Der Auftrag

Seit der Hochzeit waren vier Tage vergangen, und Sjalg Pettersons tragischer Tod war bereits aufgeklärt worden. Aufgrund der vielen Zeugenaussagen und des vorläufigen Obduktionsberichtes lag der Schluss nahe, dass der sechsunddreißig Jahre alte Mann einem anaphylaktischen Schock erlegen war.

Er war extrem allergisch gegen Macadamianüsse gewesen.

»Wir haben das ja auch gewusst«, sagte Jesper Jørgensen. »Küche, Kühlraum, Service, Besteck, Terrasse … Alles wurde gesäubert, ehe wir eingerückt sind. Wirklich alles. Fast automatisch. Es ist auch nicht schwer, den Kontakt mit Macadamianüssen zu vermeiden. Ich habe in meiner ganzen Laufbahn kaum je eine verwendet.«

Der Mann machte eine verzweifelte Handbewegung.

Seine Karriere war noch nicht lang, das wusste Selma, doch sie war umso erfolgreicher verlaufen. Jesper Jørgensen war erst sechsundzwanzig, galt aber schon als einer der absolut besten Köche des Landes. Vor vier Jahren hatte er den Bocuse d’Or gewonnen, die inoffizielle Weltmeisterschaft der Kochkunst, als jüngster Preisträger aller Zeiten. Seither hatte er in der Dronning Eufemias gate das noble Restaurant Ellevilt , also Lebensfreude, aufgemacht, genau gegenüber dem berühmten Barcode-Gebäude, der Oper, dem schiefen neuen Munch-Museum und allem anderen, was langsam zu einem modernen Stadtteil wurde, mit dem Selma sich nur mit Mühe abfinden konnte. Schon nach elf Monaten wurde das Ellevilt mit einem Michelin-Stern belohnt. Im folgenden Jahr kam der zweite. Nur das weltberühmte Maaemo konnte es mit seinen drei Sternen noch übertreffen.

»Ich bereue das so wahnsinnig«, sagte der junge Mann verzweifelt. »Natürlich hätte ich mich nicht zum Kochen bereit erklären dürfen. Ich will doch in meiner eigenen Küche arbeiten, aber so viele Gäste können wir bei uns nicht unterbringen. Und Sjalg Petterson kann man nicht so leicht widerstehen, er hat verdammt gut bezahlt, und ich …«

Wieder hob er die Hände.

Jesper Jørgensen saß in einem Sessel in Selma Falcks Kombination aus Wohnung und Büro. Die Wohnung war nicht groß, zwei Zimmer, Küche und Bad, aber sie war praktisch und perfekt gelegen in einem Neubau in Sagene. Von dort aus hatte sie einen kurzen Weg in die Innenstadt und blieb trotzdem ziemlich anonym. An der Klingel stand einfach nur SF , und die Wohnungstür war überhaupt nicht beschriftet. In dem knappen halben Jahr, das sie nun schon hier wohnte, hatten die Leute aus der Umgebung sich aber dennoch mit ihr bekannt gemacht. Die ersten Wochen waren anstrengend gewesen, mit den Bitten um Autogramme und Selfies und mit neugierigen Fragen nach der eher bescheidenen Wohnung.

Aber das hatte sich gegeben.

Selma Falck war zufrieden mit ihrem Dasein.

Seit sie ihre Freiheit und ihre Finanzen hatte retten können, indem sie vor Weihnachten die Unschuld einer jungen Skiläuferin in einem Dopingskandal bewiesen hatte, hatte sie die meisten Brücken hinter sich eingerissen. Ihre Zulassung als Anwältin hatte sie längst zurückgegeben. Von den dreizehn Millionen Kronen, die sie für den Auftrag erhalten hatte, hatte sie ihrem Exmann drei überlassen. Als Buße vermutlich, denn zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihm nichts geschuldet. Vor allem war es ein Versuch, die Vergebung ihrer Kinder zu erlangen, das musste sie zugeben, wenn sie wirklich darüber nachdachte. Was sie immer seltener tat. Die Wirkung war auch eher bescheiden gewesen. Anine verhielt sich weiterhin fast feindselig, wenn sie ein seltenes Mal miteinander zu tun haben mussten. Ihr Bruder Johannes wirkte vollkommen gleichgültig: Bei der Hochzeit hatte Selma ihren Sohn zum ersten Mal seit vier Monaten gesehen.

Die zweiundsechzig Quadratmeter große Neubauwohnung hatte an die fünf Millionen gekostet und konnte für einen Apfel und ein Ei möbliert werden. Der Parkplatz im Keller war im Preis inbegriffen. Da ihr beklagenswerter Hang zum Glücksspiel sie fast ruiniert und um ein Haar ins Gefängnis gebracht hätte, hatte sie schon früh beschlossen, das restliche Geld auf einem Bankkonto zu lagern. Ein Puffer für schwierige Zeiten. Das Konto hatte sie bei einer anderen Bank als ihrer üblichen eingerichtet. Ganz bewusst hatte sie sich die neue Kontonummer nicht eingeprägt. Die Unterlagen über die fünf Millionen Kronen und die Chipkarte, die zu dem Konto gehörten, hatte Einar Falsen in seiner Obhut. Er hatte keine Ahnung, worum es sich handelte, aber er wusste, dass beides sicher verwahrt sein musste.

Obwohl Einar noch immer verschroben und bisweilen absolut verrückt war, hatte sie dem ehemaligen Polizisten doch immerhin ein Dach über dem Kopf verschafft. Der Pokertürke, Selmas alter Mandant, ein Miethai und Betreiber etlicher illegaler Spielhöhlen in Oslo, hatte Einar die heruntergekommene und übel riechende Wohnung in der Vogts gate überlassen, in der Selma selbst einen trostlosen Advent verbracht hatte.

Nach vielen obdachlosen Jahren genoss Einar es überraschenderweise, einen festen Wohnsitz zu haben. Er war seltsam, und manchmal ging es ihm sehr schlecht. Dennoch war er der Einzige, zu dem Selma wirklich Vertrauen hatte. Sogar der nervige Kater Darius, den Selma aus ihrer gescheiterten Ehe hatte mitnehmen müssen, war in Grünerløkka geblieben. Die Miezekatze und der Verrückte passten gemeinsam auf Selmas Geld auf, stopften sich mit Käseflips voll und lasen die gedruckte Ausgabe der Zeitung, die Einar jeden Morgen früh stahl, lange bevor irgendwo auch nur der allererste Hahn gekräht hatte.

Aber nun hatte Selma Besuch bekommen.

Der Meisterkoch war verzweifelt.

»Es hagelt schon Stornierungen«, jammerte er. »Jede Menge. Alle halten es für meine Schuld. Unsere Schuld. Ellevilts Schuld, auch wenn es gar nicht unser Restaurant war. Der größte Albtraum jedes Kochs ist es, jemanden zu vergiften. Und dieser Typ, der ist einfach … krepiert, sozusagen. Aus irgendeinem Grund, der absolut nichts mit uns zu tun gehabt haben kann. Durch eine Scheißnuss, die ich kaum je verwendet habe. Mein Essen ist norwegisch. Macadamia ist brasilianisch. Eine Scheißweihnachtsnuss, etwas, das …« Die Luft schien aus ihm zu entweichen. Er sank im Sessel in sich zusammen, rieb sich die Stirn und kniff die Augen zusammen. Es sah aus, als ob er sich selbst am Weinen hindern wollte.

»Was sagt die Lebensmittelaufsicht?«, fragte Selma. »Ich nehme an, die haben die Sache überprüft?«

»Sicher. Das ganze Lokal ist untersucht worden. Sie konnten nirgendwo eine Spur von Nüssen finden. Bisher jedenfalls nicht. Sie waren überall. Haben alles aufbewahrt. Benutzte Teller, Servierschüsseln, Kochtöpfe, alles. Es dauert eine Weile bis zum Abschlussbericht, also bis …«, er holte tief Luft und setzte sich ein wenig aufrechter, »… die Untersuchungen fertig sind. Aber wenn in dem Essen Macadamianüsse waren, dann in winzig kleinen Mengen. Unsichtbar, würde ich behaupten.«

»Das kommt vor. Manche Menschen sind wirklich hyperallergisch. Es kann reichen, dass sie ein Zimmer betreten, in dem jemand vor einer Weile Nüsse gegessen hat, und schon werden sie sterbenskrank.«

»Aber dann dürfte er doch kein fremd zubereitetes Essen zu sich nehmen«, fauchte Jesper Jørgensen wütend. »Niemand kann die Zutaten die ganze Zeit voll und ganz unter Kontrolle haben. Es war zudem unvorstellbar idiotisch, dass er diese Spritze, diesen Pi-Penn oder wie das heißt …«

»EpiPen. Adrenalin.«

»Ja. Dass er den seinem Trauzeugen gegeben hat. Um auf den Fotos keine ausgebeulte Tasche zu haben, also echt. Und der Trauzeuge stand nur da wie ein Ölgötze und sah zu, wie der Bräutigam starb, ohne auch nur einen Finger zu rühren.«

»Er stand wohl unter Schock. Das kommt vor. Was sagt die Polizei?«

»Die Polizei?« Der junge Mann runzelte halb überrascht, halb skeptisch die Stirn. »Warum sollte die Polizei etwas damit zu tun haben?«

Selma, die mit einer Flasche Pepsi Max in der Hand auf dem Sofa saß, zuckte mit den Schultern.

»Sjalg Petterson war nicht unumstritten«, sagte sie.

»Unum… wie meinen Sie das?«

»Sie wissen doch, wer er war?«

»So ein Promi? Aus der Politik, oder wie? Ich kümmere mich nicht um Politik. Ist mir scheißegal. Mir geht’s um Essen.«

»Essen kann auch politisch sein.« Selma lächelte. »Und Sie müssen wirklich schwer geschuftet haben, um die vielen Zeitungsartikel über ihn nach seinem Tod nicht mitbekommen zu haben.«

»Whatever. Ich will nichts mit Zeitungen zu tun haben. Jetzt schon gar nicht. Bei jeder Scheißschlagzeile verlieren wir Renommee und Umsatz.«

Jetzt sah er vor allem aus wie ein trotziger Teenager. Er war im Sessel nach vorn gerutscht, spreizte die Beine und spielte an seinem Daumenring herum. Aus dem T-Shirt-Ärmel kroch eine in verschlungenen Ringen tätowierte Schlange bis zu seinem Handgelenk. Der Kopf, zum Zubeißen erhoben, war beängstigend naturgetreu.

»Jedenfalls …«, seufzte Selma und stellte die Flasche weg, »… begreife ich nicht so ganz, was Sie von mir wollen.«

»Sie sollen mir helfen.«

»Wie denn?«

»Indem Sie beweisen, dass weder ich noch mein Konzept schuld daran sind, dass der Typ abgekratzt ist. Ich …« Offenbar steckte sein Telefon in seiner Gesäßtasche, denn ein halb ersticktes Doppelpling ließ ihn die rechte Hinterbacke anheben. »Ver-damm-te Pest!«

»Was ist los?«

»Noch mehr Stornierungen. Wir müssen am Wochenende wahrscheinlich zumachen. Hat keinen Sinn, offen zu haben, wenn keine Gäste kommen.«

»Das findet sich schon. In zwei Wochen ist alles vergessen.«

Er starrte sie an, als ob sie eine Spritztour auf den Mond vorgeschlagen hätte.

»Sie haben ja offenbar viel Ahnung von Branding?« Er unterstrich seinen Sarkasmus durch ein leichtes Augenrollen, richtete sich im Sessel auf und beugte sich vor. »In meiner Branche wird nichts vergessen. Ich habe zwei Michelin-Sterne. Denen kann ich nur noch zum Abschied zuwinken, wenn die Leute weiterhin glauben, dass ich bei der Arbeit schlampig bin. Sjalg Petterson hatte eine schwere Nussallergie. Das war allgemein bekannt, sagen zwei der Jungs in der Küche. Er hat bei so einer Aufklärungskampagne für den Norwegischen Asthma- und Allergieverband mitgewirkt. Die Jungs sind immer besser informiert als ich. Außerdem hat er geradezu hysterisch versucht, auf Nummer sicher zu gehen. Diese Nussallergie wurde nicht nur jedes verdammte Mal erwähnt, wenn ich mit ihm oder mit der Braut gesprochen habe …«, er hob den Daumen mit dem Silberring, »… die tauchte auch in jeder Mail auf.« Sein Zeigefinger hob sich, dann hob er auch den Mittelfinger. »Und drittens steht das im Vertrag. In Rot!«

Selma nickte gelassen.

»Okay. Das wissen Sie sicher am besten. Aber ich kann kaum etwas tun. Die Lebensmittelaufsicht wird der Sache sicher auf den Grund gehen.«

»Die Lebensmittelaufsicht!«, spottete Jesper. »Die werden das klären, na klar! Aber wenn sie im Essen in der Küche auch nur irgendeinen verdammten Rest von einer Macadamianuss finden, dann bin ich richtig am Arsch. Echt! Die Lebensmittelaufsicht scheißt doch auf das Ellevilt . Und auf mich. Und ich hatte immerhin die Verantwortung.«

Selma warf rasch und deutlich einen Blick auf die Uhr. Sie hatte keine Pläne für diesen Tag, hatte den Burschen aber satt. Die modische Tätowierung auf dem rechten Arm machte etwas her, aber der Dreitagebart, der Silberring am Daumen und die Tatsache, dass er in der Wohnung eine Baseballcap trug, ließen ihn vollkommen in der Menge der gleich aussehenden Typen dieser Altersklasse verschwinden. Er war sicher ein genialer Koch. Mit Menschen umgehen konnte er aber nicht.

»Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte sie und erhob sich. »Tut mir leid.«

»Sie müssen! Die Jungs in der Küche sagen, dass Sie die Beste sind.«

»Das stimmt, ich bin die Beste. Aber ich kann Ihnen nicht helfen, und Sie könnten sich das auch nicht leisten.«

»Wie viel? Was kosten Sie pro Stunde?«

Selma lächelte und schob sich die Haare hinters Ohr.

»So läuft das nicht. Ich wette nur.«

»Sie wetten?«

»Ja. Ich übernehme nur Fälle, bei denen der Auftraggeber bereit ist, mit mir eine Wette einzugehen. Wenn ich den Fall löse, bekomme ich einen ansehnlichen Teil des Kuchens. Wenn nicht, bekomme ich nichts.«

»Aha.«

Nun war wieder alle Luft aus ihm entwichen. Er hing wie ein Kartoffelsack im Sessel, hatte die Mütze abgenommen und drehte sie unentwegt zwischen den Händen.

»So wie die Anwälte aus den USA «, murmelte er. »In den Filmen. No cure, no pay. «

Selma legte den Kopf schräg.

»Tja. So ungefähr. Eine Wette bringt Spannung ins Leben. Etwas muss auf dem Spiel stehen, könnte man sagen. Das passt zu meiner … Natur. Und da es bei Ihnen nicht um Geld geht, ist der Auftrag nichts für mich. Trotz der hohen Preise für Ihre Speisen ist mir klar, dass es nicht gerade reich macht, ein Restaurant auf Ihrem Niveau zu betreiben.«

Er schien noch immer nicht gehen zu wollen.

»Ich habe es ein bisschen eilig«, sagte Selma.

Jesper Jørgensen blieb sitzen.

»Also, ich muss jetzt wirklich …«

»Ich hab zwar kein Cash«, fiel er ihr ins Wort, »aber ich habe das Restaurant. Wenn Sie mir aus dieser Klemme helfen, können Sie gratis essen.«

Selma musterte ihn. Jetzt blickte er auf. Seine Augen waren das Einzige an ihm, das Aufmerksamkeit verdient hatte. Sie waren groß, dunkelbraun und hatten die längsten Wimpern, die Selma je an einem Mann gesehen hatte. Er sah aus wie ein verwirrter kleiner Bengel.

»Was wäre denn nötig?«, fragte sie endlich. »Ich meine … was wäre nötig, damit Sjalgs Tod nicht auf Sie und das Ellevilt zurückfällt?«

»Dass ich es nicht hätte verhindern können«, sagte Jesper sofort. »Dass ich nicht schuld daran war. Niemand von uns, meine ich, von uns in der Küche. Dass es jemand anderes gewesen sein muss, jemand, der …«, er hatte offenbar Probleme damit, sich vorzustellen, wer außer denen, die das Essen zubereitet hatten, Nüsse hinzugefügt haben könnte, denn er schloss laut hörbar den Mund.

»Könnte denn jemand anderes das getan haben?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er, immer verzweifelter.

»Das würde ja bedeuten, dass jemand ihm schaden wollte. Oder ihn umbringen. Wenn Sie da auch nur den geringsten Verdacht haben, müssen Sie zur Polizei gehen. Sofort.«

Die Erkenntnis traf sie mit einer Wucht, die sie überraschte: Wenn Sjalg Petterson wirklich ermordet worden war, konnte hier die Rede von dem perfekten Verbrechen sein. Er war an einer Beeinträchtigung gestorben, die die Polizei wohl kaum interessant fand, und die Ermittlungen waren nur einen trockenen Bericht der Lebensmittelaufsicht davon entfernt, eingestellt zu werden.

Sie überlegte.

Jespers Telefon, das jetzt vor ihm auf dem Tisch lag, fiepte wieder und holte sie aus ihren Gedanken. Er berührte das Display. »Wir machen am Wochenende dicht«, sagte er.

Selma glaubte zu hören, dass seine Stimme kaum noch trug.

»Seit ich zehn war«, sagte er leise, ohne sie anzusehen, »arbeite ich schon daran, der beste Koch der Welt zu werden. Und das ist mir ja auch gelungen. Ich war ein Scheißsozialfall. Meine Mutter war tot und mein Vater ein Arschloch. In der Schule war ich nicht gut, und fett war ich außerdem. Ein Fettsack. Ich hab immer nur in der Küche gestanden. Habe gekocht. Gelernt. Bin besser geworden. Ein Restaurant auf dem Niveau des Ellevilt zu betreiben ist der übelste Job aller Zeiten. Und der tollste. Das Einzige, was ich kann. Das Einzige, was ich will.«

Selma setzte sich wieder. Dachte nach.

Der Junge war jetzt fast niedlich. Sein Mund bebte, und dass die Mütze das fieberhafte Gefummel überlebt hatte, zeugte von Qualität.

Im Moment hatte sie keinen Auftrag.

Nach der spektakulären Sache mit der Sabotage beim Langlauf hatte sie ihre Position bis zum Gehtnichtmehr ausgenutzt. Hatte alle Möglichkeiten wahrgenommen, ihre neue Rolle als Privatdetektivin bekanntzumachen. Sie hatte alle Morgensendungen in Rundfunk und Fernsehen besucht, Talkshows, Debatten und Porträtinterviews, die zwar nicht besonders wahrheitsgemäß ausfielen, die aber umso größer präsentiert wurden. Soviel sie wusste, war sie die Erste überhaupt, die am selben Wochenende sowohl bei Skavlan als auch bei Lindmo der Hauptgast gewesen war.

Das wollte sie jedenfalls gern glauben.

Das alles hatte Selma mit einer Raffinesse durchgezogen, durch die sowohl ihre Spielsucht als auch der darauffolgende moralische wie finanzielle Zusammenbruch weiterhin ein nur sehr wenigen bekanntes Geheimnis blieben.

Noch ehe das Weihnachtsfest 2017 vorüber war, gab es in Norwegen kaum einen Menschen über fünf, der nicht wusste, dass Selma Falck, Spitzenpromi und Siegerin von Let’s Dance , doppelte Olympiasiegerin im Handball und außerdem Staranwältin, von nun an ihre Zeit privaten Ermittlungen widmen wollte.

Ihr wurden viele Fälle angeboten. Sie hatte nur wenige angenommen. Diese wenigen aber waren spektakulär, und sie hatte alle drei aufgeklärt. Die kleine neue Firma, Falck Solutions AS , hatte in einem halben Jahr einen Umsatz von vier Millionen gemacht. Drei davon kamen vom selben Klienten, einem Juwelier, der einen betrügerischen Angestellten nicht bemerkt hatte, ehe sich der Dieb mit Werten von an die dreißig Millionen auf den Cayman Islands befand.

Drei Wochen später waren Dieb und Diamanten wieder in Norwegen, Ersterer höchst unfreiwillig.

Durch geringe Betriebskosten war die Gewinnspanne von Falck Solutions gewaltig. Zehntausend Kronen für »Beratung« flossen jeden Monat an Einar Falsen. Auf ein eigenes Konto überwies Selma jeden Monat eine entsprechende Summe zur Verwendung beim Online-Poker. Sie trat viel kürzer, zeigte Disziplin und schaffte es, sich auf zwei Nächte pro Woche zu beschränken. Das neue Leben tat ihr in jeglicher Hinsicht gut.

Das Pokerkonto wies bisher ein angenehmes Plus auf.

Ihr jetzt kontrolliertes Spiel gab ihr die Ruhe, die sie brauchte. Immer wenn sie versucht hatte, ganz auszusteigen, war sie nur rastlos und unkonzentriert geworden, und sie konnte absolut nicht einsehen, was falsch daran sein sollte, ein Gleichgewicht im Leben zu finden.

Obwohl sie das niemandem erzählen konnte.

Eigentlich hatte sie jetzt Ferien machen wollen, aber noch war nichts entschieden. Das Wetter in Norwegen war noch immer einzigartig gut, sie konnte jeden Tag im neuen Freibad bei Sørenga schwimmen, und sie war seit ihrer Kindheit nicht mehr so braun gewesen.

Der junge Koch wirkte wie am Boden zerstört.

»Sie meinen also, ein Essen im Ellevilt sei meinen Arbeitseinsatz wert, der vielleicht mehrere Wochen in Anspruch nehmen kann?«, fragte sie endlich.

»Nicht ein einziges Essen«, erwiderte er eilig. »Eins im Monat.«

»Eins im Monat?« Selma lachte. »Für wie lange?«

Jesper überlegte einige Sekunden.

»Ein Jahr. Sie bekommen einen festen Tisch.«

»Ich interessiere mich nicht so sehr für Essen. Mir reichen im Grunde Fischfrikadellen mit Gemüse.«

»Nach einem Essen bei mir werden Sie verstehen, was Essen bedeutet. Den tieferen Sinn, weswegen wir überhaupt essen. Das verspreche ich.«

Ihr kam der Gedanke, Einar unter die Dusche zu schieben, um dann einmal pro Woche mit ihm Oslos zweitbestes Restaurant aufzusuchen. Das wäre märchenhaft. Außerdem könnte sie mit einer solchen Abmachung, immerhin Gratismahlzeiten in einem der allerbesten Restaurants des Landes, ihren Klienten imponieren.

»Nicht gut genug«, sagte sie. »Aber wenn Sie einmal pro Woche sagen, dann werde ich es mir überlegen.«

»Einmal pro Woche? Sind Sie wahnsinnig?«

Selma schüttelte den Kopf und hob die Hände. Jesper zögerte einige Sekunden.

»Okay«, sagte er dann. »Aber wenn Sie es nicht schaffen, bekommen Sie nichts. Das ist der Deal, nicht wahr? Machen Sie es also?«

»Sjalg Petterson war mein Schwiegersohn.«

»Äh … was?«

»Für zwei Stunden und neunundvierzig Minuten.«

Jesper starrte sie verständnislos an.

»Was?«, fragte er noch einmal.

»Was bedeutet«, sagte Selma, »dass ich der Ordnung halber meine Tochter fragen muss, ob es ihr recht ist, wenn ich ein bisschen in dieser Angelegenheit herumstochere.«

»Ja. Ja! Tausend Dank!« Jetzt sprang er auf. Einen Moment lang sah es aus, als wollte er um den Tisch herumlaufen und sie umarmen. Zum Glück tat er das nicht. »Ihre Tochter wird sicher dasselbe sagen wie ich«, sagte er eifrig. »Sie will doch sicher auch wissen, was wirklich passiert ist.«

»Ich kann nichts versprechen.« Selma machte eine gebieterische Handbewegung in Richtung Tür. Endlich begriff er den Wink und setzte sich in Bewegung.

»Wann kann ich mit einer Entscheidung rechnen?«, fragte er.

»Weiß nicht. Aber ziemlich bald, nehme ich an.«

Bei der Wohnungstür blieb er stehen, noch immer mit der Baseballkappe in der Hand. Er drückte den Schirm nach unten und setzte sie auf.

»Es ist vielleicht nicht ganz okay, das zu sagen«, fing er an.

»Was denn?«

»Sie sehen verdammt gut aus. Für Ihr Alter.«

Selma lächelte.

»Ich meine … nicht für Ihr Alter … ich meine, Sie sind toll, irgendwie. So aussehensmäßig. Sie haben ein bisschen Ähnlichkeit mit dieser … dieser Schauspielerin aus dieser Fernsehserie, wissen Sie?«

»Ja. Ich hätte nicht gedacht, dass Köche in Ihrer Liga sich Krimiserien ansehen.«

»Ab und zu stopf ich mich voll damit. Sie haben gewaltige Ähnlichkeit.«

Er schaute zu Boden. Das Gesicht lag im Schatten des Mützenschirms.

»Vielen Dank. Das war nett gesagt. Aber jetzt müssen Sie gehen.«

Ohne noch etwas zu sagen, verschwand er im Treppenhaus. Die Fahrstuhltür öffnete sich zwar, aber er ging zu Fuß. Selma schaute ihm hinterher und stellte fest, dass er, wenn man von der uniform hippen Aufmachung und der scheußlichen Schlange absah, auch gar nicht so schlecht aussah.

Vor allem von hinten, erkannte sie jetzt, aber sie sagte nichts.