Sie hatten das Feuer schnell unter Kontrolle. Der Gemeinschaftsraum, die Küche und das Zimmer bei der Veranda waren völlig ausgebrannt, aber wir hatten Glück, dass die Flammen nicht auf den Flur und die Zimmer übergegriffen hatten.
Inzwischen waren auch eine Notärztin und ein Arzt im Krankenwagen eingetroffen, die einen nach dem anderen untersuchten. Niemand schien verletzt zu sein – außer Passlewski, der immer noch abwesend wirkte und mit matten Augen das Geschehen um sich herum beobachtete. Mein Husten war auch besser geworden, nur ein Kratzen im Hals war geblieben.
Kevin, Noel und Olaf war, wie den anderen, nichts Schlimmes passiert, aber allen stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben.
Wir konnten in der mondhellen Nacht nur abwarten, beobachteten die Feuerwehrleute. »Wie spät ist es eigentlich?«, fragte ich.
»Hab keine Uhr«, sagte Tina.
Am Horizont zog ein dunkelblauer Streifen auf. »Wird wohl bald hell . . .«, murmelte ich.
»Da!«, rief Tina aus und zog mich am Ärmel.
Ein Feuerwehrmann stand am Fenster und reichte einen leblosen Körper raus.
Es war Susanne.
Sie wurde sofort zum Krankenwagen gebracht.
»Und Lucas?«, sprach Tina die Frage aus, die auch durch meinen Kopf schwirrte.
Der Feuerwehrmann verschwand wieder im Gebäude. Und kehrte wenige Augenblicke später zurück – mit jemandem an seiner Seite, der sofort rauskletterte.
Es war Lucas.
Er stolperte auf den Kiesplatz, hustete sich die Seele aus dem Leib, übergab sich. Die Ärztin eilte zu ihm.
Lucas' Mutter schien ihn im ersten Moment gar nicht zu erkennen. Dann entfuhr ihr ein Schrei und sie rannte zu ihm, drückte ihn fest, während die Ärztin versuchte, sie davon abzuhalten.
Und Lucas? Er stieß die Ärztin beiseite und umarmte seine Mutter. All seine abfälligen Sprüche waren, wie so vieles, was von ihm kam, Lügen gewesen.
Tina und ich gingen zum Krankenwagen. Susanne war inzwischen wieder bei Bewusstsein. Der Arzt, der sich um sie kümmerte, warf uns einen Seitenblick zu. »Ihr ist nichts passiert«, sagte er. »Hat etwas zu viel Qualm abbekommen, aber das wird schon.«
»Können wir mit ihr reden?«, fragte Tina.
Der Arzt winkte uns rein. Susannes Gesicht war rußverschmiert, die Haare klebten ihr am Kopf. Aber in ihrem Blick stand keine Angst mehr, keine Verwirrung. »Lucas hat mir so leidgetan«, sagte sie. »Er stand auf einmal bei uns hinterm Haus. Blutüberströmt. Konnte kaum laufen. Aber ich sollte keinen Arzt rufen, sagte er.«
»Er war die ganze Zeit bei euch zu Hause?«
Sie nickte. »Meine Eltern sind diese Woche im Urlaub. Schweden. Niemand hat davon erfahren.«
»Aber warum zum Teufel hilfst du ihm auch noch bei diesem Irrsinn hier?«, fragte Tina grimmig.
Susanne schluckte, schloss die Augen, und Tränen quollen hinter ihren Lidern hervor. »Er sagte, dass er sich rächen wollte. An seinem Lehrer. Der ihm nur schlechte Noten reinwürgt und ihn unfair behandelt. Ihn richtig erschrecken. Ich dachte doch nicht, dass er alles abbrennen will . . . und er meinte, ich bekomme die Hälfte, wenn wir noch ein bisschen mitgehen lassen, gar nicht viel . . .«
Ich schaute zu Lucas. Er hustete immer noch wie blöd. Seine Mutter wollte ihn gar nicht loslassen. Die Ärztin verlor langsam die Geduld.
Ich sah Susanne an. Sie drehte den Kopf zur Seite. Es gab nichts mehr zu sagen.
Tina und ich kletterten vom Wagen. Die Ärztin hatte es endlich geschafft, Frau Reitz von ihrem Sohn zu lösen. Als Lucas in den Krankenwagen stieg, warf er mir einen Seitenblick zu. Und obwohl er ziemlich heftige Schmerzen haben musste, schaffte er es, sein irres Grinsen aufzusetzen. »Du schuldest mir noch einen Schlüssel!«, sagte er.
»Vergiss es«, erwiderte ich.
Er lachte, was in einem weiteren Hustenanfall endete.
Die Türen des Krankenwagens wurden geschlossen. Dann fuhr er davon. Mit Blaulicht, aber ohne Sirene.
Während der Busfahrt runter ins Dorf herrschte Stille. Kein Wort wurde gesprochen, gelegentlich hustete jemand leise.
Wir wurden zur Turnhalle gebracht. Unter dem grellen Licht der Deckenlampen waren Tische und Stühle aufgestellt worden, und dahinter lagen Isomatten, Luftmatratzen und Decken. Die Tische waren voll mit Butterbroten und Teekannen. Das halbe Dorf schien auf den Beinen zu sein, um uns zu versorgen.
Auch einige der Typen, die oben bei uns gefeiert hatten, waren hier. Ich erkannte Tobias und ging zu ihm. »Hey . . .«
Er nickte mir zu und deutete ein Lächeln an. »Hat's dich schlimm erwischt?«
Ich nahm eine Tasse Tee. »Geht so. Danke . . .«
Tobias schüttelte den Kopf. »Ich hätte merken müssen, dass mit Susanne was nicht stimmt. Aber ich hätte mir nie vorstellen können, dass sie den Typen bei sich zu Hause versteckt.«
»Hat keiner von uns gedacht.« Ich verbrannte mir die Zunge am heißen Tee, trank aber gleich weiter. »Habt ihr was von ihr gehört?«
»Sie ist nach Eschwege ins Krankenhaus gebracht worden. Hab nur kurz mit dem Empfang dort telefoniert. Ihr geht's gut . . . na ja . . . so weit halt. Polizei war auch schon da. Ich will hoffen, sie sperren dieses Arschloch für immer hinter Gitter . . .«
Oh, ja, diesen Gedanken hatte ich auch schon gehabt. Und aus dieser Sache würde sich Lucas nicht so einfach rauswinden können. Ich hätte Tobias gern erklärt, wie leicht man in den Sog von Lucas geraten konnte. Aber ich fand nicht die richtigen Worte. »Ich wollte mich noch entschuldigen«, sagte ich stattdessen. »Eine Zeit lang hab ich wirklich geglaubt, du hättest Lucas mit dem Auto angefahren.«
Er warf mir einen düsteren Blick zu. »Soll ich dir was sagen? Wenn er mir vor die Karre gelaufen wäre, hätte ich das auch gemacht . . .«
Ich nickte ihm zu. Mir ging's ja auch nicht anders. Dann drehte ich mich um.
Da war noch was anderes, das ich klären musste.
Ich suchte Passlewski in der Halle, konnte ihn aber nicht finden. War der abgehauen?
Tina kam zu mir. Sie hatte eine Decke um sich geschlungen, hielt auch eine Tasse Tee in der Hand. »Ist doch noch ein richtig gemütliches Lagerfeuer geworden, hm?«
Ich musste grinsen. »Du spinnst«, sagte ich, zog sie an der Decke an mich heran, sodass sie fast ihren Tee verschüttete, und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.
»Er sitzt da hinten«, meinte sie und deutete ein Kopfnicken an. »Ich hab noch nicht mit ihm geredet und es auch sonst noch keinem gesagt, was wir . . .«
»Ich glaub, das sollte ich alleine klären«, sagte ich und stellte die Teetasse auf den Tisch.
Passlewski saß auf einem Plastik-Klappstuhl und starrte ins Leere. Ich zog mir einen Stuhl ran und setzte mich ihm gegenüber.
Einige Augenblicke lang regte er sich nicht. Als er endlich aufsah, starrte er mir direkt in die Augen. Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich werde dich nicht um Verzeihung bitten, Samuel. Das kann man nicht vergeben. Wenn ich damit durchgekommen wäre . . . nicht auszudenken. Ich hätte dein ganzes Leben vernichtet.«
Ich schwieg.
»Nein, es ist unentschuldbar. Aber als Lucas mich im Wald abfing und mir sagte, dass er das Halsband gefunden hätte . . . da hatte ich Hoffnung, dass wir Anni finden. Und dann sagte er . . . er sagte, es hätte ziemlich lange gedauert. Anni hätte sich erst an den Baum anbinden lassen, ohne sich zu wehren, sie war immer so zutraulich, aber er hätte immer wieder zuschlagen müssen. Immer wieder. Und wir waren da noch unten im Schwimmbad. Niemand hat sie hören können . . .« Er schloss die Augen. »Ich wollte Lucas nichts tun. Aber es war zu viel. Ich weiß gar nicht mehr, was ich eigentlich getan habe, auf einmal lag er da. Blutend. Reglos. Das Handy war aus seiner Tasche gefallen, lag neben seinem Kopf. Ich stand unter Schock . . . hab das Handy eingesteckt, ohne zu wissen, was ich damit sollte. Erst später fiel mir ein, dass ich es benutzen könnte, um . . .« Er schüttelte wieder den Kopf.
»Aber ich verstehe das nicht . . . warum hat Lucas das überhaupt getan? Den Hund getötet?« Hätte er so was nur zum Spaß getan?
Passlewski schaute mich an. »Lucas hat mich . . . nun . . .« Er atmete tief durch, schluckte. »Als es Ende letzten Jahres um seine Versetzung in die zehnte Klasse ging, hatte ich ihn in meiner Sprechstunde. Er hat mich . . . vom Stuhl gestoßen. Getreten. Hat mir gedroht, dass er mich umbringt, wenn ich ihn nicht versetze.« Sein Blick wurde wieder leer. »Ich hatte Angst. Also hab ich es getan. Hab den anderen Lehren zugeredet, ihm noch eine Chance zu geben. Dachte, dann ist alles vorbei.«
Ich rutschte auf meinem Stuhl rum, fand keine bequeme Sitzposition. Das kam mir alles sehr bekannt vor . . .
»Aber es ging weiter. Er fing mich nach der Schule ab, versetzte mir eine Ohrfeige. Manchmal verpasste er mir eine nach dem Unterricht, wenn alle gegangen waren. Damals, als du zum ersten Mal zu uns in die Schule gekommen bist . . . da auch.«
Das Nasenbluten. Ich erinnerte mich . . .
»Ich . . . ich bin kein gewalttätiger Mensch, wirklich nicht. Das musst du mir glauben. Er wollte seinen Realschulabschluss erzwingen . . .« Passlewski kratzte sich geistesabwesend blutigen Schorf von der Backe. »Als er bemerkt hat, dass ich sein Spiel nicht mehr mitmachen wollte, hat er angefangen, mich noch schlimmer zu erpressen. Er wollte dem Direktor sagen, ich hätte ihn . . . sexuell belästigt und dafür hätte er gute Noten bekommen. Ich habe es im Guten versucht. Aber nichts hat geholfen.«
Auf seltsame Weise fühlte ich mich Passlewski in diesem Moment vertraut. Was er getan hatte, hätte auch mir passieren können . . .
Passlewski hob den Kopf. »Du wirst mir das wahrscheinlich nicht glauben, aber . . . ich wollte allem ein Ende setzen. Ich wollte nach der Klassenfahrt zum Direktor gehen und alles eingestehen. Lucas' Erpressung, die gefälschten Noten, alles. Und ich war bereit, die Folgen zu tragen. Es war ein Fehler gewesen, der Angst nachzugeben. Ich hatte mich erpressen lassen und ich wollte dem ein Ende setzen. Und das habe ich Lucas auch gesagt.«
Ich erinnerte mich an die Auseinandersetzung, die die beiden in dem Heimatmuseum gehabt hatten. Lucas musste völlig durchgedreht sein, weil Passlewski seine Erpressung auffliegen lassen wollte und ich gleichzeitig den Schlüssel hatte, mit dem der Einbruch bewiesen werden konnte. Das war zu viel für ihn gewesen.
Die Türen der Turnhalle wurden quietschend geöffnet. Zwei Polizisten traten ein. Es waren Tobias' Schwester und ihr Kollege. Sie sahen sich kurz um und kamen dann direkt auf uns zu.
Passlewski redete weiter. »Lucas hat darauf so reagiert, wie ich es von ihm kannte – mit Gewalt. Aber dass er sie auf Anni richtet . . . damit habe ich nicht gerechnet. Und ich habe auch nicht erwartet, dass ich . . .« Er seufzte. ». . . dass ich zur gleichen Gewalt fähig bin.«
Die Polizisten traten zu uns. »Herr Passlewski«, sagte der Mann. »Wenn Sie bitte mitkommen würden. Wir hätten da ein paar Fragen.«
Passlewski nahm die Brille ab, putzte sie an seinem Hemd, schaute mich an. »Ich bin kein böser Mensch«, sagte er leise, setzte die Brille wieder auf und erhob sich. Die beiden Polizisten nahmen ihn in ihre Mitte. Alle Blicke folgten den dreien. Die Türen schlossen sich hinter ihnen.
Tina trat zu mir und umarmte mich. Wortlos horchten wir in die Stille, die sich über die ganze Halle gelegt hatte.