Haakon 7

Zwei Tage waren vergangen, seit der Major Tryggve im Wald überrumpelt hatte. Seither hatte er nichts von ihr gehört. Er hatte auch nichts anderes erwartet. Er hatte sein Ehrenwort gegeben, und seinem Wort wurde noch immer geglaubt.

Der Safe im Keller war groß: anderthalb Meter hoch und in die Mauer eingegossen. Er hatte eigentlich nie begriffen, wozu diese Vorrichtung gut sein sollte, aber der Safe war vorhanden gewesen, als sie 2002 das Haus gekauft hatten. Und er war fast leer. Der Grundbrief für das Haus lag dort, zusammen mit einigen Schmuckstücken, die Cathrine niemals benutzte. Und sein Zeugnis von der Universität Bergen, wo er sein Jurastudium absolviert hatte, da er sich als Abiturient in ein Mädchen aus dieser Stadt verliebt hatte. Cathrines Zeugnisse von der NTNU und dem MIT in Boston waren ebenfalls vorhanden, und Minas Geburtsurkunde. Alles zusammen hätte in ein kleines Bankschließfach gepasst.

Ohne es Cathrine zu sagen, hatte er den Code geändert. Sie war niemals hier unten. Tryggve war nicht einmal sicher, ob sie sich an den alten Code erinnerte. Als sie zuletzt etwas aus dem Safe gebraucht hatte, hatte sie ihn fragen müssen. Das war sicher drei Jahre her.

Das Kästchen aus Zedernholz hatte viel Platz und ein Fach für sich allein. Tryggve zog es vorsichtig heraus und trug es hinüber zur Hobelbank, die er vor sechs Jahren zu Weihnachten bekommen und seither kein einziges Mal angerührt hatte. Der Schlüssel steckte bereits im Schloss. Er war so klein, dass er ihn nur schwer zu fassen bekam, aber nach einigem Gefummel hörte er ein Klicken.

Obwohl Tryggve seit vielen Jahren eine klare Vorstellung vom Inhalt des Kästchens gehabt hatte, spürte er doch, wie sich sein Puls beschleunigte. Der Deckel war aus einem Stück Holz hergestellt, um das sich ein Rahmen zog. Der Schreiner hatte sorgfältig König Haakons Monogramm in die Mitte geschnitzt, ein großes H, darin die Ziffer 7 , unter einer stilisierten Königskrone. Das Symbol war umgeben von einem prachtvollen Relief aus Frühlingsblumen. Huflattich und Sibirischer Blaustern, Schneeglöckchen und etwas, bei dem es sich um Leberblümchen oder Buschwindröschen handeln konnte. Das Kästchen war von einem bekannten Widerständler hergestellt worden, als der vom November 1944 bis Kriegsende im Gefangenenlager Grini gesessen hatte. Wie sich dieser Mann im Gewahrsam des Naziregimes Zedernholz und feines Werkzeug beschafft hatte, war ein Rätsel, das nicht einmal Ellev Trasop hatte beantworten können.

Die Symbolik war jedenfalls mehr als deutlich.

König Haakons Monogramm verursachte Tryggve eine Gänsehaut.

Jedes einzelne Mal, wenn er es sah. In der Reihe der zahllosen Auflagen, die die Nazis zur Besatzungszeit erlassen hatten, vom Verbot roter Zipfelmützen bis zu dem Befehl, Gummistiefel ab Größe 41 und alle Hunde, die über vierzig Zentimeter groß waren, der Kriegsmacht abzuliefern, wurde bereits im Spätherbst 1940 jegliche Propaganda für das Königshaus untersagt.

Dieses Monogramm wurde zum trotzigen Symbol des Krieges.

Tryggve erinnerte sich an die Überlieferung einer kindlichen und ausdrucksstarken Wiederverwendung dieses Symbols unter dem Esstisch der Großeltern. Der kleine Bruder des Vaters, der bei Kriegsende erst vier gewesen war, hatte am Heiligen Abend unter dem Tisch gesessen, halb versteckt unter einer weißen Tischdecke, und er hatte einen Bleistiftstummel benutzt, um seinen wütenden Widerstand gegen die Besatzer deutlich zu machen. Der alte Esstisch stand jetzt im Wohnzimmer des Onkels, und das Monogramm war noch immer vorhanden, wenn man sich die Mühe machte, nachzuschauen.

Die Frühlingsblumen symbolisierten die Hoffnung auf bessere Zeiten.

Vorsichtig öffnete Tryggve den Deckel.

Obenauf lag ein weißer Briefumschlag. Sein eigener Name war in einer so zittrigen Schrift daraufgeschrieben worden, dass er nur schwer zu lesen war. Jemand hatte versucht, den Umschlag zuzukleben, aber eine einfache Daumenbewegung reichte, um ihn zu öffnen. Das Papier riss dabei nicht einmal ein.

Lieber Tryggve,

in diesem Kästchen liegt große Macht, die nicht missbraucht werden darf. Ich hoffe, Du lässt Dich davon lenken, was immer schon der Leitfaden unserer Organisation war: Norwegische Freiheit, Selbstständigkeit, Wohlfahrt und Volkssouveränität. Alles Gute Dir und den Deinen,

Dein alter Freund und Mentor Ellev

Tryggve musste blinzeln. Er räusperte sich ein wenig und steckte den Brief wieder in den Umschlag, faltete ihn zusammen und schob ihn in seine Gesäßtasche. Er wollte ihn noch am selben Abend verbrennen. Danach griff er zu einem kleinen Heft. Es war gedruckt, aber offenbar nicht offiziell verlegt worden. Es gab weder einen Autoren- noch einen Verlagsnamen und auch keinen Titel. Auf der Vorderseite war nur eine grob gezeichnete Karte von Norwegen eingeprägt.

Er schlug das Heft auf. Das Papier war trocken und knisterte, als er die Seiten auseinanderzog, um sie lesen zu können. Seine Augen überflogen die dicht bedruckten Seiten. Er blätterte ein wenig hin und her, nahm Bruchstücke des Textes wahr, hielt eine Weile inne und blätterte dann weiter.

Das Pamphlet behandelte die Geschichte der norwegischen Alarmbereitschaft im Falle einer Okkupation nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Angst der westlichen Alliierten vor einem sowjetischen Einmarsch, nachdem die Sieger Europas Ruinen unter sich verteilt hatten, hatte in den nichtkommunistischen Ländern die Errichtung von sogenannten Stay Behind- Gruppen legitimiert. Diese Gruppen sollten, wie schon der Name sagte, nach Eintreffen der Russen im jeweiligen Vaterland verbleiben. Durch ihren Kampf hinter den feindlichen Linien sollten sie die Arbeit der Besatzungsmacht erschweren.

Und die Nation abermals befreien.

Gleich nach Kriegsende und bis 1953 wurden auch überall in Norwegen Netzwerke aufgebaut. Die Gruppe Blue Mix stand für Evakuierung, Lindus für die Nachrichtendienste, Rocambole kümmerte sich um Sabotage und Liquidierungen. Von Anfang an wurden alle Gruppierungen von bekannten Personen aus dem Widerstand geleitet.

Tryggve Mejer kannte sich mit dieser Geschichte aus. Er war damit aufgewachsen, seitdem er alt genug gewesen war, von seinem Vater ernst genommen zu werden.

Die einzelnen Gruppierungen, die alle zusammen das norwegische Stay Behind- Netzwerk ausmachten, waren der politischen Kontrolle entzogen. Er wusste, dass so viele Schutzwälle zwischen den Akteuren installiert waren, dass das volle Ausmaß der einzelnen Komplexe nur einer Handvoll Männern bekannt war.

Und nur sie wussten, wer die einzelnen Mitglieder waren.

Tryggve war sich darüber im Klaren, dass die Akteure, die für das System angeworben wurden, zumeist nur ihre unmittelbaren Vorgesetzten kannten. Sechs Jahre Weltkrieg, fünf davon als besetzte Nation, hatten den Menschen im Widerstand die Notwendigkeit der Geheimhaltung vor Augen geführt. Niemand sollte mehr wissen als unbedingt nötig. Stay Behind bestand aus Gruppierungen, deren Zugehörigkeiten aus einem glühend heißen Krieg geboren worden und in eisiger Kälte zwischen den beiden Großmächten gewachsen waren.

Aber die Russen kamen nie.

Die Gesellschaft gab sich im Laufe der Zeit neue Regeln. Moderne Anforderungen an Transparenz und politischen Einblick kamen auf. Normen änderten sich langsam, und der Weltkrieg rückte in immer weitere Ferne. Die Männer starben in hohem Alter. Wenn sie auch die meisten ihrer Geheimnisse mit ins Grab nahmen, so waren doch immer noch genug übrig, um das ganze Projekt ins Wanken zu bringen. Einige Zufälle, ein paar schwerwiegende Patzer, mehrere unternehmungslustige Journalisten und einzelne Entlarvungen später fiel dann auch die Berliner Mauer.

Die Zeit der Sowjetmacht war vorüber.

Stay Behind wurde nach ungefähr vierzig Jahren aufgelöst. In ganz Europa und auch in Norwegen.

Tryggve Mejer war sich selbstverständlich darüber im Klaren, dass die norwegischen Nachrichtendienste noch immer ihre Geheimnisse hatten. Alles andere wäre ja auch noch schöner gewesen. Glied um Glied waren die Kontrollmechanismen verbessert worden, vor allem durch die Einsetzung eines parlamentarischen Ausschusses zur Kontrolle von Nachrichten-, Überwachungs- und Sicherheitsdiensten. Der EWR -Ausschuss wurde zum Guckloch der Volksvertreter ins geheime Norwegen.

Aber nicht in die eine kleine Organisation, die in der Stille weiterlebte.

Peder Mejer und Ellev Trasop hatten kein Vertrauen zu den Russen. Der Kommunismus war im Grunde mit der Berliner Mauer gestürzt, aber die russische Mentalität würde niemals sterben. Gorbatschows Tage waren gezählt, und als der alkoholisierte, unvorhersagbare Boris Jelzin im Sommer 1991 zum ersten demokratisch gewählten russischen Staatsoberhaupt wurde, erhielten Peder und Ellev die Bestätigung, die sie gebraucht hatten.

Sie hatten das Richtige getan.

Russland würde immer eine Bedrohung sein, so, wie das Land es seit vielen Menschenaltern gewesen war, und jede Nation hatte das Recht und die Pflicht, sich auf ausländische Aggression vorzubereiten.

Das Geld für die ursprünglichen Stay Behind- Gruppen war vor allem aus den USA und aus Großbritannien gekommen. Von CIA und MI 6 . Und von der NATO . Es lag unbedingt im Interesse der Alliierten, ihren europäischen Freunden mit Kapital und Ausrüstung beizustehen, um die Bereitschaft gegen den Kommunismus zu erhöhen. 1990 hatten Tryggves Vater und Ellev Trasop, die beide seit der Einrichtung der Gruppen dabei gewesen waren, schon längst dafür gesorgt, einen Großteil der Mittel in die Schweiz zu überführen. Sie hatten bereits um die Mitte der Achtzigerjahre gesehen, wohin die Reise ging, und alles war überaus diskret abgelaufen. Die unübertroffene Diskretion des Alpenlandes und dessen glückliche Hand in Gelddingen hatten dazu geführt, dass Tryggve Mejer nun über bedeutende Summen verfügte.

Er legte das Heft auf die Hobelbank.

Das Kästchen enthielt auch zwei Speichersticks und ein Satellitentelefon mit Ladegerät. Er schaltete es ein. Es war voll aufgeladen, und er schaltete es wieder aus und legte es zurück. Die USB -Sticks waren in Plastiktüten gepackt, die er öffnete. Jede Tüte enthielt außerdem einen Zettel.

Personal , stand auf dem einen. Und auf dem anderen: Konti .

Tryggve ging zurück zum Safe und zog den ganz neuen, schlichten Laptop hervor, den er am selben Tag dort hineingestellt hatte. Er war air gapped und war also noch nie mit einem Netz verbunden gewesen. Er konnte nicht gehackt werden. Tryggve steckte den einen Stick in den USB -Ausgang, scrollte durch die Fotos, die auf dem Bildschirm auftauchten, nickte kurz, zog den Speicherstick heraus und schob den anderen hinein.

Weder Personal noch Geld oder Kommunikation würden ein Problem sein.

Er brauchte fünf Minuten, um hinter sich aufzuräumen. Als alles wieder im Safe lag und er aus einem Impuls heraus den Code ein weiteres Mal geändert hatte, ging er nach oben und in den Garten.

Aus dem Haus konnte er den Fernseher hören. Die Stimmen waren scharf und fielen einander immer wieder ins Wort. Irgendeine politische Talkrunde, dachte er, auch wenn die Sendezeit nicht passte. Vielleicht hatte Cathrine sie aufgenommen. Cathrine war heute so seltsam gewesen, so ungewöhnlich still. Er schaute zu Minas Fenster hoch. Ihre leichten Vorhänge bewegten sich ein wenig im Wind. Es war schon zehn nach elf Uhr abends, aber ausnahmsweise fühlte er sich nicht müde, sondern eher beschwingt. Fest im Glauben. Er schob die Brust ein wenig heraus. Er war dabei, sein Ehrenwort zu brechen. Das hatte er noch nie getan. Aber jetzt war er dazu gezwungen. So wie die Welt nun einmal aussah, musste er tun, was in seinen Kräften lag.

So wie die Wirklichkeit in Norwegen nun einmal aussah, war das Notwehr.

Die Abendluft war warm. Hinter Holmenkollen hingen noch immer Lichtreste nach dem Sonnenuntergang, der eine knappe Stunde zurücklag. Ein rosa Schimmer im klaren Mittelblau, das immer dunkler wurde, je weiter der Himmel auf ihn zukam. Ein Duft nach frisch gemähtem Gras hing zwischen den Traubenkirschenbäumen und den schlanken Kiefern auf dem Nachbargrundstück.

Es war der 31 . Mai, und in fünfzig Minuten würde der Frühling zu Ende sein.

Nun war es endgültig Sommer geworden.