Kevin und ich ließen die Horden vorstürmen. Wir hatten beide keine Lust, uns an dem Gedrängel zu beteiligen. Als wir in den zweiten Stock kamen, waren schon endlose Diskussionen zu hören, wer mit wem unbedingt in ein Zimmer wollte – und mit wem nie im Leben.
»Ein Gutes hat die Regel«, sagte Kevin. »Mit Lucas landen wir auf keinen Fall in einem Zimmer.«
»Stimmt. Aber die beiden Gymmis, die mit ihm auf die Bude müssen, sind zu bemitleiden.«
Als wir den Flur entlanggingen, linsten wir in die Räume. Einen davon hatte Lucas mit seinen drei Kumpels Dennis, Marcel und Jan in Beschlag genommen, und die vier schienen davon auszugehen, dass sie darin bleiben durften, denn sie hatten sich schon häuslich eingerichtet. Ich bezweifelte kaum, dass sie damit durchkamen, schließlich war es Passlewski gewesen, der die Regel aufgestellt hatte. Wenn einer ihn dazu bringen konnte, sie zu brechen, dann Lucas. Vielleicht war es auch besser so . . . zumindest für die Gymmis.
Am Ende des Flurs war in dem Zimmer auf der linken Seite noch Platz, und zwei Gymnasiasten waren schon drin. Kevin und ich schauten uns kurz an und er zuckte mit den Schultern. Wir kannten sowieso niemanden der anderen näher.
Die beiden Typen sahen sich irgendwie ähnlich. Beide trugen randlose Brillen, hatten kurze, schwarze Haare und waren dünn, fast schmächtig. »Seid ihr Brüder?«, fragte Kevin. Der Gedanke war mir auch gekommen.
Einer der beiden war gerade dabei, seine Kleider in den Schrank zu räumen, und warf uns nur einen Seitenblick zu. Der andere grinste schief und kam zu uns. »Nee, hören wir öfter. Ich bin Olaf, das ist Noel.« Er streckte mir die Hand hin und ich starrte sie verdutzt an. Schließlich ergriff ich sie. Meine Güte, war der förmlich . . .
Als er auch Kevin die Hand schüttelte, sagte Olaf: »Und bevor du fragst: Wir sind auch nicht schwul.«
Ich sah, dass Kevin ertappt rot anlief. »Ich hab nicht . . .«, begann er schwach, aber Olaf winkte ab.
»Ist doch egal. Wir würden dann die beiden Betten nehmen.« Er deutete zu den Betten an der linken Wand.
»Klar«, meinte ich und zuckte mit den Schultern. »Ein Glück, dass es keine Etagenbetten sind. Die hasse ich wie die Pest.«
Wir legten die Taschen auf die Betten und begannen, unsere Sachen in die Schränke zu räumen. Kevin und Olaf waren ins Gespräch gekommen. Noel hatte schon fertig ausgepackt und holte ein Notebook mit riesigem Display aus seinem Rucksack – mindestens 17 Zoll. Er setzte sich damit an den Tisch und klappte es auf. »Wow«, entfuhr mir. »Mit einem Nintendo gibst du dich nicht zufrieden, oder?«
Noel schaute mich verständnislos an.
Ich deutete auf das Gerät. »Zocken, oder?«
Er schnaufte abfällig. »Ich muss was für Kunden machen. Kann ich ja nicht eine Woche liegen lassen . . .«
Kevin hatte das Notebook bemerkt und kam zu uns. Wahrscheinlich konnte er auswendig sagen, welche Ausstattung dieses Modell hatte. »Was denn für Kunden?«, fragte er.
Noel schaltete den Computer ein und die Festplatte summte. »Ich mache nebenher Webdesign für ein paar Firmen. Die erwarten natürlich, dass alles gleich online geht, was sie mir schicken.«
»Nicht schlecht«, meinte ich und war ehrlich beeindruckt.
Noel schob eine flache Karte in den Slot an der Seite und eine Diode daran leuchtete rot auf. »Verdammt«, murmelte Noel. »Absolut keine Verbindung. Überall sonst hab ich UMTS, aber hier nicht mal GPRS . . .«
»Dann kannst du hier gar nichts machen, oder?«, fragte ich.
Noel rieb sich übers Kinn und starrte auf den Bildschirm. »Na ja, arbeiten kann ich hier . . . den Upload muss ich machen, wenn wir irgendwo im Empfangsgebiet sind. Muss halt das Notebook mitschleppen.«
»Das würde ich sowieso nicht einfach hier liegen lassen. War sicher teuer. Und unser guter Freund Lucas ist nicht weit weg . . .«
»Klar . . .«, meinte Noel, schien aber mit den Gedanken woanders zu sein.
Wir packten unsere Sachen fertig aus, dann erschien Frau Herzig in unserem Zimmer. Sie wollte sich vergewissern, dass hier eine Gruppe zusammengefunden hatte, wie es gewünscht war. Dabei bemerkte sie das Notebook. »Noel, spinnst du?«, fragte sie.
»Ich hab Arbeit«, sagte er.
»Nicht jetzt, nicht hier. Weg damit. Wir fahren los.«
»Wohin?«, fragte ich.
»Ausflug«, erklärte sie knapp und ging wieder raus. »Wir treffen uns unten in fünf Minuten«, rief sie den Flur entlang. »Zieht eure Wandersachen an!«
»Wandersachen«, wiederholte Kevin. »Oh, Mann . . .«
Als wir uns kurz darauf wieder unten versammelten, saß Lucas mit seinen Kumpels Dennis, Marcel und Jan schon ganz hinten im Gemeinschaftsraum, hatte die Füße auf den Tisch vor sich gelegt und drückte auf seinem Handy herum.
Hatte er ein neues Modell? Ich konnte mich nicht erinnern, das schon mal bei ihm gesehen zu haben . . .
Eine der Gymnasiastinnen stürmte in den Raum. Sie wirkte fahrig und redete aufgeregt mit ein paar Mädchen. Mir fiel ihr Name ein – das war Iris. Im Wettbewerb um die meisten Piercings an unserer Schule lag sie mindestens in den Top Ten. Sie trug nur schwarze Klamotten und fett Make-up. Wollte wohl einen auf Gothic machen, aber auf mich wirkte es ziemlich aufgesetzt – zumal sie in den Pausen diese schwülstigen Vampir-Romane las . . .
Was auch immer sie wollte, die anderen konnten nur den Kopf schütteln. Sie schaute in die Runde. »Hat jemand mein Handy gesehen? Ist ein ganz neues, hab gerade erst den Vertrag verlängert . . .«
»Hey, kennt einer von euch so eine Sex-Nummer?«, rief Lucas, ohne von dem Handy aufzublicken.
»Irgendwas mit null-neunhundert am Anfang, glaub ich«, sagte Dennis.
»Kennst dich damit ja aus, was?«, feixte Jan.
Iris fielen fast die Augen aus dem Kopf. Sie deutete zu Lucas. »Das ist doch meins!«
Lucas ließ das Handy lässig in seine Hosentasche gleiten. »Was willst du?«
»Zeig mal das Handy«, forderte Iris.
»Geht dich einen Scheißdreck an.«
»Du hast es geklaut!«
»Hey, darf ich vielleicht kein Handy haben?«
»Du hast es geklaut!«, wiederholte Iris. »Zeig's mir. Meins hat einen Vampir auf der Rückseite.«
Lucas verschränkte die Arme, grinste sie an. Hilflos schaute Iris sich um. Aber sie wusste, dass niemand von uns Lucas zwingen würde, es zu zeigen.
Frau Herzig kam in den Raum und wurde sofort von Iris bestürmt. Ich bemerkte, dass Lucas das Handy unterdessen zu Dennis rübergeschoben hatte.
Frau Herzig verlangte von Lucas, das Handy vorzuzeigen.
»Aber ich hab doch gar keins«, antwortete er mit Unschuldsmiene.
»Du hattest es eben noch in der Hand! Und dann eingesteckt!« Iris deutete auf seine Jeans.
Lucas stand auf, breitete die Arme aus. »Willst du mich abtasten?«, fragte er und legte extra viel Schleim in seine Stimme.
Iris wusste nicht, was sie sagen sollte, und wandte sich ab. Auch Frau Herzig war machtlos.
Lucas setzte sich grinsend hin. Und mit routinierten Griffen wanderte das Handy wieder in seine Hand und in seine Hosentasche.
Ganz kurz sah ich auf der Rückseite einen Reißzahn aufblitzen.