Suppe

Selma war nicht tot.

Es fühlte sich so an, aber nachdem sie einige Sekunden wach gewesen war, merkte sie, dass sie nicht mehr mit den Zähnen klapperte. Nicht, weil sie gerade erfror, was, wie sie einmal gelesen hatte, am Ende ziemlich angenehm sein konnte, wenn die Kälte zupackte und man von einer trägen, imaginären Wärme aus dem Leben gelotst wurde.

Es war ganz einfach wärmer geworden in der Steinhütte.

Nicht sehr viel wärmer, aber sie begriff es, als sie sich über die Bettkante beugte und nach dem Topf tastete. Er enthielt noch etwas Wasser. Kein Eis.

Sie schaute aus zusammengekniffenen Augen zum Ofen hinüber.

Durch die Lüftungsklappe in der Tür fiel ein schwaches oranges Licht. Es flackerte nicht. Das Feuer war heruntergebrannt, aber die Reste schwelten noch immer. Die Kerze war kleiner geworden, aber nicht sehr viel. Sie konnte nicht lange geschlafen haben. Langsam setzte sie sich auf und fühlte sich seltsamerweise besser. Stärker. Sie trank das restliche Wasser aus dem Topf und zog die Decken fester um sich. Vorsichtig fuhr sie mit der Hand über den tiefen Riss im Hinterkopf und hielt die Finger dann in den Lichtschein. Kein Blut, meinte sie. Es tat auch nicht mehr so weh.

Im Bett unter ihr, auf der Strohmatratze, war es nass. Sie senkte den Kopf zu ihrem Schritt und schnupperte.

Pisse. Sie hatte sich im Schlaf bepinkelt. Der dunkle Fleck, den sie sah, als sie sich aufrichtete, machte es schwer zu beurteilen, ob der Urin blutig war. Sie griff nach dem Roman von Kim Småge, riss das hinterste Blatt heraus, presste es auf die nasse Stelle, hob das Papier hoch und hielt es ins Kerzenlicht. Der Fleck war gelbbraun. Vor allem gelb, nicht so sehr braun. Sie hoffte, die dunkle Färbung käme von zu wenig Flüssigkeit, nicht von ruinierten Nieren.

Sie drehte die Matratze um und schleppte sich zum Ofen. Der Eimer war leer, aber der Holzstapel dahinter war noch ziemlich hoch. Sie schob zwei weitere Scheite in die Glut, schloss die verrußte Tür und setzte sich wieder ins Bett.

Es war so seltsam, Hunger zu haben.

Sie wusste, dass ihr Blutzuckerspiegel absackte und dass das niedrige Glukoseniveau im Blut ihr Gehirn dazu brachte, Signale auszusenden, die Nahrung verlangten. Viele Mitteilungen, immer wieder, das Schwindelgefühl kam nicht nur von dem Schlag gegen den Kopf, sondern auch vom Mangel an Energie. Normalerweise wartete Selma niemals ab, bis sie wirklich ausgehungert war, und sie aß sich nur selten durch und durch satt. Ein langes Leben mit viel Training hatte sie gelehrt, ihren Stoffwechsel im Gleichgewicht zu halten.

Das hier war kein normales Hungergefühl.

In ihrem Zwerchfell hockte ein wütendes Nagetier und fraß sie auf.

Die beiden Dosen mit Tomatensuppe standen vor ihr. Sie musste einen Öffner finden und schaute sich um. Außer dem Kasten, den sie bereits von der Wand gerissen hatte, gab es kein weiteres Regal, kein anderes Versteck außer dem Eimer, der das Holz enthalten hatte und von dem sie wusste, dass er jetzt leer war. Sie kam auf die Idee, einen Stein aus der Mauer zu reißen und damit ein Loch in die Blechdosen zu schlagen, aber sie wusste nicht, ob ihre Kraft ausreichen würde. Sie griff nach der einen Dose, und im Zwielicht fiel ihr jetzt erst auf, dass diese auf dem Kopf stand. Als sie die Dose umdrehte, überkam sie eine dermaßen intensive Erleichterung, dass die Kopfschmerzen für einen Moment den Zugriff auf ihren Schädel verloren.

Die Büchse hatte einen Zugring.

Ihre Finger machten sich an dem Metallring zu schaffen. Als sie ihn gepackt hatte, erstarrte sie. Es kam ja vor, dass der Ring abbrach, ohne dass sich der Deckel aus der Dose löste. Sie versuchte sich zu erinnern, wie sie das Problem am besten lösen könnte, aber ihr Gehirn machte nicht mit. Ihr war schlecht vor Sehnsucht. Suppe, sagte es in ihrem Kopf.

»Suppe«, flüsterte Selma.

Vorsichtig, aber gleichzeitig energisch, zog sie an dem Ring, während sie mit dem Mittelfingerknöchel auf das Metall darunter drückte.

Tiefrote, dicke Suppe offenbarte sich. Fast ein Brei.

Es war eine Heinz-Büchse, und aus irgendeinem Grund konnte sie sich erinnern, dass man diese Suppe, anders als Campbell’s, mit Wasser verdünnen und zudem anwärmen musste, damit sie Wärme geben könnte. In einer warmen Suppe lag Wärme, und in dem kleinen Ofen brannte schon ein Feuer.

Selma legte die Lippen an die scharfe Kante und trank.

Die Suppe füllte ihren Mund. Sie schmeckte salzig und metallisch mit einem Hauch von alter, süßlicher Tomate. Das Biest im Zwerchfell wollte sie zum Schlucken bringen, aber die Übelkeit wollte nicht weichen. Selma kaute Suppe, wieder und wieder, aber ihr Hals verweigerte die Zusammenarbeit. Sie drehte und wendete die Dose, um nach einem Verfallsdatum zu suchen. Sie fand aber keins.

Sie musste schlucken.

Sie brauchte Nahrung.

Salz und Energie. Es steckte nicht viel Energie in einer Tomatensuppe, vielleicht einhundertfünfzig Kalorien pro Dose, möglicherweise nur hundert, aber das war viel besser als nichts. Vielleicht war die Suppe gefährlich. Zu alt. Voll von Blei oder Blech oder was immer dem Brei, den sie nicht hinunterbrachte, den süßen Eisengeschmack verlieh.

Sie fuhr hoch, atmete durch die Nase ein und hielt für einen Moment die Luft an. Schluckte. Langsam floss die Suppe in die Speiseröhre, die sich, zum Nachgeben gezwungen, öffnete. Selma trank noch einen Schluck, sie trank und schluckte, und ehe sie daran denken konnte, etwas aufzubewahren, war die Büchse leer. Sie zog den Deckel ganz ab, kratzte die Büchse aus und leckte den Finger ab. Wieder und wieder. Sie griff nach der anderen Dose, wollte auch die aufmachen, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig daran hindern.

Die wollte sie zumindest aufheben.

Ihr fielen so viele seltsame Dinge ein. Das mit dem Unterschied zwischen den Suppen, zum Beispiel. Aber ihr fiel kein einziger Freund ein.

Doch. Einar. Einar Falsen war ein Freund, und er kümmerte sich um Darius. Er kümmerte sich um ihr Geld. Selma kümmerte sich um ihn.

Sie legte sich zwei Finger an jede Schläfe. Die Kopfschmerzen waren wieder ebenso heftig wie vorhin, aber das Chaos in ihrem Kopf beruhigte sich ein bisschen. Die Dunkelheit lichtete sich. Sie konnte sich nicht länger nur an Wörter, Definitionen und konkrete Gegenstände erinnern, sondern auch an Menschen. Nicht deutlich und weit entfernt von einer eigentlichen Ordnung, aber ihre Erinnerungsfähigkeit kehrte nun zurück.

Selma kannte viele Menschen. Jetzt sah sie Gesichter in rascher Reihenfolge vor sich und murmelte die dazugehörigen Namen in den verräucherten Raum hinaus. Sie lebte getrennt. Sie aß gern indisch und hatte in größerem Stil Geld eines ihrer Mandanten unterschlagen, der sie trotzdem nicht ins Gefängnis geschickt hatte. Jan Morell hieß er, und Selma sank zurück gegen das Rentierfell.

Das Tier in ihrem Zwerchfell hatte sich nun beruhigt.

Eine misslungene Hochzeit und eine gelungene Beerdigung, erinnerte sich Selma.

Ein Auftrag von einem gewissen Jesper, der viel zu jung für sie war.

Der Ofen verzehrte das Holz in beängstigendem Tempo. Sie musste nachlegen und versuchte gleichzeitig, auszurechnen, wie lange der Holzvorrat halten würde.

Das gelang ihr nicht.

Sie stopfte den Eisenofen abermals voll und wollte sich nun nicht mehr länger an irgendetwas erinnern. Sie ließ sich auf das Bett fallen, wollte einfach nicht mehr weiter nachdenken.

Sie hatte mit Jesper Sex gehabt. Mit Jesper, der mit Nachnamen Jørgensen hieß. Der Koch war. Der ihr einen Auftrag erteilt hatte.

Sie hatte mit einem Klienten geschlafen, der ein Vierteljahrhundert jünger war als sie. Selma kniff die Augen zusammen, zum Schutz vor den vielen Erinnerungen, die sich plötzlich ungebeten aufdrängten. Es dauerte unangenehm lange, bis sie wieder wegschlief, von Schmerz, Kälte und von allem, woran sie sich nicht erinnern wollte.

Woran sie sich absolut nicht erinnern wollte.