Sommer 2018

Die Hochzeit

Beim Hochzeitsessen ihrer einzigen Tochter wurde Selma Falck neben die Klotür gesetzt.

Schon in der Kirche hätte sie einsehen müssen, dass es ein Fehler gewesen war, herzukommen. Die erste Bankreihe war für die Familie reserviert. Selma war rechtzeitig eingetroffen. Als sie sich den Familienmitgliedern näherte, die schon Platz genommen hatten, rutschten diese weiter auseinander, und schon nach wenigen Sekunden war kein Platz mehr für die Mutter der Braut.

Sie hätte kehrtmachen und nach Hause gehen sollen.

Stattdessen, aus Gründen, die sie später nicht erklären konnte, hatte sie die Trauung von der hintersten Bank aus verfolgt. Sie war lächelnd in den Bus gestiegen, der die Gäste nach der Zeremonie zum Restaurant Ekebergåsen bringen sollte, hatte freundlich den Champagner abgelehnt, während alle darauf warteten, dass das Brautpaar auf dem Dach der Oper fotografiert wurde. Sie hatte sich von der Traubenlimonade aufgequollen gefühlt, und ihr war etwas übel gewesen, aber sie hatte doch weiter trinken müssen, weil es unerträglich heiß war. Da die anderen Gäste sie mit Beschlag belegt hatten, sowie sie in ihrem tiefroten Kleid aus dem Bus gestiegen war und bis eine Glocke sie dann zu Tisch rief, hatte sie vergessen, den Plan mit der Tischordnung zu suchen.

Als sie endlich das große Plakat unten an der Steintreppe erreichte, stand ihr Entschluss fest.

Sie drehte sich um und wollte so diskret wie möglich wieder gehen. Doch das war schwer in dem Strom von Menschen, der die Treppe hochwogte. Ein ihr unbekannter Mann in den Sechzigern mit viel zu vielen Zähnen packte sie am Arm und erklärte mit lauter Stimme, er fühle sich geehrt, weil er an diesem Abend ihr Tischkavalier sein dürfe. Selma Falck höchstpersönlich, grinste er und zog sie, im wahrsten Sinne des Wortes und ziemlich schmerzhaft, zum Tisch nach oben in die Ecke bei der mit einem blauen Piktogramm gekennzeichneten Klotür. Er rückte ihren Stuhl zurecht, soweit das in der Enge möglich war, und Selma hatte keine andere Wahl mehr. In ihrem Rücken, auf der anderen Seite der Terrasse, hinter den fast zweihundert Gästen, die weiter oben am Tisch saßen als sie, sah sie die Trauzeugen, das Brautpaar und die Eltern der Frischvermählten. Selma war durch die neue Freundin ihres Exmannes ersetzt worden, die knapp fünf Jahre älter war als die Braut. Jesso hatte seine Rede bereits in der Pause zwischen Vorspeise und Fischgang gehalten. Selma tat der Rücken weh, weil sie sich die ganze Zeit umdrehen musste. Irgendwann gab sie auf und starrte das Schild an der Klotür an.

Nicht ein einziger Windhauch war hier oben zu spüren.

Der Sommer 2018 war der heißeste seit Menschengedenken.

Jedenfalls seit 1947 , erklärte der älteste Mann am Tisch, und er beschrieb einen Nachkriegssommer, in dem die Fische gar gekocht aus dem Meer gezogen wurden. 2018 sei nichts im Vergleich zu 1947 , meinte er und wischte sich die Stirn mit einem dermaßen durchnässten Taschentuch, dass es vom Schweiß so grau geworden war wie seine Haut.

Er gehörte zu den Glücklichen, die bereits im Februar zu dem Fest eingeladen worden waren.

Selma selbst hatte erst anderthalb Wochen zuvor eine SMS ihres angehenden Schwiegersohns erhalten.

Liebe Selma Falck. Wenn du zu unserer Hochzeit kommen möchtest, würde ich mich freuen. Anine ebenfalls, glaube ich. Im Grunde. Du gehörst unbedingt bei der Feier unseres großen Tages dazu. Alles Gute, Sjalg Petterson.

Sjalg hatte sich bei ihr gemeldet.

Von Anine hatte sie kein Wort gehört.

Die Gäste hatten Selma warm ihre Glückwünsche ausgesprochen. Zum offenkundigen Glück ihrer Tochter. Sie umarmten sie und applaudierten und bejubelten die schöne Trauung im Dom, den fantastisch gedeckten Tisch oben auf der Terrasse und nicht zuletzt das Wetter, diesen gesegneten ewig währenden Sonnenschein, der sich seit Anfang Mai über das Land ergoss.

Selma müsse so stolz sein, meinten alle, so unbeschreiblich glücklich.

Sie hatte gelächelt und sich durch mehr als zwei unerträgliche Stunden hindurchgeplaudert. Es war jetzt so heiß, dass dem Restaurant schon längst die Eiswürfel ausgegangen waren, und Selma musste lauwarme Traubenlimonade trinken.

Das war noch immer besser als fast körperwarmes Wasser.

Der Mann mit den vielen Zähnen hatte vom Nachrichtenstrom des letzten halben Jahres offenbar nicht viel mitbekommen. Schon bei der Vorspeise bemerkte Selma eine ungebetene Hand auf ihrem Oberschenkel. Sie schob sie energisch fort. Sekunden später war die Hand wieder da.

Selma wollte nicht mehr.

Sie erhob sich, klemmte sich ihre schmale Abendtasche unter den rechten Arm, lächelte vage vor sich hin und wollte gehen. Ein kurzer Schrei ließ sie herumfahren.

An den folgenden Tagen würde Selma diese Szene immer wieder vor sich sehen, Bild für Bild, langsam und präzise. Sjalg Petterson stand aufrecht da und hielt die Papiere mit der Rede an seine Braut in der Hand. Er ließ sein Manuskript fallen und griff sich an den Hals, an die Brust, lief rot an, dann blau, ehe er erbleichte und auf seinen Stuhl zurücksank. Er riss an seinem Hemdkragen, an der Fliege, er zerrte und kratzte, ehe sich sein Griff lockerte und beide Arme schlaff hinunterfielen. Der Bräutigam machte ein verdutztes Gesicht, sein Blick wurde leer, und dann kippte er langsam vornüber auf den Tisch.

Anine stieß noch einen Schrei aus, diesmal schärfer, sie rief nach einem Arzt, nach Sjalgs Spritze, nach dem Adrenalin, das ihn retten könnte, das vorhanden sein müsste, wie es das immer war. Irgendwo.

Der Kopf des Mannes knallte auf den Teller.

Nach einer Ehe, die zwei Stunden und neunundvierzig Minuten gedauert hatte, war Selma Falcks Tochter schon Witwe.

Und nun war Anine nicht mehr die Einzige, die schrie.