V  Schlussbemerkungen

Filme, wie auch andere Medien, begleiten und reflektieren nicht nur in Algerien die gesellschaftlichen Prozesse und Konflikte. Das algerische Kino ist durch seine Entstehung in den Jahren der Dekolonisation und seine lange institutionelle Anbindung an den Staat von Beginn an eng mit politischen und sozialen Umbrüchen verbunden. Unabhängigkeitskrieg und nation building, die Arabisierungspolitik, der Bürgerkrieg sowie das damit für viele Intellektuelle und Kreative verbundene Exil prägen das algerische Filmschaffen. Die Identitätskonflikte in Folge der Kolonisation und postkoloniale Problematiken finden im Kino ihren besonderen Ausdruck.

Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen variieren nicht nur die filmischen Auseinandersetzungen mit Nation und Geschichte, sondern auch die Funktionen, Ausrichtungen und Organisationsstrukturen des Kinos. So wie jedes nationale Kino im Prinzip in sich divers ist, bringen die unterschiedlichen Ausgangspunkte und die besonders konfliktreichen kulturpolitischen und gesellschaftlichen Prozesse in Algerien verschiedene Kinos hervor, die sich durch ihre Entstehungskontexte, Botschaften und Ausdrucksweisen unterscheiden. Diese Vielfalt innerhalb des algerischen Kinos manifestiert sich weniger in bestimmten Strömungen als in unterscheidbaren Phasen, thematischen Schwerpunkten und Orientierungen. Bezüglich seiner Produktionsseite und Organisationsstruktur bewegt sich das Kino zwischen einem Staatskino und einem transnationalen (Exil-)Kino. Mit Blick auf (politische) Orientierungen lässt sich differenzieren in ein Kino als antikoloniales und nationales Instrument oder als ein Sprachrohr oppositioneller Stimmen innerhalb sowie außerhalb des Staates. Entsprechend finden sich ebenfalls Einteilungen in ein cinéma moudjahid, cinéma djidid, cinéma amazigh oder z. B. ein cinéma au féminin. Charakterisiert man das algerische Kino anhand der gesprochenen Sprache, fächert sich seine Vielfalt auf in ein arabisches, berberophones und frankophones sowie in ein mehrsprachiges Kino. Die inhaltlich-formalen Transformationen und Diversifizierungen im Laufe seiner über 50-jährigen Existenz werden an den differierenden Entwürfen von (nationaler) Geschichte und Identität deutlich. Die sichtbar werdende Spannung zwischen nationaler Konstruktion und heterogenen bzw. transnational-transkulturellen Konzeptionen hat die Arbeit versucht aufzuzeigen.

Wie angesichts seiner staatlichen Verankerung und antikolonialen Ausrichtung im Kontext des nation building zu erwarten ist, steht das frühe algerische Kino im Zeichen einer durchaus notwendigen, zugleich aber homogenisierenden ← 361 | 362 → Konstruktion der Nation. Der algerische Freiheitskampf und die Affirmation einer vereinheitlichenden nationalen Identität bilden in den 1960er Jahren den alleinigen Fluchtpunkt filmischer Äußerungen und verleihen dem Kino in dieser Zeit seine Charakterisierung als cinéma moudjahid. Noch bis in die 1970er Jahre hinein konzentriert sich die kinematographische Selbstrepräsentation der Algerier auf die Erzählung des Widerstands als nationalem Gründungsmythos. Geprägt von dem Bedürfnis, ein eigenes Bild der Algerier zu schaffen, das die kolonialistischen Repräsentationen überwindet, dient das Kino der Konsolidierung einer arabisch-islamisch definierten algerischen Identität und wird gleichfalls für die Legitimierung der FLN-Regierung instrumentalisiert. Die Filme revalorisieren die eigenen Traditionen, bezeugen das gemeinsame Leid sowie die Opferbringung der Algerier. Sie ehren die Märtyrer des Befreiungskampfes und demonstrieren die „Geburt“ der Nation aus einem geschlossenen Widerstand heraus. In umgekehrter Spiegelung zum Kolonialkino werden die Kolonisatoren hier überwiegend als Randfiguren in den Hintergrund gedrängt.

Die Filme dieser ersten Phase des algerischen Kinos charakterisieren sich u. a. durch wenig individualisierte Figuren, die das Kollektiv repräsentieren, sowie durch teleologisch auf die nationale Befreiung ausgerichtete Handlungsstrukturen, wobei die erreichte Unabhängigkeit weniger erzählt wird als der gemeinsame Weg dorthin. Zentrale Merkmale sind realistische Darstellungsweisen und dokumentarisierende Authentifizierungsstrategien. Zugleich werden heroische Widerstandsgeschichten und Mythen inszeniert, die weniger an Fakten orientiert sind als daran, symbolisch den Widerstandswillen der algerischen Nation zu illustrieren. Gemäß dem politischen Slogan un seul héro, le peuple stellen die Filme eine Hommage an die Helden des Volkes dar und definieren die algerische Nation über eine monolithische Konstruktion der Befreiungsgeschichte. Der außerfilmisch propagierte Einheitsdiskurs spiegelt sich hier durch Exklusionen von politisch nicht ‚kompatiblen‘ Figuren, Aspekten und gesellschaftlich Marginalisierten. Inneralgerische Konflikte, politische Oppositionen, die berberische Identität sowie andere Religionen als der Islam finden keinen Platz. Bleibt das Kino bis heute überwiegend eine Männerdomäne, stehen die Frauen vor allem in den frühen Erzählungen der nationalen Geschichte im Schatten der männlichen moudjahidin. Einige der hier untersuchten Filme (besonders vor der Verstaatlichung des Kinos, z. B. Une si jeune paix, La Bataille d’Alger, Le Vent des Aurès) weisen dennoch auch Ausnahmen und zum Teil kritische Reflexionsansätze auf, die hauptsächlich in Richtung von Antikriegsbotschaften gehen. Sie zeigen, dass die Inszenierungen und Herangehensweisen der Filme trotz der Einheitsthematik auch variieren und mitunter Ambivalenzen in sich tragen. Die nationale Identi ← 362 | 363 → tätsdefinition als arabisch-muslimisch bleibt dabei in dieser filmgeschichtlichen Phase aber unumstritten.

Erste deutliche Diversifizierungen und Transformationen des algerischen Kinos bringen die Filme des sogenannten cinéma djidid in den 1970er Jahren mit sich. In diesem ‚goldenen Zeitalter‘ des algerischen Kinos entstehen originelle Kultfilme wie Tahia ya Didou und Omar Gatlato, und insgesamt weist die Filmproduktion eine verhältnismäßig große Anzahl an experimentellen und komödiantischen Formen auf. Alltagsthematiken und die Auseinandersetzungen mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen lösen den Fokus auf den Unabhängigkeitskampf ab und bieten eine Alternative zu den dennoch weiterhin teils aufwendig produzierten Aktualisierungen der Kriegsthematik (z. B. Chronique des années de braise). Mit neuen Impulsen und kritischeren Perspektiven widmen sich die Filme des jungen cinéma djidid sozialen Belangen. Sie beschäftigen sich mit dem Leben einfacher Leute, der Stellung der Frau, der Industrialisierung und Arbeitslosigkeit sowie mit dem politischen Programm der Landreform (1971).

Die Einheit der Nation wird hierbei allmählich über inhaltliche und formale Aspekte hinterfragt. Differenzen innerhalb des nationalen Kollektivs werden über eine Hervorhebung sozialer Diskrepanzen sichtbar. Politisch beeinflusst von einer sozialistisch geprägten Ideologie und dem Kontext der Agrarreform, stellen viele Filme einfache Bauern und Großgrundbesitzer gegenüber. Elitäre Autoritäten und Kollaborateure im Algerienkrieg, aber auch Nutznießer und sich selbst bereichernde Bürokraten der Gegenwart werden angeprangert. Die Widersprüche der postkolonialen Gesellschaft zeigen sich anhand von Ambivalenzen und Konflikten zwischen Traditionen und Modernisierungsprozessen, die sich in den filmischen Gestaltungsweisen sowie in neuartigen Reflexionen über Geschlechterbeziehungen spiegeln (Le Charbonnier). Dabei sind die Filme insofern oft selbst ambivalent, als sie einerseits Neuerungen und Kritik ausdrücken, andererseits im Rahmen des Fortschrittsdiskurses eine politische Konformität aufweisen.

Das nationale Selbstbild wird in den meisten Werken der 1970er Jahre zwar noch nicht offen demontiert und existiert in den filmischen Vorstellungen eines sozialistischen Algeriens weiter, dennoch wird es durch das Hervortreten von Widersprüchen brüchig. Neben der Rolle der Frau wird z. B. der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft verhandelt. Das Konstrukt der nationalen Einheit bietet hier nicht mehr ausreichend Antworten für die Alltagsproblematiken und Identitätsfragen einer postkolonialen Gesellschaft, in der sich die Spannungen verschiedener konkurrierender Einflüsse und Lebensmodelle äußern.

Einige Filme befreien sich trotz des staatlichen Produktionsrahmens sehr deutlich von der nationalen Ideologie, begleitet von einer formalen Loslösung ← 363 | 364 → von kinematographischen Konventionen. Einen ‚revolutionären‘ Umbruch im algerischen Kino markieren Tahia ya Didou und Omar Gatlato, die eigensinnig und humorvoll auf Algier und dessen Bevölkerung blicken. Die Geschichte des Freiheitskampfes, die insgesamt im cinéma djidid in den Hintergrund rückt, wird in diesen Beispielen über die narrativen Strategien fragmentiert und teils sogar ironisiert. Lineare und teleologische Erzählweisen werden durch experimentelle Formen und subjektive Sichtweisen ersetzt. Die Filme konzentrieren sich auf Dynamiken der algerischen Lebensrealität und porträtieren eine heterogene Gesellschaft – ohne allerdings kulturelle Differenzen explizit zu thematisieren. Derartige Umbrüche zeigen aber, wie sich auch innerhalb des Staatskinos die Sichtweisen von Geschichte und Nation diversifizieren und sich oppositionelle Stimmen äußern, die mitunter auch Vorstellungen von Männlichkeit unterlaufen (Omar Gatlato).

Die männliche Ausrichtung des algerischen Kinos und insbesondere des cinéma moudjahid wird vor allem mit dem Aufkommen eines weiblichen Filmschaffens gebrochen, das mit Djebars La Nouba Ende der 1970er Jahre erstmals auf die Bühne tritt, sich von da an allerdings nur sporadisch und erst in jüngerer Zeit deutlicher entwickelt. Weibliche Akteure in Gegenwart und Geschichte erheben ihre Stimmen in La Nouba, und die Position der Frau wird über die formale Subversion von festgeschriebener Geschichte und Rollenmustern neu verhandelt. Die Dekonstruktion des nationalen Einheitsbildes verläuft also im Zusammenhang mit der kinematographischen Befragung von Geschlechterdiskursen.

Das kritische Potenzial der Filme im Staatskino ist zunächst oft unterschwellig und drückt sich über die Strukturen und Erzählstrategien aus. Seit den 1980er Jahren treten aber auch, besonders in Koproduktionen, tabuisierte Themen hervor, wie z. B. der interne Kampf zwischen FLN und MNA während des Algerienkriegs (Les Sacrifiés). Die Thematisierung derartiger verdrängter Aspekte trägt ebenso zur Entmystifizierung der nationalen Einheits- und Kriegsheldengeschichten bei wie konterkarierende, humoristische Verfahren (Les folles années du twist) und neue Auseinandersetzungen mit der Beziehung zwischen Algeriern und Franzosen, die die Reflexionen über die franko-algerische Geschichte vielseitiger erscheinen lassen.

Bedingt durch die gescheiterte Umstrukturierung der Filmwirtschaft und die Auswirkungen des Bürgerkriegs erfährt das Kino in Algerien ab Mitte der 1990er Jahre einen erheblichen Rückschlag, von dem es sich bis heute nicht ganz erholt hat. Angesichts der Exilierung vieler Filmemacher unter dem Druck des Terrorismus findet das algerische Filmschaffen seit den 1990er Jahren zunehmend außerhalb Algeriens statt. Ein Großteil der filmischen Kreativität geht in jünge ← 364 | 365 → rer Zeit von Frankreich aus. Auch in Algerien entstehen jedoch noch während des Bürgerkriegs und vermehrt wieder seit einigen Jahren Filme, die dem Kino gemeinsam mit den transnationalen Produktionen neue Impulse geben und die Perspektiven auf Identität und Geschichte diversifizieren.

In Anbetracht des islamistischen Fundamentalismus und des staatlichen Mitverschuldens an der gesellschaftlichen Krise machen die Filme engagierter Cineasten das Kino erneut zu einem Widerstandskino, das sich hier nun nicht mehr gegen die Kolonialmacht, sondern gegen die inneralgerische Politik und Gewalt richtet. Die algerischen und franko-algerischen Filme, die um den Bürgerkrieg herum entstehen, repräsentieren auf verschiedene Weise einen Protest gegenüber dem staatlich auferlegten und von den Islamisten für ihre Zwecke instrumentalisierten Homogenitätsdiskurs. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Radikalisierung junger Algerier ziehen die Filme eine ernüchternde Bilanz der jahrzehntelangen Einheitsregierung und zeichnen das Bild einer zerrissenen Gesellschaft, die sich vor Desillusionierungen und erneuten Identitätsfragen sieht. Dabei stellen viele Werke Neureflexionen über die nationale Geschichte an. Sie dekonstruieren die nationalen Mythen durch das Aufzeigen nicht eingelöster Freiheitsideale der „algerischen Revolution“ und die Parallelen zwischen der kolonialen und der aktuellen Unterdrückung durch Islamismus und staatliche Gewalt (Youcef). Heterogene Dimensionen der Gesellschaft sowie Freiheitsbotschaften werden den homogenisierenden Definitionen der algerischen Identität und dem Erbe einer culture de guerre entgegengestellt (Bab el-oued city).

Widerstand drückt sich zudem über Identitätsforderungen und die Erhebung unterdrückter Stimmen aus, die das Kino zu einem Sprachrohr der Marginalisierten machen. Insbesondere die Filme von und mit Fokus auf die Frauen ebenso wie die ersten Werke in kabylischer Sprache stehen für oppositionelle Positionen und die Vielfalt innerhalb des angeschlagenen algerischen Kinos. Das mitten im Bürgerkrieg auftretende cinéma amazigh (La Montagne de Baya, Machaho, La Colline oubliée) stellt die von der Politik ausschließlich als arabisch definierte Nation in Frage, indem es für die berberische Komponente Algeriens eintritt. Insgesamt destabilisieren die wenigen Filme Ende der 1990er Jahre die offizielle Identitätskonstruktion und Narration des Unabhängigkeitskampfes und leisten einen symbolischen Widerstand gegen die zeitgenössische Gewalt.

Ein Protest gegen die islamistische Identitätsauslegung und die Unterdrückung von Frauen geht vor allem von den Filmen weiblicher Cineasten aus, die seit den 2000er Jahren für eine größere Präsenz eines – wenn auch quantitativ vergleichsweise geringen – „weiblichen“ algerischen und franko-algerischen Kinos sorgen. Die Werke verarbeiten einerseits die Erfahrungen des Terrorismus aus der Per ← 365 | 366 → spektive der Frauen und machen den guerre invisible nach langer medialer und filmischer Ausblendung sichtbar. Sie positionieren zugleich die Frau in Geschichte und Gegenwart neu, indem sie deren Beitrag zur nationalen Befreiung thematisieren und traditionelle Rollenmuster anhand divers inszenierter Frauenbilder und subtiler Gestaltungselemente aufbrechen, die die Selbstbehauptung der Frauen stützen (Rachida, Barakat!). Auch die männlichen Regisseure tragen vermehrt zu einem neuen Frauenbild bei. Deutliche Provokationen zeigen sich in transnationalen Produktionen wie den Filmen Nadir Moknèches, der mit seinen Bildern Algeriens Konventionen und Stereotype konterkariert und auch tabuisierte Fragen der Sexualität und Homosexualität aufgreift (Viva Laldjérie). Nach einer langen Abwesenheit als Schauplatz im Zuge des Bürgerkriegs kehrt Algerien mit diesen Werken so filmisch als Handlungsort auf die Bildfläche zurück. Dabei wird es auf sehr unterschiedliche Weise inszeniert. Das postterroristische Kino verarbeitet die gesellschaftlichen Traumata und entwirft desillusionierende, pessimistische Eindrücke Algeriens, in dem sich insbesondere die Jugend einer Perspektivlosigkeit gegenüber sieht (Rome plutôt que vous, Viva Laldjérie). Mehrere Filme verfolgen die gescheiterte Rückkehr nach Algerien oder gescheiterte Fluchtversuche nach Europa. Andererseits zeigen sich teilweise zugleich Hoffnungen; Algerien und algerische Identitäten werden insgesamt heterogener und mit der Betonung auf Widersprüchen entworfen.

Neben den Identitätsforderungen von Marginalisierten sowie den Verhandlungen der nationalen Krise des Bürgerkriegs wird die Konzeption einer homogenen nationalen Identität besonders durch Filme im Migrationskontext demontiert, die die Spannungen von Exilerfahrungen und Lebensentwürfen zwischen Frankreich und Algerien reflektieren. Dieses transnationale Kino stellt identitäre Ambivalenzen, Brüche und Hybridität in den Vordergrund und zeigt besonders deutlich, dass die postkoloniale Realität nicht auf abgegrenzte und fixierte nationale Identitätszuweisungen zu reduzieren ist. Anhand verschiedener Facetten der Gesellschaften in Frankreich und Algerien hinterfragen die Filme die politisch jeweils einheitlich entworfenen Nationen und Mehrheitsgesellschaften. Die Nation bleibt zwar eine zentrale Referenzgröße, wird aber durch das Aufzeigen ihrer inneren Pluralität sowie durch mehrfache kulturelle Verortungen von Individuen fragmentiert und in ihrer Konstruiertheit vorgeführt. Die Identitätssuche sowie die Konflikte im franko-algerischen Kontext sind von doppelter Ablehnung (Fremdheit) und / oder Zugehörigkeit geprägt. Innerhalb des Filmkorpus lässt sich beobachten, wie sich die Konzeptionen von Identität verändern, indem die Filme über ihre Aussagen und ästhetischen Gestaltungsweisen die Instabilität und Prozesshaftigkeit identitärer Konstruktionen demaskieren. Dies geschieht durch ← 366 | 367 → ambivalente Figurenentwürfe, betont fiktionalisierende Elemente, mehrdeutige Bilder, musikalische Elemente sowie z. B. durch komödiantische Formen oder Varianten des road movie, die Dynamik und Beweglichkeit filmisch nachzeichnen (Salut Cousin!, Beur Blanc Rouge, Exils).

Die Konflikte der heterogenen Identitätsentwürfe finden ihre Parallele in der Pluralisierung und Fragmentierung von Geschichte sowie den filmisch reflektierten Erinnerungsdebatten, bei denen sich verschiedene Positionen zwischen Frankreich und Algerien sowie innerhalb der Nationen gegenüberstehen. Die seit Ende der 1990er Jahre zunehmende öffentliche Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit in beiden Ländern spiegelt sich in einer vermehrten Rückkehr dieser Thematik ins franko-algerische Kino der letzten Jahrzehnte. Die gemeinsame Geschichte wird dort aus verschiedenen Perspektiven entworfen und fragmentiert. Zum einen vertreten die Filme marginale Gedächtnisse und partikulare Geschichten diskriminierter Gruppen (Harkis), zum anderen verhandeln sie verdrängte Aspekte – von den Massakern im Mai 1945 in Algerien sowie im Oktober 1961 in Paris, bis hin zu Konflikten innerhalb der algerischen Freiheitsbewegung. Insgesamt wird die franko-algerische Geschichte zunehmend transnational und multiperspektivisch inszeniert, so dass häufig mehrere konfligierende Positionen innerhalb eines Films auftreten (Nuit Noire, Hors-la-loi).

Es bleibt dennoch schwierig, deutlich gegensätzliche Positionen in einem Werk zu vereinen, gerade wenn es sich um Stimmen historischer Akteure handelt, die in der jeweils dominanten nationalen kollektiven Erinnerung auf Ablehnung stoßen. Dies zeigt sich z. B. an der Abwehr und dem teilweisen Verbot von Jean-Pierre Lledos Dokumentarfilmen in Algerien. Die Proteste und Debatten in Frankreich und Algerien um bestimmte Erinnerungen an den Algerienkrieg zeugen davon, wie das Medium Film erneut zum Politikum wird und auch mitunter politische Handlungen nach sich zieht (Hors-la-loi, Indigènes).

Während sich die filmische Dekonstruktion nationaler Einheitsgeschichten einerseits durch mehrfache Perspektiven, Tabuthemen und Gegengeschichten im Gesamtkorpus beobachten lässt, tragen hierzu ebenso gestalterische Mittel bei, die Mehrdeutigkeit, Fragmentation, Unabgeschlossenheit, Subjektivität oder Marginalität ausdrücken und Geschichte in postkolonialer Denkweise als konstruiert, unsicher und entangled konzipieren. Filme wie Exils, die Identität und Geschichte in exemplarischer Weise als plural und instabil entwerfen und nur noch undeutliche Erinnerungsfetzen und mehrdeutige Bilder evozieren, stehen für ein transnational-transkulturelles Kino, das sich von ganzheitlichen Strukturen und Konzepten verabschiedet hat. Gleichzeitig werden nationale Heldenmythen in einigen Filmen durchaus wiederbelebt (Hors-la-loi). ← 367 | 368 →

Wenn also auch nicht als lineare Entwicklung zu verstehen, lässt sich am untersuchten Korpus insgesamt eine Tendenz zunehmend transnationaler und pluraler Sichtweisen beobachten. Das Aufeinandertreffen verschiedener Geschichten, Perspektiven und Identitätsverortungen zwischen und innerhalb Algeriens und Frankreichs zeigt, dass entsprechend postkolonialer Denkweisen homogenisierende Ansätze auch im Kino überholt werden. Die Dekonstruktion des nationalen Einheitsbildes vollzieht sich durch verschiedene individuelle, gruppenspezifische und subjektive Stimmen innerhalb des Korpus auf der Makroebene sowie innerhalb der Filme auf der Mikroebene. Zwar bleibt das transnationale franko-algerische Filmschaffen finanziell von Frankreich und anderen Geldgebern abhängig. Es ermöglicht aber auch einen größeren Raum für deutlichere Oppositionen und Tabubrüche mit Blick auf algerische Konventionen und politische Diskurse. Somit gestattet es einen Ausbruch aus monolithischen Konstruktionen, der sich innerhalb Algeriens durch die autoritäre Politik und Kontrollorgane weiterhin schwierig gestaltet, obwohl auch die dort entstehenden Filme Widerstand und Kritik ausdrücken. Im Sinne des theoretisch postulierten process of becoming (Hall) repräsentiert das algerische Kino selbst in seinen andauernden und sich verändernden Auseinandersetzungen mit (nationaler) Identität und Geschichte diesen Prozess des Werdens und der ständigen Suche. ← 368 | 369 →