Herbst

Die Steinhütte

Als der Brand sich langsam gelegt hatte, bewegte sich Selma Falck immer weiter auf die Hütte und das Autowrack zu. Trotz des gewaltigen Feuers fiel es ihr schwer, warm zu bleiben. Vorn wurde ihr viel zu heiß, hinten war sie noch immer eiskalt. In den vergangenen zwei Stunden hatte sie sich langsam um sich selbst gedreht, als ob sie auf einem gigantischen Grill gebraten werden sollte. Sie hatte die Stiefel mehrmals aus- und angezogen. Die waren feucht und eiskalt, beschützten ihre Füße aber vor den scharfen Felskanten und dem steifen Heidekraut. Als sie sie zuletzt ausgezogen hatte, hatte sie gesehen, dass ihre Fußsohlen bluteten.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon wach war oder wo sie war.

Sie war Selma Falck, wohnte in Sagene in Oslo und hatte einen Auftrag angenommen, an dessen Inhalt sie sich nicht erinnern konnte.

In diesem Moment, als das gewaltige Feuer langsam niederbrannte, wusste sie nicht, was ihr die meiste Angst machte: dass sie erfrieren würde oder dass ihr Gehirn sich im Leerlauf drehte. Es war voller Wörter und Kenntnisse, die umherwirbelten wie in einer Trockentrommel, die aber keine klaren Erinnerungen enthielten. Keine Gesichter, nur Wörter. Selma konnte sich an Ausdrücke wie negotiorum gestio erinnern. Geschäftsführung ohne Auftrag. Ex officio. Von Amts wegen. De lege ferenda. Vom Standpunkt des zukünftigen Rechts aus.

Retrograde Amnesie. Gedächtnisverlust nach einer Gehirnverletzung.

Dieser Begriff war plötzlich da. Sie hatte keine Ahnung, woher er gekommen war, aber es war wahrscheinlich das, woran sie derzeit litt. Große Teile ihres Gehirns schienen sich ausgeschaltet zu haben. Sie versuchte sich zu konzentrieren, starrte dabei aber nur in eine tiefe, schwarze Finsternis. Ungefähr so musste es sich anfühlen, senil zu sein, bildete sie sich ein.

Senil. An dieses Wort konnte sie sich erinnern. Dement.

Sie murmelte immer weiter Fremdwörter und schwierige Begriffe vor sich hin. Erklärte sie sich selbst.

Alles ergab einen Sinn.

Ein intensives Gefühl der Einsamkeit drohte sie zu überwältigen. Ein intensives Gefühl der Verlassenheit. Plötzlich tauchte aus ihrem benebelten Gehirn eine Erinnerung auf.

Woodstock.

Was war Woodstock?

Ein Musikfestival, und sie war winzig klein gewesen. Ihr Bruder war noch jünger. Er war ein Baby und hatte einen Namen. Selma hatte einen Bruder. Sie saßen in einem grünen Badezimmer und weinten. Das Badezimmer war nicht grün. Die Badewanne war grün. Und das Klo. Auch das Waschbecken, und die fremde Frau trug ein hellgrünes Kleid.

Das Woodstock-Festival fand in Bethel, New York, statt, nicht in Woodstock. Es war das Jahr 1969 , und sie war drei Jahre alt.

Es war nicht möglich, sich an etwas aus dieser Zeit zu erinnern.

Das Feuer war zu einem schwelenden Gluthaufen heruntergebrannt. Noch immer konnte sie sich dort Wärme holen, sie näherte sich immer weiter, drehte sich weiterhin langsam um sich selbst, um nicht wieder auf der einen Körperseite eiskalt zu werden.

Bisher hatten die Angst und die bedrohliche Situation es ihr möglich gemacht, alle Schmerzen zu verdrängen. Jetzt, da nichts mehr zu retten war und höchstens von zwei Stunden die Rede sein konnte, bis keine Wärme mehr von der Hütte zu holen wäre, kamen sie zurück. Stärker denn je.

Sie war wirklich übel zugerichtet.

Der Kopf war das Schlimmste.

Ein stechender Schmerz steckte tief im Gehirn und sandte heftige, pulsierende Messerstiche in alle Richtungen aus. Sie massierte sich die Schläfen, aber das half nicht im Geringsten. Sie schloss die Augen, und der Schmerz wurde schlimmer. Sie öffnete sie, und die Dolchstöße wurden unerträglich. Erst jetzt merkte sie, dass hier nicht nur die Rede von einer wehen Kopfhaut war. Sie hatte eine lange Wunde am Hinterkopf. Mit rußschwarzen Fingern tastete sie vorsichtig. Die Wunde war offenbar fast zehn Zentimeter lang und ziemlich tief. Sie wagte nicht, sie genauer zu untersuchen; inzwischen bildete sich eine Kruste, und sie wollte die Wunde nicht wieder zum Bluten bringen.

Sie unterbrach das ewige Rotieren um sich selbst.

Es musste jetzt zwei Stunden her sein, dass sie mitten in einem Brand aufgewacht war. Oder drei. Oder vielleicht nur eine halbe. Es war unmöglich, das einzuschätzen, ihr Zeitgefühl war ebenso auf Sparflamme wie ihr Gedächtnis. Durch das Chaos in ihrem Gehirn war nur eins ganz klar: Sie musste etwas unternehmen.

»Denken!«, fauchte sie und ballte beide Fäuste. »Denken!«

Es wurde jetzt langsam hell. Ein schmaler grauer Streifen zeichnete sich hinter den Anhöhen auf der anderen Seite der Brandstätte ab. Die Wolkendecke hing tief, und Selma versuchte, die Temperatur einzuschätzen.

»Osten.« Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das Licht.

Sie drehte sich dreimal um neunzig Grad.

»Norden. Westen. Süden.«

Es war eiskalt. Die stechende Hitze hatte den Raureif in einem weiten Kreis um die Hütte herum geschmolzen, aber außerhalb dieses Kreises war das Heidekraut gefroren. Jetzt konnte sie auch sehen, dass die Landschaft nicht so flach war, wie sie bisher gedacht hatte. Im Westen war eine Hügelkette zu erahnen. Eine dünne Schneeschicht hatte die Höhenzüge berieselt wie mit Puderzucker. Hier und dort wuchs eine verkrümmte Zwergbirke, das fiel ihr auf, und als sie sich hinsetzte, um das Heidekraut genauer zu untersuchen, stellte sie fest, dass sie es mit mehreren Arten von Pflanzen zu tun hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie die hießen, glaubte aber, sie zu erkennen.

Selma war in Norwegen.

Und zwar auf einer Hochebene.

So weit von der Hütte entfernt klapperte sie mit den Zähnen, deshalb schleppte sie sich zurück. Jetzt müsste sie die nassen Stiefel auf einen Stein bei der Glut so legen, dass die Öffnungen zur Brandstätte hinwiesen. Vielleicht könnte die Wärme hineinziehen und die Stiefel trocknen. Dabei würde sie eine Zeit lang barfuß sein müssen, aber ein bisschen Schmerz mehr oder weniger könnte bei ihren Überlebenschancen wohl kaum noch eine Rolle spielen.

Es war offenbar Herbst.

Während das Himmelsgewölbe stetig heller und das Grundstück mit der Hütte dunkler wurde, war sie immer fester davon überzeugt, dass sie sich nicht im Ausland befand. Das Innere der Hütte, das, was sie noch gesehen hatte, ehe sie zur Tür gestürzt war, war überaus typisch für ein spartanisches norwegisches Jägerhäuschen gewesen.

Eine Bewegung in der Ferne fing so plötzlich ihre Aufmerksamkeit ein, dass sie zu abrupt herumfuhr. Die Schmerzen bei der ruckhaften Bewegung ließen ihr schwarz vor Augen werden. Sie taumelte für einen Moment, fand aber ihr Gleichgewicht wieder und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was sie gesehen hatte.

Da war etwas, das sich bewegte.

In weiter Ferne, wo sich die Ebene langsam und gleichmäßig zu einem Felskamm anhob, gingen drei Gestalten langsam in die Richtung, die, wie Selma jetzt wusste, Norden war. Sie wollte rufen, stellte aber fest, dass ihre Stimme nicht in der Lage war, besonders laut zu klingen. Die Bewegungen waren zudem zu weit weg, und da hätte niemand sie hören können.

Die eine Gestalt blieb stehen.

Rentiere, das sah Selma jetzt.

Nicht nur drei, aus einer Mulde in der Landschaft tauchte nun eine ganze Herde auf.

Wilde Rentiere? Zahme?

Selma versuchte, ihr Gehör zu schärfen. Zahme Rentiere trugen Glocken. Manche jedenfalls.

Sie konnte aber nur Knistern, ab und zu einen leisen Knall von der Brandstätte her und den Wind über der Hochebene hören. Der Wind kam ihr jetzt stärker vor, und hier und dort flammten mitten in der Asche wieder kleine Feuer auf.

Sie konnte in Finnmark sein.

Norwegen hatte viele Hochebenen. Mehrere wiesen zahme und wilde Rentierherden auf. Es gab Südsami und Nordsami und Jäger und Rentiere, und Selmas Kopfschmerzen waren so stark, dass sie umsank.

Sie war offenbar eine Weile bewusstlos gewesen.

Die Kälte weckte sie. Sie hatte noch nie solche Schmerzen gehabt. Ihre oberste Hautschicht schien nicht mehr vorhanden zu sein. Darunter war es weder warm noch kalt, es tat nur entsetzlich weh. Abgesehen von den Füßen. Die spürte sie fast überhaupt nicht mehr, sie waren ein träges, gefühlloses Anhängsel an einem zerstörten Körper geworden. Das war angenehm, und für einen Moment schloss sie die Augen, um nur ihre Beine wahrzunehmen. Der Rest ihres Körpers war ihr egal. Da wurden ihre Füße warm.

Sie erinnerte sich an Woodstock, an ein grünes Badezimmer und an ein heftiges Gefühl von Einsamkeit.

»Steh jetzt auf!«

Sie stand auf.

Es hatte angefangen zu schneien. Leichte weiße Flocken wirbelten um sie herum.

Langsam humpelte sie zurück zur Hütte und hielt auf der Brandstätte Ausschau nach etwas, das sie verwenden könnte, etwas, um sich damit zu bedecken, etwas, worin sie ein wenig Wärme finden könnte. Aber alles war nur schwarz, verbrannt und unbrauchbar.

Wieder drehte sie sich zu der Felskuppe um, wo die Rentiere unterwegs gewesen waren. Sie waren vielleicht noch immer dort, aber jetzt schneite es so heftig, dass sie nur einige Meter weit blicken konnte.

Sie weinte, das merkte sie jetzt. Das war dumm und unnötig. Außerdem konnte sie nicht weinen, da war sie sich ganz sicher, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, weshalb.

Aber sie weinte.

Und dann sah sie ein Stück vor sich eine Geröllhalde, das konnte sie gerade noch erkennen. Jemand hatte die Steine sorgfältig in einer Art Ring aufeinandergelegt, es war ein niedriger, mit Moos überwachsener Steiniglu. Langsam ging sie darauf zu. Es war nur eine Geröllhalde, das sah sie ein, aber trotzdem schaffte sie es, auf die andere Seite zu gehen.

Eine Tür.

Niedrig und schlicht, grob zurechtgehauen und mit Angeln, die uralt aussahen.

Kein Schloss. Die Tür war nur mit einem Riegel versperrt. Sie hob ihn an, obwohl ihr eigentlich die Kraft dazu fehlte, öffnete die Tür, obwohl die viel zu schwer war. Sie musste sich bücken, um hineinzugehen, und sie ließ die Holztür hinter sich zufallen.

Drinnen war es stockfinster.

Aber es schneite nicht.

Selma kniff die Augen so fest zu, wie die Schmerzen das erlaubten. Als sie sie wieder aufschlug, konnte sie die Umrisse eines Bettes sehen.

Eines Bettes.

Sie ließ sich hineinfallen. Die Matratze war ein riesiger Sack voller Stroh oder Heidekraut oder etwas anderem, das stach, aber das spielte keine Rolle. Am einen Ende lagen zwei Decken. Wolldecken. Selma wickelte sich mit starr gefrorenen Fingern hinein, griff nach einem Fell, das sie für ein Rentierfell hielt, und zog es auf ihren zusammengekrümmten Leib.

Draußen heulte der Wind. Drinnen roch es nach Pisse. Die Schmerzen nahmen zu.

Selma spürte eine unendliche Trauer darüber, verlassen zu sein.

Sie erinnerte sich plötzlich an einen Mann, Jesper Jørgensen hieß er, und er hatte ihr einen Auftrag erteilt. Ihr fiel ein, dass sie eine Tochter hatte. Anine, die niemals richtig zu Selma gehört hatte. Es gab auch einen Sohn, aber an dessen Namen konnte sie sich unmöglich erinnern.

Dann war da noch etwas mit Nüssen, und Anine war immer schon schwierig im Umgang gewesen.

Die Schmerzen drohten sie zu ersticken.

Aber sie fror nicht mehr. Und sie schlief ein.