Herbst

Die rote Hütte

Selma Falck erwachte auf etwas Hartem.

Einem Fußboden, entdeckte sie, als sie die Augen öffnen konnte. Ihr Körper lag zur Hälfte auf dem Holz, mit der anderen auf einem Flickenteppich. Sie lag in Embryostellung da, und etwas Warmes, Zottiges schmiegte sich an ihren Rücken. Der Wolf, fiel ihr ein, und sie setzte sich auf.

Der Hund tat es ihr nach. Er fiepte und wedelte mit dem Schwanz und versuchte, ihr Gesicht zu lecken.

»Hör auf«, murmelte Selma und wich zurück. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern.

Sie war eingeschlafen. Im Schnee. Im Schneegestöber, das immer heftiger wurde. Der Hund hatte sie gebissen.

Selma öffnete wieder die Augen. Von den Hundezähnen hinterlassene blaue Flecken waren auf jeder Seite ihrer Unterarme deutlich zu sehen. Die Eckzähne hatten sich am deutlichsten eingeprägt. Sie strich sich vorsichtig mit den Fingern über die nackte, wunde Haut.

Der Hund hatte sie überhaupt nicht gebissen, das wusste sie jetzt wieder. Er, oder vielleicht war es eine Sie, hatte versucht, sie mit sich zu ziehen, hatte es auch geschafft, einen oder zwei Meter, dann war der Schmerz in ihren Armen so schlimm gewesen, dass sie zu sich gekommen war. Mit einem letzten Rest von Lebenswillen hatte sie sich aufgerappelt, war zur Hütte geschwankt, der roten Hütte mit dem Schornstein, aus dem Rauch aufstieg, wie sie glaubte. Das Schneegestöber wurde immer heftiger, aber sie hatte es bis zur Haustür geschafft.

Die abgeschlossen war.

Sie hatte geklopft.

Der Hund hatte gebellt.

Selma hatte geschrien, so laut sie konnte, sie stand draußen in Schnee und Kälte und hätte schwören können, dass Rauch aus dem Schornstein aufstieg. Jemand war im Haus. Dort war es warm. Irgendwer musste aufmachen, und sie hämmerte an die Tür und heulte im Chor mit dem zottigen, grottenhässlichen Wolfshund.

Niemand kam.

Niemand war da.

Das Gefühl, einfach aufzugeben, war angenehm gewesen. Im Unvermeidlichen lag Trost, sie kämpfte nun schon zu lange. Das Leben war zu Ende, und sie nahm es mit segensreicher Ruhe hin. Nur ein vages Glühen lag irgendwo hinter ihrem Herzen, und sie sank auf der Treppe in sich zusammen. Lehnte den Rücken an die weiß gestrichene Tür, zog die Beine an und legte den Kopf zwischen ihren Knien zur Ruhe. Die Überreste des Ponchos hingen lose um sie herum, sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich hineinzuwickeln.

Sie wollte die Augen schließen und sterben, aber ein letzter Blick landete auf einem kleinen Kasten neben der Treppe. Der sah aus, als wäre er von der Wand gefallen. Eine Art Briefkasten, auch wenn niemand hier oben einen solchen benötigte. Der Kasten war grün und mit einem altmodischen Posthorn in verblichener Goldfarbe bemalt.

Auf der Hochebene wurde keine Post ausgetragen.

Sie beugte sich über den Rand des großen Steinquaders, der die oberste Treppenstufe darstellte. Der Deckel des Kastens ließ sich problemlos öffnen.

Und darin lag ein Schlüssel.

Mehr wusste sie nicht mehr.

»Wau«, sagte der Hund zu Selma, die noch immer auf dem Boden saß.

»Selber wau«, murmelte sie und versuchte, sich aufzurichten.

Sie musste die Tür aufgeschlossen haben. Sie musste ins Haus gegangen sein. Die Haustür war zu, und der Hund war drinnen, sie war offenbar bei Bewusstsein gewesen, als sie den Schlüssel gefunden und begriffen hatte, dass das Leben doch noch eine Runde weitergehen könnte.

Sie konnte sich nur einfach nicht daran erinnern.

Selma hatte von Leuten gehört, die hier oben in den Bergen ihre Schlüssel leicht zugänglich aufbewahrten. Das konnte Leben retten, so wie jetzt. Es konnte die Hütte auch vor Einbrüchen bewahren; falls jemand über die Hochebene wanderte, um etwas zu stehlen, war es ja nur gut, dass nicht auch noch Türen und Fenster beschädigt wurden.

Es gelang ihr, auf die Beine zu kommen, indem sie sich auf einen Schaukelstuhl stützte.

Das hier war eine richtige Hütte, größer als die, in der sie nackt und ohne Erinnerung aufgewacht war, und nicht ganz so schlicht. Die kleine Sitzgruppe war neuer, die Wolldecken einfarbig. Als sie danach griff und zwei um sich herumwickelte, fühlten sie sich weich auf ihrer Haut an. Unter der Decke hing eine Plafondlampe, kein aus einem Hirschgeweih hergestellter Kronleuchter mit einer Kerze in der Mitte wie in der letzten. An den Wänden gab es Steckdosen, aber sie sah keine Heizkörper, überhaupt keine Wärmequellen, nur den obligatorischen norwegischen Hüttenkamin.

Aber etwas glühte. Es war unmöglich zu begreifen.

Eine Menge Asche und zwei verkohlte Holzscheite lagen ganz hinten im Kamin, aber unter dem schwarzen Berg schwelte es tatsächlich. Selma stolperte zum Kamin und stützte sich auf den grob gemauerten Schornstein. Der fühlte sich warm unter ihrer Hand an, jedenfalls nicht kalt. Sie entfernte den großen Funkenfänger, zog einen Schürhaken aus einem Eisengestell und stocherte damit in der Asche. Ein kleiner oranger Funkenschwarm stob auf und erstarb, noch während er hinunterfiel.

Jemand musste hier gewesen sein. Vor kurzer Zeit.

Selma wäre fast auf Menschen gestoßen. Sie mussten es gewesen sein, die sie gehört hatte. Diese Menschen waren nicht mehr hier. Sie waren weggegangen, und das konnte noch nicht lange her sein. Zwei Stunden vielleicht. Vermutlich weniger. Sie legte sich die Hand über die Augen, die auf wunderbare Weise nun doch Tränen vergießen konnten.

Das quälte sie mehr als die Schmerzen, denn Weinen war unerwünscht und ungewohnt zugleich. Eine Steifheit hatte sich in ihrem Körper festgesetzt und machte es schwer, sich zu bewegen, aber das viele, was wehtat, war inzwischen zu einem Teil von ihr geworden. Zu einem Normalzustand. Sie band sich die Decke um die Schultern, wie einen Umhang, griff nach einer Zeitung, die im Brennholzkasten steckte, riss die Seiten auseinander und knüllte sie zusammen. Ihre Hände zitterten so heftig, als sie das Papier in den Kamin legte, dass ihr alles aus den Fingern fiel. Mit dem Schürhaken schob sie die Zeitung in die Asche. Die loderte auf. Zwei kleine Holzscheite, die schräg übereinander an der Kaminwand lehnten, fingen sofort an zu brennen, als sie sie auf das entzündete Papier legte und sanft ins Feuer blies. Selma richtete sich auf.

Der Hund fiepte.

»Bist du Männlein oder Weiblein?«, murmelte Selma.

Der Hund gab keine Antwort. Selma schaute nach.

»Männlein. Du siehst aus wie ein Wolf. Ein Canis lupus. Lupus, so sollst du heißen. Hier ist es dunkel.«

Es konnte unmöglich bereits auf den Abend zugehen. Sie hatte die Steinhütte frühmorgens verlassen, und sie war nicht den ganzen Tag unterwegs gewesen. Das hätte sie niemals überlebt. Bestimmt hatte der Sturm das Tageslicht erstickt.

Selma schaute sich ein weiteres Mal um.

Das Wohnzimmer war ein wenig größer als das in der abgebrannten Hütte. Eine dunkelblaue Sitzgruppe mit einem bemalten Couchtisch stand in der einen Ecke. Mensch ärgere dich nicht , Monopoly und Diamantenjagd lagen darauf, die kleinste Schachtel oben, die größte unten. Unter den Fenstern auf der anderen Seite stand ein gefülltes Bücherregal. Auf der anderen Seite gab es einen kleinen Esstisch mit vier Holzstühlen. An den Wänden hingen drei Gemälde einer Landschaft, wie sie vermutlich bei gutem Wetter in der Nähe der Hütte aussah. Alle gleichermaßen dilettantisch scheußlich.

Neben dem Ausgang gab es zwei weitere Türen im Zimmer, eine auf jeder Seite des Kamins. Sie nahm an, dass die Tür, die neben dem Esstisch zu sehen war, in die Küche führte. Sie stand halb offen.

Selma konnte fast nicht gehen, ihre Muskeln wollten nicht. Sie konnte die Beine nicht mehr heben, schob die Füße vor sich her und stützte sich auf alles, was sie gerade finden konnte.

Aber sie hatte richtig geraten. Es war eine kleine Küche. Auch die war größer als die andere. An der Leiste neben der Tür war ein Lichtschalter angebracht. Selma drückte darauf, aber nichts passierte. Ein alter Herd mit einem kleinen Backofen und zwei Kochplatten stand auf der einen Seite.

»Hier muss es doch Strom geben«, sagte Selma zu Lupus.

Der Hund stand in der Türöffnung und starrte sie an.

Selma schleppte sich zum Spülbecken und drehte den Wasserhahn auf. Aber auch da passierte nichts.

Neben der Anrichte hatte jemand vor kurzer Zeit einen Schrank gezimmert. Die Bretter waren heller als der Rest der Einrichtung, und noch immer roch es ein wenig nach frisch gesägtem Holz. Selma öffnete die Schranktür.

»Lieber Gott«, flüsterte sie. »Danke.«

Lupus knurrte, aber das war ihr jetzt egal.

Der Schrank war mit Lebensmitteln gefüllt. Rentierfrikadellen und Trøndereintopf, Erbsen und vier Büchsen Spargelsuppe. Eingemachte schwedische Fleischklößchen und ein Glas mit etwas, das aussah wie Rote Bete. Es gab Knäckebrot, drei volle Packungen verschiedener Varianten. Leberwurst, die grobe Sorte in kleinen Portionspackungen. Saure Gurken und Makrele in Tomate. Selma zählte achtzehn Konservendosen, ehe sie eine Packung Jaffakekse entdeckte und aufriss. Drei Kekse fielen zu Boden. Der Hund stürzte sich darauf, ehe Selma reagieren konnte.

»Ich glaube nicht, dass Hunde Schokolade vertragen«, jammerte sie mit vollem Mund.

Wölfe aber vielleicht doch.

Selma wurde es schwindlig. Jede Menge Kakao und trockene, mit zäher Orangenmarmelade gefüllte Kekse wollten nicht durch die Speiseröhre. Sie steckten ihr im Hals fest, klebten am Gaumen, sie bekam keine Luft, und sie musste sich an der Anrichte festhalten und den Boden anstarren, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Ihr Blick fiel auf das unterste Fach.

Sie lachte. Schluckte und lachte und schluckte wieder. Sie hustete und würgte und erbrach sich, bis sie einen Krampf im Zwerchfell hatte und grüne Galle mit Schokoladenstreifen kotzte. Lupus wich langsam zurück. Er legte sich mit dem Kopf zwischen den Pfoten auf den Wohnzimmerboden.

Selma wischte sich den Mund, sie lachte noch immer, heiser und leicht hysterisch.

Im untersten Fach in dem frisch gezimmerten Schrank standen fünf große Flaschen Pepsi Max. In Reih und Glied. Neben einem ungeöffneten Sack Hundefutter.