Frühjahr

Die Niederlage

Die bisher sechsköpfige Gruppe war verkleinert.

Ellev Trasop war nun, nach einer Trauerfeier in einer voll besetzten Kirche und einem darauffolgenden Leichenschmaus im Gewerkschaftshaus unter die Erde gebracht. Er war vierzehn Jahre lang Gewerkschaftsvorsitzender gewesen. Das hatte die Beisetzung geprägt. Die Gewerkschaft nutzte die Gelegenheit, um ihre Stärke zu zeigen, und hatte auf dem Youngstorg eine imposante Fahnenburg aufgebaut. Ein gewaltiges Bassin mit roten Rosen war einen Tag lang schön gewesen, um danach die Stadt in Verlegenheit zu bringen. Politiker der meisten Richtungen waren angetreten, um dem alten Arbeiterriesen die letzte Ehre zu erweisen.

Einst sieben, dann sechs, und nun saßen nur noch fünf um den Tisch in einer Wohnung in Frogner. Diese Wohnung gehörte der einzigen Frau in der Runde. Sie war Mitte fünfzig und hatte es bis zur Majorin der norwegischen Streitkräfte gebracht, ehe ihr der Posten der Personaldirektorin bei Norwegens größter Bank angetragen worden war. Sie hieß Berit Ullern, wurde aber immer nur »der Major« genannt.

Einer der Anwesenden war der stellvertretende Polizeipräsident von Oslo. Ein anderer nannte sich Gemüsegroßhändler, herrschte im Grunde jedoch über ein Fruchtimperium. Der letzte und jüngste von allen war Abteilungsleiter bei der Steuerbehörde.

Alle waren solide, zuverlässige Norweger.

Tryggve Mejer saß zum ersten Mal am Kopf des Tisches.

Es war allen unbehaglich, sich so kurz nach der letzten Besprechung schon wieder zu treffen, denn sonst konnten die Begegnungen Jahre auseinanderliegen. Sie hatten ein Kommunikationssystem installiert, das auch ohne persönliche Treffen für einen guten Kontakt sorgte. Die kleine Gruppe, die sie nur den »Rat« nannten, verfügte über ein massives Netz aus Sicherheit und Diskretion. Das war schon so, seit der Rat im Jahr 1991 installiert worden war. In den ersten Jahren waren neue Mitglieder dazugekommen, wenn alte gestorben waren. Seit 1998 , als Tryggve eingetreten war, waren nur zwei gestorben. Peder Mejer vor zehn Jahren und nun Ellev in seinem hundertsten.

Den Statuten nach sollten sie nicht ersetzt werden.

»Das können wir nicht machen.« Das hatte der Major gesagt. Sie trat auf, als wäre sie noch immer beim Militär. Ihre gepflegte Frisur war kurz, die Nägel ebenfalls, wenn auch sorgfältig manikürt und blank lackiert. Unter allen in der Runde war sie die Einzige, die die Rückenlehne des Stuhls nicht berührte. Sie saß aufrecht da, hatte die Knie geschlossen und die Hände symmetrisch im Schoß abgelegt. »Ellev hatte recht«, sagte sie. »Das liegt außerhalb unseres Mandats.«

»Meinst du wirklich?«, fragte Tryggve.

»Ja. Das wäre zutiefst undemokratisch.«

Tryggve ließ seinen Blick in der Runde wandern. Sein Puls war viel zu hoch, und er versuchte, ruhig zu atmen. Sie waren nicht auf seiner Seite. Drei von ihnen jedenfalls nicht. Als Ellev noch lebte, hatten sie nicht viel gesagt. Schon gar nicht der Major. Tryggve konnte sich nicht daran erinnern, ihre Stimme in den zwanzig Jahren, in denen er sie jetzt kannte, mehr als nur wenige Male gehört zu haben.

Jetzt war sie offenbar fest entschlossen.

»Wir leben in einer so polarisierten Gesellschaft wie noch nie zuvor in der modernen Geschichte dieses Landes«, erklärte Tryggve. »Ein Journalist hat vom ›Zeitalter des politischen Extremwetters‹ gesprochen. Das trifft zu. Wir können die traditionelle Rechts-links-Achse nicht mehr nutzen, um politische Handlungen einzuordnen. Die politischen Ränder verhalten sich stattdessen wie die Speichen um eine Nabe, und der Zustrom wächst hier und in unseren Nachbarländern. Die Nabe …« Er legte eine Pause ein und holte Luft, ehe er weitersprach: »Die Nabe, das sind wir. Die Vernünftigen. Die Konsensorientierten. Die Anständigen. Und wir werden immer weniger. Die Nabe wird kleiner. Die Nabe ist die Kraft aller Dinge, Berit. Die Nabe hält jedes Rad in Bewegung. Sie muss stark sein. Und mitten im ganzen Elend haben wir diese verdammten …«

Er redete sich in Rage. Seine Wangen begannen zu glühen. »… diese sozialen Medien«, fügte er ruhiger hinzu. »Das Internet. Und die sogenannten Online-Zeitungen, die werden immer professioneller, proportional zu ihrem Extremismus. Der Sturm wird zum Orkan. Wenn ihr einen Blick in die Unterlagen werft, die ich euch gegeben habe …«

Zwei der anderen fingen an zu blättern. Der Major rührte sich nicht.

»… dann seht ihr, dass wir fast beweisen können, dass default.no und wrongs.no teilweise von den Russen finanziert werden. Diese Websites verbreiten Nachrichten, die ebenso von Hass und Hetze erfüllt sind wie von Lügen und irreführenden Behauptungen. Das sind Beiträge, die fast jede Woche zu den meistgeteilten in den sozialen Medien gehören. Und an die immer mehr Menschen glauben.«

»Warum unternimmt dann der Polizeiliche Sicherheitsdienst nichts?«, fragte der Major. »Oder du? Als Justizminister, meine ich. Wenn die Russen doch dahinterstecken? Warum willst du uns da reinziehen?«

»Ich habe gesagt ›fast beweisen können‹. Der PST arbeitet jeden Tag hart, um russische Beeinflussungsversuche nachweisen zu können. Wirklich jeden Tag. Dennoch wird alles schlimmer. Die müssen sich mehr auf reguläre und offenkundige nachrichtendienstliche Aktivitäten konzentrieren als zum Beispiel auf die Manipulation der sozialen Medien. Dazu fehlen ihnen die Kapazitäten. Und außerdem sind sie an Vorschriften gebunden, auf die wir keine Rücksicht zu nehmen brauchen. Wir können zum Beispiel die Presse auf ganz andere Weise nutzen als sie.« Er legte eine Pause ein, holte Luft und befeuchtete seine Lippen. »Wir werden destabilisiert«, sagte er dann. »Von immer größeren Gruppen im eigenen Land, und vor allem: von fremden Mächten.«

Er betonte die beiden letzten Wörter ganz besonders. »Von fremden Mächten«, wiederholte er. »Wir müssen uns vor fremden Mächten schützen. Wir sind aus der Spur geraten. Als Nation und als Demokratie. Mit relativ einfachen, aber präzisen Mitteln können wir den Zug wieder ins Gleis bringen. Bei den USA sieht es schlimmer aus. Da liegen alle Waggons zerschmettert in der Schlucht.«

Es wurde still. Die drei Männer blätterten in ihren Unterlagen. Das Dokument war auf einer alten IBM -Kugelkopfschreibmaschine getippt und das Farbband danach verbrannt worden.

»Die Operation ist relativ umfassend«, sagte endlich jemand. »Haben wir die nötigen Mittel?«

»Ja.« Tryggve nickte. »Mittel, Kapazitäten und Möglichkeiten.«

»Hm.« Der Mann zögerte. »Ich muss dem Major hier zustimmen. Der Zustand ist besorgniserregend, aber wir sind nicht okkupiert worden.«

»Sind wir doch«, sagte Tryggve, viel zu laut. »Von einem Chaos, in dem die Demokratie nicht mehr funktionieren kann. Früher haben sich die krassen Fronten auf die Zuwanderung beschränkt, aber jetzt hat sich alles ausgebreitet. Zum Beispiel …«, er holte erneut tief Luft, ehe er weitersprach, »als die Kooperation der EU auf dem Energiesektor vor fast zehn Jahren vereinbart wurde, hat das kaum jemanden interessiert. Kaum jemanden! In diesem Winter wurde plötzlich der Beitritt zu ACER eine Frage der norwegischen Souveränität. Es wurde mit einer Erregung diskutiert, als ginge es darum, Norwegen nach Afrika zu verlegen. ACER , die Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden! Eine sinnvolle, einstimmige Abmachung über Energieversorgung, die …« Er verstummte und legte die Handflächen auf den Tisch. »Wir müssen etwas unternehmen«, sagte er verzweifelt. »Ehe wir alle in der Schlucht liegen. Ehe niemand diese Demokratie noch weiterführen will. Ehe der Preis zu hoch wird.«

Wieder wurde es still im Raum. Vor den geschlossenen Fenstern war Kinderlachen zu hören, dazu eine vorüberscheppernde Straßenbahn. Die Sonne brannte auf die Fenster, es war viel zu warm im Raum.

»Da draußen vertrittst du etwas ganz anderes«, sagte der Major. »Dieser …« Sie kniff ein wenig die Augen zusammen. Selbst ihre Falten waren symmetrisch, sah Tryggve jetzt. »Sjalg Pettersen?«, fragte sie. »Oder Petterson? Dieser Politiker, der …«

»Sjalg Petterson ist kein Politiker«, fiel Tryggve ihr ins Wort. »Er sitzt weder im Parlament noch in der Regierung. Und er ist auch noch nie in die Nähe des Rathauses gekommen.«

»Er nennt sich Politischer Influencer «, sagte der Mann von der Finanzbehörde, der jetzt sein Dokument zu Ende gelesen hatte. »Der Bursche betreibt eine Art Blog. Aber eigentlich arbeitet er an der Universität.«

»Großer Gott«, stöhnte Tryggve und schlug die Hände vors Gesicht. »Influencer!«

»Der geht dir gern an die Gurgel«, sagte der Major. »Und wenn ich das richtig in Erinnerung habe, hast du vor zwei Wochen genau hier gesagt, dass wir in einer liberalen Demokratie leben und dass es durchaus legitim ist, den Justizminister zu kritisieren. Du warst ganz gelassen dabei, hast sogar gelächelt.« Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Da draußen bin ich ein liberaler Demokrat«, sagte Tryggve resigniert. »Demokrat, Justizminister und Vater. Hier drinnen bin ich ein Soldat im Dienste der Demokratie. Wie wir alle.«

»Wir sollten abstimmen.«

Er starrte sie überrascht an.

»Abstimmen? Das tun wir doch sonst nie?«

Ihre seltenen Treffen hatten in der Regel aus einer Diskussion bestanden, bei der alle zu Wort kamen, ehe Ellev Trasop die Entscheidung fällte.

Der Major deutete ein Kopfschütteln an.

»Nein. Aber zum einen haben wir noch nie eine solche Operation in Gang gesetzt …«

Sie starrte den Umschlag des versiegelten Dokumentes aus zusammengekniffenen Augen an.

»Zerfurcht/Verwittert. Operation Zerfurcht/Verwittert. Nie. Und außerdem bist du nicht Ellev. Wir stimmen ab.«

Tryggve fühlte sich in die Enge getrieben. Damit hatte er nicht gerechnet. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte der Rat noch nie über irgendetwas abstimmen müssen. Er war zwar davon ausgegangen, dass es schwer werden könnte, die anderen zu überreden, vor allem den Major und vielleicht auch den stellvertretenden Polizeipräsidenten, aber mit direkter Meuterei hatte er nicht gerechnet.

»Na gut«, sagte er unsicher. »Wer ist dafür?«

Seine eigene Hand hob sich. Einer der anderen Männer bewegte ein wenig die Hand, ließ sie dann aber sinken.

»Und wer ist dagegen?«, fragte der Major, als der Ratsleiter verstummte.

Vier Hände hoben sich.

»Dann ist das entschieden«, sagte der Major gelassen und fing an, die Unterlagen einzusammeln. »Ich übernehme die Vernichtung von alldem hier.« Sie erhob sich, klemmte sich die Unterlagen unter den Arm und fügte hinzu: »Ihr wisst, wie ihr hier herauskommt, jeder für sich. Adieu.«