Die Fotografie

Draußen wurde es jetzt hell. Selma erwachte und schaute automatisch auf ihr Handgelenk, aber sie hatte die Uhr am Vorabend abgelegt.

Sie hatte am Abend zuvor alles abgelegt, und sie wusste jetzt, dass Jesper Jørgensen ganz und gar lautlos schlief. Wie ein Toter lag er da, auf dem Bauch, den Kopf auf dem Unterarm, nur halbwegs zugedeckt. Der Schlangenkopf lugte unter seiner Wange hervor, aber die weit offenen Teufelsaugen sahen nicht mehr so unheimlich aus. Jespers Wimpern waren so lang, dass sie im Laufe der Nacht durcheinandergeraten waren.

Er sah aus wie ein Teenager.

Anfang August ging die Sonne gegen fünf auf, und Selma vermutete, dass es jetzt Viertel vor war. Sie war hellwach und verspürte eine willkommene und vertraute Ruhe. Ungefähr wie nach den besten Pokernächten oder wie in den alten Tagen, wenn sie in der Verlängerung ein wichtiges Handballspiel gewonnen hatten.

Endorphine, das wusste sie, und ihr Körper schien davon noch immer erfüllt zu sein. Sie hatte außerdem Durst, ziemlichen Hunger und musste dringend aufs Klo. So leise sie konnte stand sie auf. Sie hätte für einen Moment fast das Gleichgewicht verloren und musste sich an der Wand abstützen. Eine der großen Fotografien löste sich und fiel zu Boden. Selma hob sie auf. Sie konnte die Heftzwecke nirgendwo sehen, die war sicher unters Bett gerollt.

Der Vorhang wehte, und das Morgenlicht fiel auf das Bild in ihrer Hand.

Anine sah wirklich glücklich aus. Schön, mit ihren blonden Haaren, die so ganz anders waren als Selmas dunkelbraune, in lockeren, üppigen Locken über einem in New York maßgeschneiderten Brautkleid. Der Blick, mit dem sie Sjalg bedachte, war bewundernd und dankbar. Liebevoll. Es war überhaupt ein wunderbares Bild von zwei jungen Menschen am größten Tag ihres Lebens. Sjalgs erhobenes Wasserglas gab das intensive Sonnenlicht weiter an Anines Diadem. Das konnte nicht echt sein, die vielen Diamanten hätten Millionen gekostet.

Diadem, dachte Selma, plötzlich genervt.

Alberner Tand.

Der Anblick des halb vollen Wasserglases erinnerte sie daran, warum sie aufgestanden war. Als sie das Foto schon auf den Nachttisch legen wollte, um den Morgenrock überzustreifen und aufs Klo zu gehen, erstarrte sie.

Etwas stimmte nicht mit Sjalgs Glas.

Etwas stimmte überhaupt nicht.

Selma nahm keine Rücksicht mehr auf Jesper. Sie riss sechs weitere Fotos von der Wand, so achtlos, dass weitere Heftzwecken zu Boden fielen. Ohne sich darum zu kümmern, packte sie ihren Morgenrock und ging in die zum Wohnzimmer hin offene Küche. Die Tür zum Schlafzimmer blieb hinter ihr offen stehen. Sie legte die Bilder auf die Anrichte, knipste die Lampen unter dem Hängeschrank an und zog den Morgenrock an, ohne die Augen von Sjalgs Glas zu lösen.

Am Tag der Hochzeit war es so heiß gewesen.

Sehr heiß, über dreißig Grad und windstill.

Im Restaurant hatten sie kein Pepsi Max gehabt, und noch vor dem Essen waren ihnen die Eiswürfel ausgegangen. Die Gäste waren zu früh betrunken, weil sie ihren Durst mit Champagner und Weißwein löschen mussten, und Selma hatte sich mit lauwarmer, süßer Traubenlimonade der Marke Mozell zufriedengeben müssen. Das Fotografieren des Brautpaars hatte länger gedauert als verabredet, hatte jemand vom Personal mit bedauerndem Lächeln erklärt.

In Sjalgs Glas waren Eiswürfel.

Davon war Selma überzeugt. Es war das Eis, nicht das Wasser oder das Glas, das die Sonnenstrahlen an Anine weitergab.

Selma legte die Fotos nebeneinander. Sie konzentrierte sich zum ersten Mal auf alle Wassergläser, die vor dem Brautpaar und alle anderen, die sie sehen konnte.

Sjalg war der Einzige, der Eiswürfel hatte.

Selma blinzelte. Vielleicht irrte sie sich.

Sie hätte eine Lupe haben müssen. Der Einzige, den sie kannte und der eine besaß, war Einar, und dorthin wollte sie nicht. Sie lief ins Schlafzimmer. Jesper schlief noch immer in derselben bewegungslosen Stellung. Selma nahm ihr iPad vom Nachttisch und ging zurück ins Wohnzimmer. Diesmal schloss sie die Tür, setzte sich aufs Sofa, legte die Füße auf den Tisch und öffnete das riesige Dokument mit den Hochzeitsbildern, das Runhild Petterson ihr geschickt hatte. Sie brauchte zehn Minuten, um das Bild zu finden, dessen Ausdruck sie eben untersucht hatte. Es war auch in normalem Format ziemlich scharf; ebenso schön, hell und erfüllt von Sommerglück. Mit Daumen und Zeigefinger vergrößerte sie das Wasserglas. Es wurde immer grobkörniger.

Sie konnte recht haben, sah aber ein, dass sie nicht sicher sein konnte.

»Jesper«, rief sie.

Kein Laut aus dem Schlafzimmer.

»Jesper!«

Noch immer tiefe Stille. Sie stand auf, holte die Kopien von der Anrichte und ging noch einmal ins Schlafzimmer. Sie setzte sich auf die Bettkante und streichelte seine Haare.

»Jesper«, sagte sie noch einmal.

Er grunzte, schob ihre Hand weg, suchte nach dem Kissen und zog es sich über den Kopf. Er drehte ihr seine Rückseite zu und stopfte sich die Decke in den Rücken wie einen Schild gegen diese unwillkommene Störung.

Genau wie Johannes, dachte Selma.

Ihr Sohn. Die vielen Sonntagmorgen, wenn sie sich geweigert hatte, ihn den ganzen freien Tag im Bett vergeuden zu lassen. Da war er siebzehn oder so gewesen.

Plötzlich waren alle Endorphine aus ihrem Körper verschwunden, und sie stand wieder auf.

»Jesper«, sagte sie mit scharfer Stimme. »Aufwachen. Ich muss dich etwas fragen.«

Er gab keine Antwort. Seinem regelmäßigen Atem entnahm sie, dass er schon wieder eingeschlafen war. Genau wie Johannes.

»Das ist wichtig«, sagte sie laut. »Ich weiß noch, dass ich um Eiswürfel gebeten hatte, und irgendwer von euch hat gesagt, ihr hättet keine mehr. Weißt du etwas darüber?«

Als er noch immer keine Antwort gab, riss sie ihm die Decke weg. Er wimmerte und kroch in Embryostellung zusammen, noch immer mit dem Kissen über dem Kopf.

»Ja«, hörte sie tief in der Matratze.

»Wann ist das passiert?«

Jesper setzte sich widerwillig auf, zog die Decke um sich, stopfte sich das Kissen in den Rücken und rieb sich demonstrativ die Augen.

»Wie spät ist es, zum Teufel?«

»Kurz nach fünf. Aber antworte bitte.«

Er gähnte, lächelte verschlafen und streckte träge eine Hand nach ihr aus.

»Leg dich doch wieder hin.«

»Nein.«

»Doch.«

Selma stand auf.

»Das ist wichtig, Jesper. Ich muss wissen, ob euch noch vor dem Essen die Eiswürfel ausgegangen sind.«

Er kratzte sich träge zwischen den Bartstoppeln.

»Ja, so war das. Die gingen so schnell weg, dass die Eismaschine nicht mehr mitkam. Außerdem war es verdammt heiß, und das Brautpaar kam und kam ja nicht. Die waren fast eine Stunde zu spät.«

»Ihr hättet doch jemanden losschicken können, um Nachschub zu besorgen?«

»Das haben wir auch. Einer von den Jungs ist mit meinem Firmenwagen zum nächsten Laden gefahren, um dreißig Säcke Mr. Iceman zu kaufen.«

Er klopfte aufmunternd neben sich auf das Laken und grinste. Selma ignorierte ihn.

»Schöner Morgenrock«, sagte er. »Zieh den aus.«

»Wann ist er zurückgekommen?«

»Nie.«

»Was?«

»Die Scheißkarre ist liegen geblieben, und ehe der Typ einen Abschleppwagen holen konnte und zurückkam, ohne Eiswürfel, war der Bräutigam tot und die Party zu Ende.«

Selma sah ihn bewegungslos an. Er starrte zurück.

»Was ist los?«

»Schau dir das an«, sagte sie und reichte ihm das iPad. »Zuerst das Bild, wie es ursprünglich war.«

Er griff nach dem iPad und sah das Bild ohne Interesse an.

»Das Brautpaar«, sagte er. »Das war wohl direkt bevor er gestorben ist. Oder so. Ich war nicht dabei, ich war in der Küche.«

»Mach das Wasserglas größer«, sagte sie. »Das er in der Hand hält.«

Jesper legte zwei Finger auf das iPad und tat, wie ihm geheißen.

»Verdammt. Sind das da Eiswürfel?«

»Ich glaube schon. Und nur er hat welche. Das siehst du hier und hier und hier.«

Sie verstreute die übrigen Bilder auf dem Bett. Er sah sie an und kehrte zu dem iPad zurück.

»Aber … was bedeutet das eigentlich? Wie konnte er Eiswürfel haben, wenn sie uns eine Stunde vorher schon ausgegangen waren? Und was hat das überhaupt für eine Bedeutung?«

»Das werde ich feststellen«, sagte Selma. »Und zwar so ungefähr sofort. Schlaf du nur. Ich bin in zwei Stunden wieder da.«

»Aber … wo willst du hin?«

»Ich will Anine besuchen«, sagte sie und ging ins Badezimmer.

»Es ist doch gerade erst fünf!«

Sie würdigte ihn keiner Antwort, sie musste nun endlich aufs Klo.