Der Bus steuerte wieder den Kirchplatz an, und wir versammelten uns beim Brunnen, während der Busfahrer einen Parkplatz suchte. Die Hitze war noch intensiver geworden, fast unerträglich. Die Bewohner von Waldkappel schienen geflohen zu sein. Kaum ein Fußgänger war zu sehen und nur selten fuhr ein Auto die Straße entlang.
Frau Herzig ließ den Blick schweifen, als würde sie hoffen, Lucas hier schon zu finden. »Ich werde zur Stadtverwaltung gehen und fragen, ob die vielleicht etwas wissen. Und ihr verteilt euch – schaut euch überall um. Haltet vor allem nach den jungen Männern von gestern Abend Ausschau – vielleicht haben die ihn gesehen. Wir treffen uns dann wieder hier. Spätestens in einer Stunde.«
Während sie redete, konnte ich den Blick nicht von Passlewski abwenden. Zu sagen, dass er abwesend wirkte, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen. Frau Herzig zog ihn am Ärmel, war von seiner Teilnahmslosigkeit offenbar auch nicht gerade angetan, und die beiden gingen die Straße entlang.
Niemand schien sonderlich erpicht darauf zu sein, das ganze Dorf zu durchkämmen. Einige beschlossen, sich einfach im Schatten des Brunnens niederzulassen und den Ausgang der Geschichte abzuwarten, während eine größere Gruppe in Richtung Supermarkt aufbrach – wahrscheinlich, um das Lästige mit dem Nützlichen zu verbinden.
»Ich hab eine Idee«, sagte Tina zu mir. »Wenn Lucas gestern Abend hier ins Dorf gekommen ist, war er wahrscheinlich . . .«
». . . an der Tankstelle«, vollendete ich den Satz.
Wir waren die Einzigen, die rauf zur Tankstelle gingen. Es war kein Auto an den Zapfsäulen, und von draußen konnten wir sehen, dass auch in dem kleinen Laden kein Kunde war. Hinter der Theke stand ein Typ und blätterte mit gelangweiltem Gesichtsausdruck durch ein Magazin.
Als wir reinkamen, schaute er kurz auf, las dann weiter – und hob sofort wieder den Kopf. Ich erkannte ihn auch wieder. Es war der Typ, der mit Tobias, dem Blonden, in dem roten Auto gesessen hatte. Auch im Schwimmbad bei Lucas' großem Auftritt war er dabei gewesen.
Er klappte die Zeitung zu, richtete sich auf und schaute uns abschätzig an.
Tina ließ sich von seiner Geste nicht beeindrucken, hielt zielstrebig auf den Tresen zu. »Moin. Aus unserer Klasse ist jemand verschwunden«, sagte sie geradeheraus. »Lucas. Der Typ, der immer Ärger macht.«
»Lucas . . .«, wiederholte der junge Mann. »Und?«
»Hast du ihn gesehen?«, fragte ich.
»Der kann froh sein, dass er uns nicht noch mal begegnet ist. Hätte ziemlichen Ärger bekommen . . .«
»Er ist verschwunden, seit gestern Abend.«
»Vielleicht hat er sich im Wald verlaufen«, mutmaßte der Typ und zuckte desinteressiert mit den Schultern.
»Vielleicht«, sagte Tina. »Und das wollen wir rausfinden.«
Er sah uns abwechselnd an. »Kann euch nicht helfen.«
»Wir würden gern deine Freunde fragen, zum Beispiel . . . Tobias hieß er, glaube ich. Wo finden wir den?«
Seine Augen funkelten feindselig, als hätten wir ein unaussprechliches Geheimnis von ihm eingefordert.
»Wir wollen nur fragen, ob er ihn gesehen hat«, sagte Tina. »Ihr wart doch nicht gleich in der Heia, als es dunkel wurde, oder? Wahrscheinlich ist Lucas runter ins Dorf gekommen. Kann doch sein, dass einer von euch ihn gesehen hat. Unsere Lehrer reden schon davon, die Polizei zu rufen, und darauf sind wir nicht unbedingt scharf . . .«
Ich grinste in mich rein – Tina schaffte es, eine Drohung so unauffällig in vernünftig klingende Worte zu kleiden, dass der Typ gar nicht anders konnte, als uns etwas zu verraten.
»Ich hatte gestern die Spätschicht . . . hier war keiner. Und Tobias . . . der ist noch bei der Arbeit. In der Werkstatt.«
»Autos?«, fragte ich.
»Was denn sonst . . .«
Bevor ich irgendeine doofe Antwort stammeln konnte, fragte Tina: »Wo ist die?«
»Hinten, bei der Bundesstraße Richtung Heli.«
Hatten die hier einen Hubschrauber-Landeplatz? »Heli?«
»Hessisch-Lichtenau.«
»Ach so . . . okay. Danke.«
Wir gingen raus. Während wir uns von der Tankstelle entfernten, schaute ich noch mal zurück. »Er telefoniert . . .«
»War ja wohl klar. Immerhin scheint das Telefon mal wieder zu funktionieren . . . zumindest jetzt.«
Wir gingen die Hauptstraße runter Richtung Supermarkt und hielten uns dann links. Der Weg zu der Kfz-Werkstatt war ausgeschildert und bald standen wir vor dem Gebäude. Beide Rolltore waren offen. Nur ein Auto mit geöffneter Motorhaube stand da – jemand arbeitete daran, wie an dem metallischen Hämmern unschwer zu bemerken war. Tina und ich stellten uns ins Tor. »Hallo?«, rief ich.
Ein Kopf tauchte neben dem Kotflügel auf. Es war Tobias. Erst jetzt fiel mir auf, dass das rote Auto, an dem er arbeitete, sein eigenes war. Er wirkte nicht überrascht, uns zu sehen. Kein Wunder, offensichtlich war er vorgewarnt worden. Er kam um das Auto herum auf uns zu. Sein Blaumann war ölverschmiert und er hielt einen Hammer in der rechten Hand. »Ihr sucht das Arschloch«, stellte er fest.
»Hast du ihn noch mal gesehen?«, fragte ich.
»Nee. Wäre ihm auch nicht gut bekommen, wenn er mir noch mal in die Quere gekommen wäre.« Er hob den Hammer und ließ den Schlagbolzen locker in die andere Handfläche fallen. Großmaul, dachte ich.
»Vielleicht hat ihn einer deiner Kumpels noch getroffen? Gestern Abend irgendwann?«, fragte ich.
Er schüttelte nur den Kopf. »Haut ab, ja?«
Damit ließ er uns stehen.
Als wir zum Kirchplatz zurückkamen, wartete dort schon ein Polizeiauto. In der Stadtverwaltung hatten sie sich gleich mit der Polizei in Verbindung gesetzt – und die hatte sofort einen Streifenwagen geschickt.
Frau Herzig, die mit den beiden Polizisten – einer Frau und einem Mann – etwas abseits redete, strich sich immer wieder durchs Haar. Sie wirkte erschöpft. Passlewski stand neben ihr, mit verschränkten Armen.
Schließlich verabschiedeten sich die beiden Polizisten und fuhren davon. Passlewski und Frau Herzig schienen sich über etwas nicht einig werden zu können. Ich war neugierig, worüber sie stritten, und ging näher, bis ich in Hörweite war.
». . . einfach besser, wenn wir es lassen. Fahren wir alle hoch«, sagte Passlewski gerade.
»Es reicht doch, wenn einer von uns da oben ist. Die werden sonst noch alle verrückt, wenn sie nicht rauskommen.«
»Dann fahr du besser mit. Du hast sie wenigstens im Griff.«
Frau Herzig schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich nicht wohl. Weiß nicht, vielleicht hab ich mir eine Sommergrippe eingefangen. Ihr könnt wie geplant die Führung machen, dann noch ein oder zwei Stunden zur freien Verfügung . . . das würde allen guttun.«
Passlewski schien nach Gegenargumenten zu suchen, aber ihm fielen keine ein. Schließlich nickte er und ging los, um den Bus zu rufen. Frau Herzig kam zu uns.
»Wir haben eine Vermisstenanzeige aufgegeben«, erklärte sie. »Es wird jetzt nach Lucas gefahndet, aber . . . nun, er ist nicht zum ersten Mal ausgerissen. Wir können hier sowieso nichts weiter tun. Ich fühle mich nicht so gut und werde hierbleiben, falls Lucas doch noch auftaucht, aber ihr könnt alle nach Kassel fahren.«
Vereinzelte Jubelrufe waren zu hören. Aber die ganz große Begeisterung stellte sich nicht ein.
Während der knapp einstündigen Fahrt nach Kassel hing ich düsteren Gedanken nach. Vielleicht war es doch gut, dass die Polizei schon eingeschaltet war. Wenn Lucas wirklich abgehauen war, würden sie ihn früher oder später finden, und alles wäre geklärt. Dann würde auch dieser Verdacht verschwunden sein, dass ich Lucas was getan und sein Handy geklaut hätte – beziehungsweise das von Iris . . .
Tina musste wieder mal Janka seelischen Beistand leisten, die mit sich selbst nicht im Reinen war. Mitleid oder Verständnis hatte ich nicht für sie übrig.
Auf der anderen Seite des Mittelgangs saß Noel. Er sah aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gefallen – und zwar direkt in den Matsch. Seine Turnschuhe waren völlig verdreckt. Und irgendwas klebte an seinem T-Shirt. Bisher war er nicht so schlampig rumgelaufen. Hing ihm immer noch die Geschichte mit Annabelle nach? Langsam konnte er aber wirklich mal über die ganze Sache wegkommen.
Der Bus fuhr ins Stadtzentrum von Kassel. Über den Lautsprecher erklärte Passlewski, dass wir zur Besichtigung des Fridericianums angemeldet waren. Eine Pflichtveranstaltung, auf die sich niemand freute.
Beim Anblick der altertümlichen Museumsfassade und der Säulen am Eingang fürchtete ich schon, dass es im Inneren nicht gerade gut klimatisiert sein würde. Und so war es dann auch. Wir wurden von einer plappernden Angestellten durch eine riesige Ausstellung von zeitgenössischen lateinamerikanischen Künstlern geschleift. Nicht einmal Passi konnte Interesse dafür aufbringen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit waren wir erlöst. Passlewski verkündete, dass wir uns gegen zwei Uhr wieder vorm Fridericianum einfinden sollten.
Alle rannten zum Ausgang, und die heiße Sommerluft kam mir vor wie eine frische Brise an der See im Vergleich zu der Luft im Museum, die seit Jahrhunderten dort eingesperrt zu sein schien.
Ich war erstaunt, was für ein wohliges Gefühl das Gewusel auf der Straße, das Quietschen der Straßenbahn und das Quäken von Straßenmusikern bei mir auslöste. Dabei waren wir erst zwei Tage im Hohen Meißner gewesen.
Mir war nicht nach Einkaufstour.
Tina kam rüber. »Janka hat eine Alternative zum Herzschmerz gefunden«, meinte sie.
»Na, immerhin eine . . . gehst du nicht shoppen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Hab schon alles«, meinte sie trocken.
Wir holten uns ein Eis und setzten uns auf die Treppe vor dem Museum.
»Es glauben wirklich einige, dass du irgendwas mit Lucas gemacht hast.«
Ich schnaubte. »Was denn, ihn im Wald abgemurkst?«
»Hattest ja genug Ärger mit ihm.«
»Nicht nur ich. Guck dir Noel an. Der . . .« Ich erstarrte, als mir etwas einfiel.
Tina schaute zum Eis in meiner Hand. »Was ist los, festgefroren?«
»Hast du dir Noel mal angeschaut heute?«, fragte ich.
»Er hätte sich umziehen können, wenn du das meinst.«
»Überleg doch mal. Er war es, der das Handy gefunden hat. Zumindest hat er das behauptet. Vielleicht war es gar nicht in meinem Schrank. Und die Schuhe, total verdreckt. Er war im Wald, ganz klar, und gestern Abend, als Lucas verschwunden ist, hab ich ihn auch nicht mehr gesehen, der kann überall gewesen sein.« Es sprudelte regelrecht aus mir raus.
Tina schaute mich zweifelnd an. »Nicht Noel.«
»Ach, aber mir trauen das andere zu?«
»Ich nicht. Immer noch nicht.« Ihr Blick war ernst und ich musste unwillkürlich lächeln.
Mir fiel noch ein Detail ein. »Letzte Nacht . . .«
»Was war da?«, fragte Tina.
»Irgendwann ist Noel ins Zimmer gekommen. Ich bin nur kurz aufgewacht. Aber ich hab mitbekommen, dass er noch seine Klamotten anhatte. Er hat sich ausgezogen und dann ins Bett gelegt.«
»Um wie viel Uhr?«
»Keine Ahnung . . . war jedenfalls stockdunkel. Kann elf Uhr gewesen sein – oder auch fünf Uhr.«
»Aber Noel . . .« Tina schüttelte den Kopf. »Der nicht. Nie im Leben.«
Ich war mir da nicht so sicher.
Je länger ich darüber nachdachte, desto schlüssiger schien es mir zu sein.
Noel war stinksauer auf Lucas. Er war schon die ganze Zeit völlig ruhig gewesen, die Geschichte vorgestern hatte ihn total mitgenommen. Während der Grillfeier oder danach hatte er Lucas auflauern können. Vielleicht hatte er ihm nur eine Lektion erteilen wollen und war dabei völlig ausgeklinkt. Zumindest wirkte er total neben der Spur.
Sicher – Noel schien nicht der Typ zu sein, der ausrastet. Aber war das nicht mit allen Mördern so? Dass man über sie sagte, sie seien ganz ruhige Leute, immer höflich, meistens richtig intelligent?
Als wir in den Bus stiegen, setzte ich mich neben ihn. »Hey«, sagte ich.
Er warf mir nur einen überraschten Blick zu, nickte kurz und schaute wieder aus dem Fenster.
Aus dem Augenwinkel musterte ich ihn. An seinen Turnschuhen klebte Matsch, als wäre er durch tiefen Dreck gestampft. Und auch das weiße T-Shirt war schmutzig. Am rechten Unterarm war ein großer, dunkler Fleck.
War das . . .
Es konnte Blut sein.
Der Fleck war dunkel, fast schwarz, hatte aber einen rötlichen Schimmer. Ich konnte es nicht genau erkennen, und als Noel die Arme übereinanderlegte, konnte ich den Fleck nicht mehr sehen.
»Ich könnte schwören, dass heute Morgen kein Handy bei mir im Schrank gelegen hat.« Das war nicht mal gelogen – ich hatte mir schließlich frische Kleider rausgeholt.
»Es lag im Fach oben, hinter den T-Shirts.« Kurz schaute er mich an. »Ich wollte dir keinen Ärger machen . . . ich meine, ich war selbst völlig durcheinander, als ich es gefunden habe.«
»Kein Ding . . .«, erwiderte ich. Noel klang aufrichtig, und wenn das Handy wirklich oben hinter den T-Shirts gelegen hatte, dann hätte ich es heute Morgen auch nicht bemerken können. Aber er konnte mir hier das Blaue vom Himmel runterlügen . . .
»Ich hab jedenfalls keine Ahnung, wie es da reingekommen sein soll.«
»Vorhin . . . da fiel mir so ein, dass es vielleicht Lucas selbst so gedreht haben könnte«, sagte Noel. »Also, damit es aussieht, als hättest du . . . irgendwas mit ihm gemacht.«
»Ja, genau!«, entfuhr mir. Klar, das war auch mein erster, na ja zweiter Gedanke gewesen. Aber wollte Noel mich vielleicht nur auf eine falsche Fährte locken und von sich ablenken?
Er sah mich an. »Weißt du, was ich glaube? Der taucht wieder auf. Vielleicht hat er sich irgendwo besoffen und nüchtert aus. Wahrscheinlich ist er schon längst wieder oben im Landschulheim.« Noels Blick war offen und freundlich. Dann beugte er sich zu mir und seine Stimme wurde kalt. »Aber ich sag dir eins . . . wenn ihm wirklich was passiert ist . . . ich weine ihm keine Träne nach.«
Ich zuckte zusammen. Keine Ahnung, was ich glauben sollte. Aber eines musste ich noch wissen. »Sag mal, hab ich das geträumt oder bist du erst mitten in der Nacht ins Zimmer gekommen?«, fragte ich leichthin.
»Nee, stimmt schon. Ich hatte von allem die Schnauze voll und war noch trainieren.«
»Was trainieren?«
»Crosslauf. Ich bin Hessenmeister meiner Altersklasse.«
Das war mir neu.
»Im Dunkeln ist es aber verdammt schwer.« Er lachte kurz auf. »Bin über eine Wurzel gestolpert und hab mich auf die Fresse gelegt.« Er zeigte mir die blutige Stelle im T-Shirt. »Voll was aufgeschürft . . . zum Glück nichts verstaucht oder gebrochen. Kann's kaum erwarten, unter die Dusche zu kommen und mich umzuziehen, heute Morgen war ich zu spät dran.«
Ich nickte nachdenklich.
Entweder war Noel ein verdammt guter Lügner . . . oder er sagte einfach die Wahrheit.