Herbst

Kleider

Aus dem Rentierfell machte Selma sich Schuhe.

Jedenfalls so etwas Ähnliches. Das Messer aus dem Holzkasten war so stumpf, dass sie versucht hatte, es an einem aus der Mauer gestocherten Stein zu schleifen. Das hatte nichts gebracht, vermutlich, weil Selma nicht die geringste Ahnung vom Messerschleifen hatte. Am Ende konnte sie das Fell dann doch mithilfe des stumpfen Stahls, ihrer Zähne und der groben Kraft, die sie noch immer in Händen und Armen hatte, in zwei einigermaßen gleich große Stücke reißen. Sie stellte einen Fuß mitten auf jedes Stück, faltete sich den Rest um die Beine und wickelte es unter den Knien fest.

Der Eisenofen war tot. Die zweite Stumpenkerze war heruntergebrannt. Es war jetzt kalt in der Steinhütte, aber das Wasser in dem Topf, den sie gefüllt hatte, als das Feuer noch brannte, war flüssig geblieben. Das milde Wetter würde für eine Weile anhalten, und sie trank das Wasser, das sie hatte.

Aus den Wolldecken waren ein Pullover und eine Hose geworden.

Die Hose war sehr einfach. Selma hatte eine Decke in zwei Stücke gerissen und wickelte sich die rechteckigen Stoffstücke um die Beine. Dieses Design würde den Toilettenbesuch leicht machen, denn sie hatte nichts, um den Schritt zusammenzunähen. In die Mitte der anderen Decke hatte sie ein Loch für ihren Kopf gerissen. Ein Poncho, ganz einfach. Es wäre zu kalt, ihn lose hängen zu lassen, deshalb hatte sie Öffnungen für die Unterarme geschnitten, tief unten bei den Hüften, um den Schutz über Schultern und Oberarmen nicht zu verlieren. Danach band sie einen Gürtel aus geflochtenem Bindfaden unten um das provisorische Kleidungsstück. Der grobe Stoff scheuerte auf ihrer Haut. Das tat vor allem an den Brustwarzen weh, die ohnehin noch wund von den Schlägen waren, die sie bezogen hatte, und davon, dass sie für unbekannte Zeit Frost und mangelhafter Hygiene ausgesetzt gewesen waren.

Der Körpergeruch machte ihr nicht mehr besonders viel aus. Anfangs, nach einem oder zwei Tagen, hatte sie ihren Gestank fast nicht ertragen können. Eine Mischung aus Schweiß, Urin, Angst, Feuer und Ruß erregte Übelkeit in ihr. Nachdem sie im Halbschlaf ihr Bedürfnis bei der Tür verrichtet hatte, hatte sich die Lage seltsamerweise gebessert. Im Vergleich zu dem grotesken Schleimhaufen duftete sie wie Lavendel.

Und jetzt würde sie diesen Ort verlassen.

Sie blieb für einen Moment stehen, ehe sie die Tür öffnete.

Diese Hütte hatte ihr das Leben gerettet. Durch die groben Mauern, die sie vor Sturm und Kälte beschützt hatten, und durch wichtige Dinge, die ein Samariter hier hinterlassen hatte. Die helfende Hand eines fremden Menschen, dem Selma niemals begegnen würde.

Jetzt war die Steinhütte leer. Das Holz war verbrannt. Kriminalroman und Kasten an der Wand waren vom Eisenofen verschlungen worden. Vor einer Stunde hatte Selma die zweite ungenießbare Tomatensuppe in sich hineingequält. Sie hatte das Rentierfell ruiniert, um Schuhe daraus zu machen, und die Decken nahm sie mit.

Ein Kerzenstummel und einige Streichhölzer waren alles, was sie hinterließ.

Wenn sie raten müsste, dann hatte sie drei Tage hier verbracht. Es konnten auch fünf sein, aber nun, da ihre Argumentationsfähigkeit auf dem Weg der Besserung war, bezweifelte sie, dass die begrenzte Menge an Holz so lange gereicht haben könnte.

Ihr Körper tat jedenfalls nicht mehr so weh wie vor einigen Tagen. Sie war stocksteif, und noch immer konnte hinter ihren Augen jederzeit ein stechender Schmerz losbrechen. Aber nicht oft. Sie hatte so viel Wasser wie möglich getrunken, mehrere Tage lang. Der Hunger quälte sie nicht mehr so sehr. Die Tomatensuppe, die sie diesmal verdünnt und im Kochtopf aufgewärmt hatte, hatte ihr gutgetan.

Auch ihr Gedächtnis kehrte jetzt zurück. Noch immer erschien Selma ihr Leben wie ein unfertiges Puzzlespiel, mit etwas zu vielen weißen Stellen. Der Versuch, die fehlenden Stücke ausfindig zu machen, war erschöpfend, aber immer mehr davon legten sich ganz von selbst zurecht. Vor allem, wenn sie sich nicht so heftig anstrengte. Wenn sie schlief. Wenn sie sich auf etwas anderes konzentrierte, wie Suppe in sich hineinzuzwingen oder aus alten Lumpen Kleider zu machen.

Wie sie ins Gebirge geraten war, wer sie zusammengeschlagen hatte und was in den Wochen vor dem Brand in der Hütte passiert war, war noch immer unklar.

Es war Zeit zu gehen.

Sie drehte sich ein letztes Mal um und lehnte die Schulter gegen die Tür. Die gab nach. Frische Luft strömte ihr entgegen und ließ sie tief einatmen, wie nach dem Tauchen. Sie setzte versuchsweise einen Fuß in den feuchten Schnee, der jetzt schmolz. Heidekraut und kleine Gewächse ragten überall empor. Sie ging hinaus und ließ die Tür hinter sich zuschlagen.

Alles war grau und nass.

Eine schwere Wolkendecke verbarg den Höhenzug im Norden, aber es regnete nicht, und der Nebel erlaubte doch einige hundert Meter Sicht. Dennoch fühlte Selma sich bereits nass, die Luft war sehr feucht. Es war, wie in einer Regenwolke zu stehen, die sich noch nicht geöffnet hatte. Sie machte einige vorsichtige Schritte in Richtung der Brandstätte. Die lag jetzt fast bloß. Kamin und Schornstein ragten schwarz und drohend gen Himmel, aber ansonsten war alles abgebrannt. Der Volvo, der einmal rot und Selmas schönstes Besitzstück gewesen war, war jetzt ein Kadaver aus schwarzem Stahl und verbranntem Kunststoff. Die Reifen waren im Feuer geschmolzen. Die Karosserie sah aus, als habe das Fahrzeug sich zum Sterben hingelegt.

An der Brandstätte gab es vielleicht nützliche Dinge, und es wäre vernünftig, dort nach etwas Brauchbarem zu suchen. Oder nach etwas Essbarem. Obwohl sie sich erinnerte, dass die Küche leer gewirkt hatte, konnte sie ein Konservenlager übersehen haben. Vielleicht unter dem Spülbecken oder oben im Schrank, den sie rasch für leer befunden hatte, den zu untersuchen ihr aber eigentlich keine Zeit geblieben war.

Konservendosen wären bei einem Brand geborsten.

Messer, vielleicht. Ein Messer könnte sie gebrauchen.

Sie brauchte kein Messer. Selma musste zu Menschen gelangen, das brauchte sie. Zu einem Telefon, um jemanden vor etwas zu warnen, das passieren würde, nur konnte sie sich nicht erinnern, was das sein sollte.

Es war so still. Sie konnte nur ihren eigenen Atem und ihre Schritte im Heidekraut hören, als sie sich dem Autowrack näherte.

»Hardangervidda«, flüsterte sie und blieb stehen.

Sicher war sie sich nicht. Dass in der Hütte eine Zeitung aus dem Hallingdal gelegen hatte, brauchte nichts zu bedeuten. Aber sie konnte hoffen.

Finnmarksvidda wäre schlimmer. Einsamer.

Gietnjojávrrit, fiel ihr ein. Norwegens einsamster Ort, glaubte sie sich zu erinnern, ohne zu wissen, weshalb. Mitten in der Hochebene zwischen Kautokeino und Karasjok, fast dreißig Kilometer entfernt vom nächsten von Menschen geschaffenen Ort.

Selma konnte nicht begreifen, weshalb sie sich an Wörter und Tatsachen erinnern konnte, aber keine Ahnung hatte, warum sie sich hier draußen befand.

Dreißig Kilometer könnte sie gehen. Klar könnte sie dreißig Kilometer fast ohne Kleider und mit Fellstücken um die Füße wandern, da war sie sich sicher, wenn nur kein Frost kam, kein Schnee und kein Wind. Dreißig Kilometer waren bei diesem Wetter zu bewältigen, und sie war bestimmt nicht in Gietnjojávrrit, an Norwegens einsamstem Ort. Sie war auf der Hardangervidda, Europas größter Hochebene, anderthalbmal größer als Finnmarksvidda. Vielleicht war sie im Nationalpark.

Vielleicht nicht.

»Mach, dass es die Hardangervidda ist«, schrie sie plötzlich. »Lieber Gott! Mach, dass das hier die Hardangervidda ist!«

Diese Gegend war beliebt. Viel besucht. Sie könnte Menschen finden auf der Hardangervidda. Alle reisten dauernd auf die Hardangervidda. Kaum jemand im ganzen Land zog nicht alle naselang Richtung Hardangervidda. Selma könnte Hütten finden, moderne Hütten, auch wenn das Gelände riesig war. Es gab Wanderwege kreuz und quer, gekennzeichnete Loipen überall, ausgeschilderte Pfade, die ihr den Weg nach Hause weisen könnten. Der Touristenverein hatte Menschen hergelockt, gerade hierher, seit Generationen. Sie könnte Jäger mit heißem Kaffee in der Thermoskanne treffen, im Herbst wurde Jagd auf Schneehühner gemacht, und sicher auch auf Rentiere.

Es war Herbst. Vielleicht war September, vielleicht auch Oktober. Selma weinte und konnte nicht begreifen, woher die Tränen kamen.

»Lieber Gott«, schluchzte sie. »Lieber Gott. Mach, dass ich auf der Hardangervidda bin. Hier sind noch andere Menschen.«

Sie musste gehen. Es wurde Zeit, mit der Wanderung zu beginnen, und sie schlug einfach irgendeine Richtung ein. Nach einigen Metern in Richtung Süden überlegte sie sich die Sache anders. Sie erinnerte sich aufgrund der Lage der Hütte an die Himmelsrichtungen und wandte sich deshalb nach Osten. Oslo lag im Osten. Im Südosten. Und lange vor Oslo würde sie auf Leute stoßen. Auf Hütten, gut ausgestattete Hütten, auf Menschen mit Heizungen und Essen und Handys.

Der Bindfaden unter dem linken Knie lockerte sich bereits.

Selma öffnete die Knoten und band alles aufs Neue zusammen. So fest, dass es wehtat. Als sie sich aufrichtete, wusste sie nicht mehr, wo Osten war, sie ging jedoch weiter. Der Nebel wurde dichter, das Gelände war flach. Ein wenig hoch, ein wenig runter und enttäuschend rasch wieder hoch. Sie musste nach unten, dass wusste sie, in tiefer gelegenes Terrain. Sie musste gehen, bis sie merkte, dass sie bald ein Tal und höhere Bäume erreicht haben würde.

Es war unmöglich zu wissen, wie lange sie schon unterwegs war.

Die Wolken entließen endlich ihre Feuchtigkeit. Ein leichter Nieselregen fiel. Der Nebel lichtete sich ein wenig, als sie stehen blieb, um noch einmal das Fell um ihre Beine festzubinden.

Als sie sich aufrichtete, sah sie den Wolf.

Grau und mager, mit gesenktem Kopf stand er knapp fünfzig Meter von ihr entfernt. Der Schreck lähmte sie. Der Wolf kam näher. Er hatte den Kopf noch immer gesenkt, aber sein Blick hielt ihren fest. Jetzt war die Bestie so nahe, dass Selma glaubte, den Geruch ihres ausgehungerten Atems wahrzunehmen.

Der Wolf blieb stehen.

Sein Blick war blassblau, und als Selma schon glaubte, ihr Herz werde gleich zerspringen, fiel ihr ein, an wen die Augen des Tieres sie erinnerten.

Tryggve Mejer, dachte sie, und das verschlug ihr den Atem.

Alles wurde schwarz. Die Beine gaben unter ihr nach.

Abermals verschwand Selma in einer segensreichen leeren Dunkelheit.