochene Frage, inwiefern die Filme franko-algerischer Cineasten hierbei vom französischen Kino einverleibt werden. Das Potenzial, das andererseits in einem derartig ‚entgrenzten‘ Kino liegt, ist die Möglichkeit einer oppositionellen filmischen Praxis gegenüber der politischen Front in Algerien sowie die der Verbreitung alternativer Diskurse in einer transnationalen Arena. In den Filmen machen sich Stimmen hörbar, die teilweise sowohl in Algerien als auch in Frankreich marginalisiert sind bzw. neue Positionen vermitteln, die jeweils die offiziellen nationalen Narrationen unterlaufen.

Zusammen mit der Transnationalisierung lässt sich auf weiteren Ebenen der Produktionsseite und der Inhalte eine Diversifizierung des algerischen Kinos beobachten. Seit Ende der 1990er Jahre ist ein Anstieg von Werken (franko-)algerischer Regisseurinnen zu bemerken, die vor allem in Frankreich, aber auch in Algerien arbeiten. Die Dokumentarfilmerin Yamina Benguigui (Memoires d’immigrés; Femmes d’Islam) brachte 2001 ihr Spielfilmdebüt Inch Allah Dimanche heraus, das die Beziehung zwischen Mann und Frau in der Immigrationssituation verfolgt. Rachida Krim drehte nach mehreren Kurzfilmen Sous les pieds des femmes (1997), der den Schmerz der Vergangenheit über die Erinnerungen einer in Frankreich lebenden ehemaligen Freiheitskämpferin thematisiert. Die Cutterin und Ehefrau von Mohammed Chouikh, Yamina Bachir-Chouikh, veröffentlichte 2001 ihren Film Rachida. Dieser macht den alltäglichen Terrorismus aus weiblicher Perspektive erfahrbar. Eine andere Verarbeitung dieses Themas präsentiert die Dokumentarfilmerin Yamina Sahraoui in ihrem Spielfilmdebüt Barakat! (2006), in dem sie der Gewalt starke Frauen und eine friedliche Seite Algeriens entgegensetzt. Auch die männlichen Cineasten blicken auf die gegenwärtige Gesellschaft und die Auswirkungen des Bürgerkriegs teils erneut mit dem Fokus auf weibliche Hauptfiguren, so z. B. Allouache mit L’Autre monde (2001) oder Nadir Moknèche, der gleich in mehreren Filmen – Le Harem de Mme Osmane (2001), Viva Laldjérie (2004), Délice Paloma (2007) – Frauen und andere Marginalisierte des aktuellen Algerien porträtiert.

Im Kontext der Reflexionen über den Bürgerkrieg sowie im transnationalen Rahmen wird die franko-algerische Geschichte aus verschiedenen Perspektiven neu aufgerollt. Erinnerungen an den Algerienkrieg treten insbesondere in franko-algerischen Produktionen (auch TV-Produktionen) in neuen Zusammenhängen auf. Einerseits findet die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte über die Verhandlung verdrängter Gedächtnisse und Aspekte des Kriegs statt, z. B. in Alain Tasmas ← 90 | 91 → Nuit Noire (2005) über die Massaker vom Oktober 1961 in Paris, in Tasmas Harkis (2006) oder Rachid Boucharebs Hors-la-loi (2010). Andererseits wird sie dabei auch zunehmend aus mehrfachen Perspektiven angegangen. Sie steht teilweise eng in Verbindung mit der Frage nach Identitätsproblematiken, die ebenfalls unter neuen Herangehensweisen gestellt wird, so z. B. in Tony Gatlifs Exils (2003), der transkulturelle Lebensentwürfe und Denkansätze besonders über seine formale Ebene vermittelt. Die Spannungen hybrider Identitäten sowie die Fremdheit franko-algerischer Protagonisten in einem oder beiden Ländern bleiben zentral und werden u. a. in Mahmoud Zemmouris Komödie Beur Blanc Rouge (2005) verhandelt.

Ein pessimistischer Blick auf das aktuelle Algerien wird in mehreren Filmen der 2000er Jahre spürbar. Die desillusionierende Rückkehr eines Emigranten nach Algerien in Bled number one (Rabah Ameur-Zaïmeche, 2006), das aussichtslose Verweilen in Algerien in Rome plutôt que vous (Tariq Teguia, 2006) sowie die gescheiterte Flucht aus Algerien in Harragas (Merzak Allouache, 2009) und Harragas Blues (Moussa Haddad, 2012) sind nur einige Beispiele, die die Frustrationen über die Perspektivlosigkeit in einem zerrütteten Land spiegeln. Hoffnungsvoller blicken Filme wie La Maison jaune (Amor Hakkar, 2008) oder die Komödie Masquerades (Lyes Salem, 2008) auf den Lebensalltag in Algerien. Lyes Salems jüngster Film L’Oranais (2014) wagt wiederum einen kritischen Blick auf die Geschichte und Entwicklung Algeriens. Er entlarvt, wie Lügen und Verdrängungen den Aufbau des Landes und des politischen Machtapparates nach der Unabhängigkeit begleiten, und hinterfragt so den Umgang mit den nationalen Heldenmythen.

Die Perspektiven auf Gegenwart und Geschichte ebenso wie die dabei verhandelten Identitätsentwürfe diversifizieren sich insgesamt, wobei die thematischen Tendenzen sich weiterhin viel um die Probleme der (post)terroristischen Ära und des aktuellen Algeriens sowie um den Algerienkrieg zentrieren. Die Entwicklung der strukturellen Bedingungen und äußeren Rahmen des Kinos – vom antikolonialen Kino über die Verstaatlichung bis hin zu einem Kino, das Grenzen überschreitet und selbst in Existenznot ist – schlägt sich in den Orientierungen der Filme nieder, die zunehmend plurale Konzeptionen transportieren und nationale Konstrukte inhaltlich-ästhetisch unterlaufen. ← 91 | 92 → ← 92 | 93 →


90     Bis zur Unabhängigkeit der maghrebinischen Staaten gab es nur einen autochthonen Pionierfilmemacher, den Tunesier Albert Sammama Chikly, der Filme wie Zohra (1922) und Aïn el Ghezal / La fille de Catharge (1924) drehte (vgl. Armes 2005: 6).

91     Vgl. hierzu Armes / Malkmus 1991: 5 und Megherbi 1985: 13 f. Die Angaben zu den Kinos fallen laut Megherbi oft unterschiedlich aus, da teilweise nur die 35-mm-Kinos angegeben werden, teilweise aber auch 35-mm- und 16-mm-Kinos gemischt oder auch mobile ciné-bus mitgerechnet werden.

92     Pierre Boulanger zählt 210 Langspielfilme, die in der Zeit zwischen 1911 und 1962 im Maghreb gedreht wurden (vgl. Boulanger 1975: 5).

93     „Il va reprendre tous les thèmes déjà développés et institutionnalisés par la peinture (tels que la mauresque, le harem, la violence de ‘l’indigène’, son repli sur la religion, sa décadence culturelle, son infériorité, etc.), mais en les incorporant dans un univers de vraisemblance construite“ (Benali 1998: 31).

94     Die Casbah wurde für den Film von Jacques Kraus im Joinville Studio in Paris nachgebildet (vgl. Armes 2006: 23), was den Aspekt der Konstruiertheit nach französischen Vorstellungen nur verstärkt. Ähnliches gilt für den Film Atlantide (Jacques Feyder, 1927), der hauptsächlich in der Wüste spielt, zugleich aber einen großen Teil seiner Handlungen in einem Palast stattfinden sieht, der in einer Art Studio in der Nähe Algiers konstruiert wurde und laut Benali auch auf die Negation des realen Ortes verweist (vgl. Benali 1998: 33).

95     Die Figur Slimane wird z. B. als Araber stereotypisiert, aber nicht von einem Algerier gespielt. Lediglich ein autochthoner Name taucht in den Credits auf; es handelt sich um Mohamed Iguerbouchen, der dem ‚westlichen‘ Soundtrack ‚orientalische‘ Musik beifügte (vgl. Armes 2006: 24).

96     Armes und Malkmus nennen z. B. Le Bled (Renoir, 1929), Le Simoun (Gémier, 1933), Bourrasque (Billon, 1935).

97     Ägypten hatte seit den 1930er Jahren eine eigene florierende Filmindustrie, die Filme in arabischer Sprache produzierte und auch nach der Unabhängigkeit vieler Länder den arabischen Markt beherrschte.

98     1955 richtete die Kolonialregierung drei regionale Fernsehstationen ein; ein Studio und Labor, Africa Film, wurde Anfang der 1950er Jahre gegründet und zog dann nach Tunesien um (vgl. Salmane 1976: 19). Für einen detaillierten Blick auf französische Propagandafilme im Algerienkrieg siehe Sébastien Denis: Le cinéma et la guerre d’Algérie (2009).

99     Bereits für den Zeitraum zwischen 1958 und 1964 zählt Benjamin Stora ca. 40 Filme, die einen Bezug zum Algerienkrieg herstellten, darunter einige bedeutende Werke der Nouvelle Vague (vgl. Stora 2003).

100   Die Produktion vom Collectif Vérité-Liberté unter der Regie Jacques Panijels dokumentierte die Massaker vom 17. Oktober 1961 in Paris, bei der die französische Polizei unter Papon massiv gegen friedliche Demonstranten vorging (siehe auch IV.4.1.). Der Film wurde verboten und erhielt erst 1973, nach einem Hungerstreik René Vautiers, eine Abspielerlaubnis. Im Rahmen des Filmfestivals Maghreb des films 2011, das sich dem 50-jährigen Gedenktag an die Ereignisse widmete, wurde er erstmals im Kino vorgeführt.

101   Unter Vorwand des Kinderschutzes wurden Filme von Rozier, Resnais, Godard und Cavalier verboten (vgl. Stora 2008). Auch das Verbot von Pontecorvos La Bataille d’Alger (1966), der erst 1970 eine Lizenz erhielt und dessen Ausstrahlung dann von Gewaltangriffen radikaler Verfechter einer Algérie française begleitet wurde, ist bezeichnend für die Verdrängung des Konflikts von der Leinwand.

102   Branche nennt z. B. Filme wie Cléo de 5 à 7 (Agnès Varda, 1962), Adieu Philippine (Jacques Rozier, 1963) oder La Belle Vie (Robert Enrico, 1963).

103   Ein intradiegetischer Privatfilm, der Bilder über ein Soldatencamp zeigt, spielt sogar eine scheinbare Normalität des Soldatenalltags vor, präsentiert Soldaten beim Essen, Tanzen oder in freundlicher Begegnung mit Autochthonen und nur am Rande auch an der Waffe. Diese ‚Täuschung‘ ist beispielhaft für die Nicht-Visualisierung des Kriegs.

104   „[J]amais en effet le statut de combattant n’est reconnu aux fellaghas. L’ALN d’ailleurs n’est jamais nommé en tant que telle: elle n’existe pas“ (Branche 1997: 62).

105   Dass ein Film wie Avoir vingt ans dans les Aurès teils als französisch und teils als algerisch gilt, zeigt, wie sich eine eindeutige Trennung in französische und algerische Filme mitunter als schwierig erweist, sei es aufgrund der Biographie der Filmemacher oder der (politischen) Perspektive der Filme. Denn Vautier vertritt eine mit den Algeriern sympathisierende Position, auch wenn es sich bei diesem Beispiel um hauptsächlich französische Protagonisten handelt. Ähnlich wird Michel Drachs Film Élise ou la vraie vie (1972) als algerischer und auch als erster französischer Film gesehen, der aus Sicht der ‚Anderen‘ den Algerienkrieg, die Immigration sowie den Rassismus in Frankreich betrachtet (vgl. Branche 1997: 59).

106   Jean Pélégri gehörte zur sogenannten École d’Alger, einem lockeren Verbund von gleichgesinnten Links-Intellektuellen beider Bevölkerungsgruppen, die sich um den Verleger Edmont Charlot gruppierten und die Vorstellung eines gemeinsamen Algeriens (unter französischer Regierung) vertraten, angelehnt an die Idee einer Mittelmeerkultur, die besonders von Gabriel Audisio inspiriert wurde. Neben Audisio und Pélégri zählten dazu u. a. Albert Camus, Jean Grenier, Emmanuel Roblès, Jean Sénac, Jean Amrouche ebenso wie Mohamed Dib, Mouloud Feraoun und Kateb Yacine. Siehe zur École d’Alger Déjeux 1978 und Xuereb 2003.

107   René Vautier setzte sich schon früh mit der französischen Kolonisation Afrikas auseinander und war einer der engagiertesten antikolonialen Filmemacher. Er drehte bereits 1950 nach Abschluss seines Studiums am IDHEC in Paris einen kritischen Film zum französischen Kolonialismus, Afrique 50, der bis 1990 in Frankreich verboten war. Nach seinem die Unabhängigkeit unterstützenden Film Une nation, l’Algérie (1954) wurde Vautier vom französischen Staatsschutz verfolgt und nach den Dreharbeiten zu Algérie en flammes letztlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Bis Mai 1968 war Algérie en flammes in Frankreich verboten, wo er dann letztendlich an der Sorbonne gezeigt wurde (vgl. hierzu Spaas 2000: 134). Weitere Kurzfilme sind u. a. der Film über das Bombardement eines tunesischen Dorfes nahe der Grenze, Sakiet Sidi Youssef (Vautier, 1958) sowie J’ai huit ans (Olga Baïda-Poliakoff / Yann le Masson, 1961), der auf Kriegszeichnungen von Kindern basiert.

108   Vautier und Rachedi erstellten die Archivmontage Peuple en marche (1963) über Ereignisse vor und nach der Unabhängigkeit. Der Film blieb jedoch unveröffentlicht und wurde konfisziert, da er unter anderem die Rolle Ben Bellas zu Beginn der algerischen Republik erwähnte (vgl. Boudjedra 1971: 54).

109   Für eine detaillierte Darstellung der einzelnen institutionellen Funktionen siehe Megherbi 1985: 16 ff.

110   „Basically, every single Maghrebian film has to compete with thirty or forty imported films, virtually all of which will have had larger production budgets and have already recovered their costs elsewhere“ (Armes 2005: 7). Dieses Problem besteht weiterhin.

111   Das ONCIC beteiligte sich auch an bedeutenden internationalen Koproduktionen wie z. B. Costa-Gavras Z (1969), in den 1970er Jahren koproduzierte es mehrere Filme des großen ägyptischen Regisseurs Youcef Chahine.

112   Das ägyptische Arabisch hatte sich hingegen durch seine anfängliche mediale Monopolstellung mehr verbreiten können, so dass es auch in anderen arabischen Ländern verstanden wird. Neben den sprachlichen und thematischen Barrieren für eine größere Popularität algerischer Filme war die bürokratische Distributionspolitik für die ausbleibende internationale Verbreitung der Filme verantwortlich (vgl. Salmane 1976: 22 f.).

113   Filme über den Unabhängigkeitskampf bilden fast die Gesamtheit der algerischen Produktion zwischen 1963 und 1971; Hadj-Moussa zählt 14 von 17 Filmen insgesamt mit dieser Thematik (vgl. Hadj-Moussa 1994: 88).

114   Konzentriert sich die Arbeit auf algerische Selbstdarstellungen und Erzählungen der (Kolonial-)Geschichte, ist dabei auch von Interesse, wie sich diese vom Kolonialkino und dessen orientalistischen Repräsentationen absetzen. Die von Edward Said in Orientalism (1978) beschriebenen, dem europäischen Selbstbild dienlichen Konstruktionen des „Orients“ prägten die Kinokultur der Kolonialzeit und bildeten so auch einen Ausgangspunkt der Sehgewohnheiten für die Algerier, die Zugang zu Kinovorstellungen hatten.

115   Megherbi weist auf den hohen Stellenwert, den das Kino (bis zu seiner Talfahrt) in der Freizeitbeschäftigung der Algerier besitzt: „Et l’on sait qu’en Algérie les deux types essentiels de loisirs sont le football et le cinéma“ (Megherbi 1985: 22). Er beschreibt die Bedeutung des Kinos als Erlebnisraum, wobei er eine besonders aktive Teilnahme der Zuschauer beobachtet, die sich z. B. durch lautes Hineinrufen während der Vorführung und teils auch durch Randale ausdrückt (diese Situation reflektiert Allouaches Film Omar Gatlato anschaulich). Megherbi führt dies auf die gesellschaftlichen Umbrüche zurück und folgert: „De même qu’un individu appartenant à une société en pleine mutation ne va pas assister à un match de football uniquement en vue du spectacle, de même, il ne se rend pas au cinéma seulement pour regarder un film, si intéressant soit-il. Le spectacle est plus qu’un regard; c’est une rencontre multi-forme avec autrui, avec soi-même, avec un lieu familier“ (Megherbi 1985: 17).

116   Einflussreich war hier besonders das russische Revolutionskino der 1920er Jahre, für das beispielhaft Sergei Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925) und Oktober (1928) sowie Wsewolod Pudowkins Die Mutter (1927) stehen. Montagetechniken, didaktische Ansätze sowie eine Ästhetisierung der Bauerngemeinschaft hatten z. B. Einfluss auf die Filme Lakhdar Haminas. Im italienischen Neorealismo, der als antifaschistische Stilbewegung in den 1940er Jahren entstand – z. B. durch Luchino Viscontis Ossessione (1943) und Roberto Rosselinis Roma, città aperta (1945) vertreten – fanden die algerischen Regisseure ebenfalls Inspirationen in Hinblick auf dessen Anliegen, die Gegenwart und jüngste Vergangenheit aus Sicht der einfachen Leute zu verarbeiten. Die Darstellung des sozialen Elends sowie das Filmen an Originalschauplätzen und mit Laiendarstellern sind hier zentrale Merkmale.

117   Eine genauere Untersuchung der Referenzen bezüglich verschiedener Filmtraditionen oder Genres sowie der Verankerung in kulturellen Kontexten ist hier nicht die Absicht und wäre Stoff für eine weitere Arbeit.

118   Brahimi weist daraufhin, dass die politisch-soziale Kritik sowie die Situation der Frauen sich als wichtigste Themenbereiche der maghrebinischen Kinos entwickelt haben (vgl. Brahimi 2009).

119   Mocki erwähnt ein Manifest, das einige Filmemacher dem Informationsministerium vorlegten, um Veränderungen zu fordern (vgl. Mocki 1976: 41).

120   Teilweise wird in zwei Phasen unterteilt, Hadj-Moussa setzt z. B. ab 1976 eine neue Phase an, wobei sich die Zäsur aus Merzak Allouaches Film Omar Gatlato begründet. Da aber auch frühere Beispiele wie Tahia ya Didou (1971) ähnlich starke Innovationspotenziale aufweisen und sich vom politischen Diskurs abgrenzen, ist eine zeitliche Einteilung hier schwierig. Ein weiter gefasstes Verständnis des cinéma djidid (wie z. B. von Shafik vertreten) ist sinnvoll, wobei weniger exakte Periodisierungen und Definitionen von Bedeutung sind als vielmehr die Impulse, die unterschiedliche Grade an Innovationspotenzial aufweisen, das Kino jedoch auch über die 1970er Jahre hinaus diversifiziert haben.

121   Ähnlich bestätigt Armes die Konformität vieler Filme mit den politischen Linien der Regierung: „All the films outlined above fit comfortably with the dominant ideology of the period. But as Berrah observes, the real Algerian cinema ‘is composed of thematic and aesthetic exceptions’ “ (Armes 2005: 27). Armes nennt hier z. B. Filme wie Le Vent du Sud (Slim Riad, 1975), Les Nomades (Sid Ali Mazif, 1975), Les Pêcheurs (Ghaouti Bendedouche, 1976) oder El Moufid (Amar Laskri, 1978).

122   Hier ist z. B. auch der kollektiv produzierte Dokumentarfilm La Guerre de libération (1972) zu nennen, der zur 10-jährigen Unabhängigkeit eine nationale Sichtweise des Kriegs verbreiten sollte und eine zensierte und komplett veränderte Version von Farouk Beloufas Insurrectionnelle darstellt (vgl. Berrah 1997: 151 ff.).

123   Zuvor hatte er, wie viele algerische Filmemacher, beim Theater gearbeitet, Filme für das RTA gedreht und als Schauspieler in bedeutenden algerischen und franko-algerischen Filmen gespielt (Le Vent des Aurès, Les Hors-la-loi, Elise ou la vrai vie, Les Nomades).

124   Weitere Beispiele sind Regisseure wie Ali Ghalem, der nach seiner Filmarbeit in Frankreich zurück in Algerien seinen eigenen Roman adaptierte, Une femme pour mon fils (1982). Dieser macht die schwierige Beziehung zwischen Schwiegermutter und -tochter in einer arrangierten Ehe zu seinem Gegenstand. Eine ähnliche Thematik bearbeitet Le Mariage de Moussa (Tayeb Mefti, 1982), in dem ein junger Emigrant nach Algerien zurückkehrt und sich dort als Fremder fühlt (vgl. Armes 2005: 43).

125   Nach Little Senegal (2001) und seinem Film London River (2009), der sich mit den Terroranschlägen in London von 2005 auseinandersetzt, thematisieren seine aktuelleren Filme Indigènes (2006) und Hors-la-loi (2010) bis dahin meist verborgene Themen der franko-algerischen Geschichte und sorgten für reichlich Furore (siehe Kapitel IV).

126   Alexandre Arcadys rezente Adaptation von Yasmina Khadras gleichnamigen Roman Ce que le jour doit à la nuit (2012) macht wiederum die Trennung der Welten von colonisé und colonisateur trotz mehrseitig angelegter Aspekte deutlich. Der Film verfolgt die Entwicklungsgeschichte eines jungen Algeriers von den 1930er bis in die 1960er Jahre, der nach der Enteignung, Verarmung und dem Tod seiner Familienmitglieder in der Obhut seines mit einer pied-noire verheirateten Onkels aufwächst. Die verschiedenen Lebenswelten und zugleich nostalgische Kindheitserinnerungen im Kreise der pied-noir-Gemeinschaft werden durch die algerische Hauptfigur Younes, alias Jonas, erlebt.

127   Für eine aktuelle Bestandsaufnahme der Kinos in den großen Städten Algeriens siehe Louhal 2013.

128   Als Gesamtbilanz über die Produktion an algerischen Spielfilmen nennt der Filmhistoriker Jacques Choukroun neun Filme für die 1960er Jahre, 26 für die 1970er, 26 für die 1980er und sieben für die 1990er Jahre sowie drei Produktionen zwischen 2000 und 2004 (vgl. ebd.: 59). Die bedeutendsten Perioden des algerischen Kinos waren also zwischen den 1970er und 1990er Jahren.

129   Im Rahmen des Programms für Algier als arabische Kulturhauptstadt 2007 sind mehrere Filme unterstützt worden. Allerdings bleibt das Budget insgesamt sehr gering und ist die Vergabe von Geldern von der Zustimmung eines Komitees zur Annahme der Drehbücher abhängig. Der zaghafte Aufschwung in den letzten Jahren zeigt sich in dem Auftauchen einer neuen Generation von Regisseuren wie Tariq Teguia und Lyes Salem (vgl. hierzu Chikhaoui 2009: 86). Die möglichen politischen Maßnahmen zur Filmförderung lassen die Diskussionen der Cinephilen über Vor- und Nachteile staatlicher Unterstützung und eine dadurch eventuell größere Einflussnahme aufflammen.
Allouaches Film Normal! (2012) macht die Schwierigkeit der Meinungsäußerung und des Filmemachens in Algerien selbst zum Thema. Eine Gruppe junger Cineasten, die Filmmaterial über die Proteste von 2011 bearbeitet, stößt auf Grenzen der Zensur und die Frage danach, wie den Missständen – durch Kunst oder Revolten – zu begegnen ist.