Der Arzt war innerhalb von fünf Minuten da. Zum Glück hatte das Telefon in diesem Augenblick funktioniert. Wir hatten Frau Herzig zu viert in ihr Bett getragen. Sie glühte regelrecht, hatte hohes Fieber, bekam ein Antibiotikum und musste ins Bett.
Noel und ich drückten unsere Finger auf die Bögen, die die Polizistin uns hinhielt, danach würdigte er mich keines Blickes mehr.
Die Polizistin wandte sich an mich. »Die Kollegen aus Frankfurt haben mir gesagt, welche Vorwürfe Lucas gegen dich erhoben hat, aber dass das nur ein Manöver gewesen wäre, um von sich abzulenken.« Ihre Augen waren unergründlich, und ich konnte nicht sagen, ob sie das auch glaubte oder anders sah. Unverbindlich nickte ich. »Wir melden uns«, sagte sie noch, dann stieg sie mit ihrem Kollegen ein und fuhr weg.
Inzwischen war es Abend geworden. Einige Leute beschlossen, in Eigenregie das Essen aufzufahren. Sie kochten Nudeln. Die konnte ich nicht mehr sehen, und mir war auch sonst nicht nach Gesellschaft, also blieb ich draußen.
»Und, wie geht's?«, fragte jemand hinter mir.
Tina. Wir hatten seit Kassel kaum ein Wort wechseln können. Das allerdings war Gesellschaft, gegen die ich nichts hatte. Ich lächelte sie schwach an. »Geht so. Langsam bekomme ich einen Koller vor lauter Wald.«
»Geht mir ähnlich. Und wenn sogar ich mir langsam wieder ein Handynetz wünsche . . . das will schon was heißen.«
»Wieso, hast du auch einen Freund zu Hause, den du gern anrufen willst?«
»Nee«, sagte sie. »Noch nicht.« Und grinste mich an.
Das war ein Moment, wie ich ihn mir auf dieser Klassenfahrt gewünscht hatte. Ein Moment, in dem alles möglich war. Als würde ich von einem unsichtbaren Seil gezogen, beugte ich mich zu ihr.
Dann röhrte vom Waldweg her ein Motor.
Und damit war der Moment unwiederbringlich vorüber.
Es war nicht nur ein Motor – mehrere Autos kamen. Ihre Lichter tanzten zwischen den Baumstämmen.
»Ich fasse es nicht . . .«, murmelte Tina, als die Bässe aus den Autos immer lauter wurden. »Sind die total schmerzbefreit?«
Thomas und Co. fuhren diesmal gleich mit zehn Autos vor, parkten auch den silbernen Kleinwagen von Frau Reitz ein. Offenbar hatte sich rumgesprochen, dass sich hier oben gut feiern ließ. Dass uns vielleicht nicht danach war – auf den Gedanken kamen die Typen gar nicht.
Hinter Tina und mir wurde die Tür aufgerissen und jemand stürzte an uns vorbei die Treppe runter.
Es war Janka. »Tobias! Wie geil! Ihr seid hier!«, brüllte sie und stürmte auf den Blonden zu.
»Nicht mehr sehr depri«, meinte Tina.
Während es langsam dunkel wurde, dröhnte die Musik über das Gelände. Die Kofferräume der Autos waren voller Bierkästen, und weil kein Lehrer weit und breit war – Passi traute sich offenbar nicht mehr aus seinem Zimmer – kreisten die Flaschen und Pappbecher.
Anfangs kamen nur ein paar Leute aus dem Gebäude, aber dann hielt es kaum noch jemanden darin. Der Tag war schon schlecht genug gelaufen – wenn jetzt die Chance bestand, einen draufzumachen, sollte sie genutzt werden. Da waren sich offenbar alle einig. Vor zwei Tagen hatte noch eine Kluft zwischen den Gymmis und uns bestanden, aber die war verschwunden – vielleicht lag es daran, dass es für die Jungs vom Dorf keinen Unterschied machte, in welche Klasse wir gingen.
Tina und ich hatten keine Lust, uns ins Getümmel zu stürzen. Wir saßen weiter auf der Treppe und schauten dem Treiben zu.
Kevin hatte sich erst unter die Leute gemischt, kam jetzt aber zu uns. Sein leicht schwankender Gang war nicht zu übersehen. Er grinste schief und hielt einen Becher in jeder Hand, an dem Schaum runterfloss. »Weißt du . . .«, begann er, »die sind eigentlich alle ganz in Ordnung, die Landeier.« Er drückte mir einen Becher gegen die Brust. Eigentlich hatte ich keine Lust auf Bier, nahm ihn aber, bevor ich mich mit dem Gebräu einsaute. Das Bier floss bitter meine Kehle runter und ich hielt Tina den Becher hin.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin doch ein Mädchen«, sagte sie und klimperte mit den Wimpern.
Ich musste lachen und nahm noch einen Schluck. Das Lachen tat gut. Vielleicht gab's ja doch noch ein Happy End für den Abend . . . und wir mussten uns nicht endlos fragen, was mit Lucas passiert war.
Kevin trank seinen Becher aus. Wie wenig er vertrug, war in unserer Klasse schon legendär – und wie sehr es seine Zunge lockerte. »Mensch, Tina«, sagte er, ließ sich neben sie auf die Treppenstufe fallen und legte den Arm um sie. Obwohl es völliger Blödsinn war, fühlte ich einen Stich Eifersucht. »Mich würde Janka in den Wahnsinn treiben. Ich meine, guck doch mal!«
Gerade lachte Janka lauthals über etwas, das Tobias gesagt hatte, berührte ihn tätschelnd an der Schulter und ließ ihre Hand langsam an seiner Seite herunterfahren.
»Weißt du«, setzte Tina an und erwiderte kumpelhaft die Umarmung, »ich komme mit den komischen Typen sogar am besten zurecht.«
Kevin grinste schief, klopfte ihr auf die Schulter. »Na, dann ist ja gut«, meinte er und stand wieder auf. Er schüttelte seinen Becher. »Brauch noch was«, sagte er, wollte die Treppe runtergehen, wandte sich dann noch mal an Tina. »Pass aber auf, dass sie nicht mit dem Typen wegfährt. Als Autofahrer ist der wohl eher 'ne Niete.«
»Wieso?«, fragte ich.
»Guck dir doch die Delle an . . .« Kevin wankte davon.
Ich warf einen Blick auf das rote Auto und konnte auch auf die Entfernung sehen, dass vorne links irgendwas nicht stimmte. War das schon so gewesen, als ich den Wagen zum ersten Mal gesehen hatte? Vor zwei Tagen in Waldkappel . . . ich rief mir den Anblick ins Gedächtnis zurück und war mir sicher, dass da noch alles in Ordnung gewesen war.
»Ich schau mir das mal näher an«, meinte ich.
Wir standen auf, wühlten uns durch die Menge. Inzwischen war eine richtige Party im Gange. Lucas war hier jedenfalls kein Thema mehr. Tina musste ein paar Blicke der Typen über sich ergehen lassen, aber das schien an ihr abzuprallen.
An Tobias' Wagen war offensichtlich das Licht vorne links kaputt gewesen – das Glas war blitzsauber, anders als das Frontlicht an der anderen Seite. Und neben dem neuen Licht waren Stoßstange und Motorhaube eingedellt. Auch der Kühlergrill hatte etwas abbekommen. Die Stange und die Haube waren notdürftig wieder hergerichtet worden, aber die Unebenheiten waren nicht zu übersehen, und auch der rote Lack war angekratzt.
»Daran hat Tobias heute gearbeitet, als wir mit ihm geredet haben«, sagte ich. »Der Schaden ist neu.«
»Und nicht der erste, wenn ich die Kiste insgesamt sehe. Heißt, der Typ ist ein schlechter Fahrer. Kevin hat recht – mit dem sollte Janka nicht auf Tour gehen.«
Ich zog Tina am Unterarm ein paar Meter weg. »Was könnte er wohl gerammt haben . . . oder wen?«, fragte ich flüsternd.
Tina schaute mich ungläubig an. »Du meinst – Lucas?«
»Im Schwimmbad sind die beiden aneinandergerasselt. Und Lucas hat seine Freundin, diese Susanne, ziemlich angebaggert.«
»Ja und? Er selbst macht auch nichts anderes mit Janka.«
»Aber stell dir vor, der gondelt gestern Abend durch das Kaff und sieht Lucas da rumlaufen. Und vielleicht will er ihn nur mal erschrecken oder so . . .«
». . . und fährt ihn aus Versehen über den Haufen«, vollendete Tina den Satz.
»Kann doch sein«, sagte ich.
»Klar kann das sein. Und dann kommt er wieder hier hoch, schäkert mit Janka, als wäre nichts gewesen.«
»Na klar! Er würde natürlich behaupten, dass er Lucas nie gesehen hat, also würde er weitermachen, als wäre nichts passiert.«
»Du spinnst.«
»Hey, mir trauen auch Leute zu, ich hätte Lucas abgemurkst! Hör zu, der hat heute Vormittag an seinem Auto rumgeschraubt – das könnte sogar letzte Nacht passiert sein. Und überleg mal, sein Freund in der Tankstelle hat ihn sofort angerufen, als wir nach Lucas gesucht haben.« Ich schüttelte den Kopf. »Wenn wir nur irgendwie rausbekommen könnten, was da passiert ist.«
»Ich frag ihn«, meinte Tina.
»Einfach so?«
»Klar. Aber bleib bloß in der Nähe. Ich hab keine Lust, dass mich einer dieser Typen anbaggert.«
Ich wollte schon – halb im Scherz – fragen, ob es okay wäre, wenn ich sie anbaggere, aber ich konnte mich gerade noch zurückhalten.
Janka war im ersten Moment sichtlich überrascht, dass Tina sich zu der Gruppe gesellte, ließ sich aber dadurch nicht aus dem Konzept bringen, sondern stellte Tina gleich Tobias vor. Und ich staunte, dass Tina ein süßes Lächeln aufsetzen konnte, als freute sie sich wirklich, seine Bekanntschaft zu machen.
Ich selbst hielt mich im Hintergrund und tat so, als würde ich mich für die Innenausstattung von Tobias' Wagen interessieren.
Tobias erzählte Janka gerade von seinem Können auf der Kartbahn, als sich Tina einschaltete: »Wenn ich mir die Delle an deiner Kiste anschaue, ist es mit deinen Fahrkünsten aber nicht weit her, oder?«
Einige von Tobias' Kumpeln in der Nähe lachten kurz auf und Tobias' Blick verdüsterte sich. Ich grinste in mich rein.
»Das kann mal passieren, wenn man am Limit fährt, klar?«
»Verlierst du öfter die Kontrolle?«
Die Gespräche um uns herum verstummten. Tobias wurde sich des allgemeinen Interesses bewusst, legte den Kopf schief und grinste provokant. »Ich sag mal so . . . eine Rehfamilie hier im Wald hat jetzt ein Mitglied weniger.«
Tina ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. »Sieht nach einem ziemlich großen Reh aus, die Delle.«
»Nee, war gar nicht groß. Ich war halt nicht gerade langsam.«
»Hast du wenigstens den Förster gerufen?«
»Krautmann? Wozu? Das Vieh ist in den Graben geschleudert worden. Ich hab nicht mal angehalten. Und zwischen den Dörfern hier hat man eh keinen Empfang.« Er holte sein Handy raus, schaute drauf. »Hier auch nicht . . .«
»Ist doch egal«, sagte Janka lachend, warf die Haare nach hinten und schob sich näher an Tobias. »Solange wir hier sind, musst du doch sowieso mit niemandem telefonieren, hm?«
Er steckte das Handy wieder ein. »Stimmt. Und Susanne kann mich mal. Die hat völlig durchgedreht. Nur weil wir etwas . . . gastfreundlich sein wollten.« Er grinste. »Ach, soll sie zum Teufel gehen. Ihr seid ja wohl noch ein paar Tage hier, oder? Auch wenn dieser Typ abgehauen ist?«
Janka rückte ein Stück von ihm ab. »Du wirst ja wohl nicht das Interesse an uns verlieren, wenn wir wieder weg sind?«
»Mal sehen. Kommt drauf an, ob sich's lohnt.« Er grinste schleimig.
Tina hielt die Hand vor den Mund und deutete in meine Richtung an, sich den Finger in den Hals zu stecken. »Was für ein Arschloch«, sagte sie, als sie wieder bei mir stand.
»Was meinst du?«, fragte ich. »Lügt er?«
»Du meinst wegen seines Autos?«
Ich nickte.
»Die Delle könnte von allem Möglichen kommen. Vielleicht war er nur beim Einparken zu dämlich.«
»Sollen wir mit Passlewski reden?«
»Klar doch. Der scheint mir jemand zu sein, der blühende Fantasie zu schätzen weiß . . . Kann's kaum erwarten, ihm unsere wirren Ideen zu erzählen.«
»Also eher Frau Herzig?«
»Damit es ihr noch schlechter geht?«
Jankas Auseinandersetzung mit Tobias war inzwischen ziemlich entgleist. Sie brüllte und war kurz davor, ihm eine reinzuhauen. Dann dampfte sie beleidigt ab. Als sie an uns vorbeischoss, die Treppe hoch, brach sie in Tränen aus.
Tina schüttelte den Kopf. »Ich muss dann wohl wieder die Psychologin geben . . .«