Berit Ullern

Es gab keine Zweifel mehr.

Tryggve hatte sein Versprechen gebrochen. Die Operation Zerfurcht/Verwittert war in Gang gesetzt worden.

Der Major hatte die ganze Nacht damit verbracht, die in den vergangenen zwei Wochen gesammelten Informationen zusammenzutragen. Indem sie die Nachrichten verfolgt und im Netz gesucht hatte und indem sie ihre Kontakte darauf angesetzt hatte.

Und sie hatte viele Kontakte.

Als sie als junger Leutnant von Ellev Trasop kontaktiert worden war, hatte Berit Ullern sich geehrt gefühlt. Obwohl der damals schon ältere Mann sein Leben im Dienst der Gewerkschaft verbracht und niemals eine militärische Karriere gemacht hatte, war sein Einsatz während des Zweiten Weltkriegs imponierend. Sie hatte Hochachtung vor ihm. Berit selbst war mit sechzehn in die Jugendorganisation der Heimwehr eingetreten.

Als Ellev den Kontakt zu ihr gesucht hatte, war sie siebenundzwanzig gewesen. Das war 1987 , und Briefe wurden damals noch vom Postboten gebracht. Sie war in Bardufoss stationiert. Die Familie in Tønsberg schrieb nur selten. Der Umschlag mit Namen und Dienstgrad, handgeschrieben auf dickem Papier von Alvøen, war so willkommen, dass sie bis zum Schlafengehen damit wartete, ihn zu öffnen. Der Inhalt war kurz und bündig. Sie wurde gebeten, bei der nächsten Gelegenheit einen Tag in Ellev Trasops Hütte in Nordmarka zu verbringen. Was zwei Wochen später tatsächlich stattgefunden hatte, von Donnerstag auf Freitag.

Der erste Abend war nur ein Test gewesen. Das hatte sie bald begriffen. Er verhörte sie. Nach ihrer politischen Haltung, nach persönlichen Interessen und Familienverhältnissen. Die Informationen über Letzteres mochte sie eigentlich nicht unbedingt mit ihm teilen; ihre Eltern hatten sich niemals richtig damit abgefunden, dass ihr einziges Kind nicht Jura studieren und in die renommierte Kanzlei des Vaters eintreten wollte. Sie hatte ihr Leben den Streitkräften gewidmet, und von der Liebesfront gab es peinlich wenig zu berichten.

Und genau auf diese Art von Hintergrund war Ellev Trasop offenbar aus gewesen.

Ihr Aufenthalt dauerte genau vierundzwanzig Stunden. Die Hütte lag in Mylla, einem alten Finnendorf aus dem siebzehnten Jahrhundert, wo sich viele Veteranen der sozialdemokratischen Partei niedergelassen hatten. Ellev Trasops rote Hütte lag ein Stück vom See entfernt. Trotz der dichten Bebauung und der vielen Wanderer in der Umgebung konnten sie die ganze Zeit ungestört miteinander reden. Der damals neunundsechzig Jahre alte Mann war eine Gestalt, die einen noch tieferen Eindruck auf sie machte, als sie erwartet hatte. Vor dem Besuch hatte sie noch einmal seine Biografie gelesen. Das erwies sich als nützlich, als sie sich zwischendurch, wenn er in die Küche oder Holz holen ging, die vielen seltsamen Erinnerungsstücke ansah, mit denen das Zimmer gefüllt war. Da waren Granaten und ein selbst gebautes Radio, ein deutscher Helm, in den hinten vier Totenköpfe eingeritzt waren, ein Gewehr mit vier Kerben im Schaft. In einer unscheinbaren Holzschachtel auf dem Kaminsims, die sie zu öffnen wagte, lag das Freiheitskreuz Haakons VII . Das blaue Band war verschossen, und das ursprünglich weiße Malteserkreuz aus Emaille war fast golden. Berit konnte die Schachtel gerade wieder zuklappen, ehe ihr Gastgeber zurückkam.

Er kam bei diesem Besuch noch nicht zur Sache. Stattdessen hielt er ihr zwischen den Fragerunden Vorträge. Über das Ende des Krieges, die Teilung Europas und die wachsende Furcht vor der Sowjetunion während der ersten Friedensjahre. Über kalten Krieg und heiße Waffen und über seinen eigenen mangelnden Glauben daran, dass das alles nun wirklich dem Ende entgegenging. Glasnost und Perestroika waren ja gut und schön, aber Michail Gorbatschow hatte es viel zu eilig. Ihm würde die Sache entgleiten. Dass im Westen die pure Gorbi-Manie wütete, bedeutete nicht, dass sein eigenes Volk ihn liebte.

»Russland ist Russland«, sagte Ellev Trasop immer wieder. »Und das wird es immer bleiben. Ein großer stolzer, starker und sturer Nachbar. Gefährlich, mit anderen Worten.«

Berit Ullern war damals seiner Meinung gewesen, und sie glaubte noch immer, dass Ellev Trasop recht hatte.

Heute mehr denn je.

Sie schaltete den Rechner aus. Es war bereits halb sechs Uhr morgens, aber sie war nicht müde.

Sie hatte Angst.

Die Leute waren naiv. Russland hatte in den Jahren seit dem Fall der Mauer immer wieder die Spannungen zwischen Ost und West erhöht. Die NATO musste natürlich reagieren, um das Gleichgewicht zu halten. Die Russen rasselten trotzdem weiter mit dem Säbel. Unangekündigte Manöver im Gebiet der NATO . Verschiebung von Material und Truppen, oft insgeheim, einige Male bis in die Grenzgebiete.

Die meisten Norweger begriffen das nicht. Nicht einmal der Überfall auf die Krim und die verdeckte Kriegsführung in der Ukraine wurden ernst genommen.

Sie wussten es nicht besser, hatten keine Ahnung. Und sie wollten es nicht wissen. Sogar im Parlament saßen Leute, die allen Ernstes meinten, Norwegen solle das UN -Traktat über das Verbot von Atomwaffen unterzeichnen. Als ob sich Atomwaffen einseitig entfernen ließen! Als ob irgendeine Nation jemals etwas dadurch erreicht hätte, die Hände zu heben.

Nur Verlierer taten so etwas. Wer die Hände hob, war zum Verlieren verdammt.

Sie goss sich den letzten Rest Kaffee aus einer Thermoskanne ein. Er war lauwarm, und sie trank alles auf einen Zug, erhob sich und reckte den Rücken.

Berit Ullern war jetzt achtundfünfzig. Sie war unverheiratet, kinderlos und gut in Form. Sie sah selten fern, las aber viel, gab alle zwei Jahre ihre Stimme ab, immer für die Konservativen, und besaß eine Fähigkeit zur Diskretion, mit der sie Ellev Trasop schon damals mit siebenundzwanzig Jahren beeindruckt hatte.

Zwei Jahre später, am Tag nach dem Fall der Berliner Mauer, hatte er sie abermals eingeladen.

Im November 1989 hatten sie sich zum zweiten Mal in Mylla getroffen.

Nichts hatte sich verändert, und ihr wurde in groben Zügen erklärt, was von ihr erwartet wurde. Schweigend nahm sie die Befehle entgegen, führte sie bis aufs i-Tüpfelchen aus und beobachtete danach aus der Ferne, wie innerhalb kurzer Zeit alle Stay Behind- Gruppen in Europa aufgelöst wurden.

Bis auf diese eine. Die, die Peder Mejer und Ellev Trasop in ihrer Klarsicht Ende der Achtzigerjahre verborgen hatten. 1991 war die Organisation bereit, und Berit Ullern wurde in das, was einfach nur Rat genannt werden sollte, aufgenommen. Eine schlagkräftige Organisation mit Kapital, Waffen und relevantem Personal. Zur Verteidigung gegen das, was noch immer passieren konnte. Dass Polizei und Militär weiterhin ihre Geheimdienste hatten, war klar, das Problem war, dass diese Dienste zu schwach waren. Zu offen. Sie waren einer politischen Kontrolle unterworfen, die sie weitgehend daran hinderte, das zu tun, was ab und zu unbedingt notwendig war. Eine Stay Behind- Gruppe durfte niemals irgendeiner Kontrolle von außen unterstellt werden. Es war doch der Sinn einer solchen Einrichtung, dass die Mitglieder ungehindert vorgehen konnten. Und schnell. So, wie sie vier Wochen nachdem Ellev sie gebeten hatte, in die Bankbranche überzuwechseln, schon den Posten bei der DnB gefunden hatte. Bei der hektischen Entwicklung des internationalen Devisentransfers brauchten sie dort jemanden.

Berit nahm die beiden Speichersticks und steckte jeden in eine Tüte.

Ellev hatte kein Vertrauen zu Tryggve gehabt. Am 17 . Mai hatte er sie gebeten, ihn in der alten, ziemlich heruntergekommenen Villa in Hasle zu besuchen. Er hatte so schwach und doch so entschieden gewirkt, als er ihr die Sticks und ein Satellitentelefon überreicht hatte. Sie hatte die Passwörter mehrmals wiederholen müssen, bis sie sie auswendig wusste. Die würden die Codes für sie öffnen. Tryggve kannte sie schon seit vielen Jahren. Sein Vater hatte sie ihm beigebracht, und mit Peder Mejer war Ellev einen Pakt eingegangen, der nicht gebrochen werden durfte.

Tryggve hatte die Schatulle geerbt, so war es entschieden worden.

Bis vor ein oder zwei Jahren hatte er wie der perfekte Ratsvorsitzende gewirkt. Jetzt war er so verändert, dass der Pakt gebrochen werden musste.

Berit musste dafür sorgen, dass Tryggve die Schatulle nicht missbrauchte.

Sie war der Major, und der Major würde dafür sorgen, dass der Rat und seine vielen Mittel bewahrt würden, bis es irgendwann wirklich Verwendung dafür gab. Sicherheitshalber hatte Ellev die Codes für Harlekin aus der Schatulle genommen.

Und das hatte Berit am meisten überrascht.

Am Tag darauf war Ellev gestorben, und Berit war von tiefem Ernst erfasst worden. Sie hatte ihr Bestes getan, wie es ihr befohlen worden war, und eine Abstimmung über die Operation Zerfurcht/Verwittert gefordert. Außerdem hatte sie sich Tryggves Wort gesichert.

Nichts davon hatte geholfen.

Rasch zog sie die Papiere aus dem Fach des Druckers, ging ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Sie beugte sich hinein und drückte auf einen Knopf. Im Schrank öffnete sich fast lautlos eine Tür. Berit zog das Dokument, das Tryggve Zerfurcht/Verwittert genannt hatte, aus dem kleinen Safe. Sie hatte die übrigen Exemplare vernichtet, und dieses hier konnte sie fast auswendig.

Nachdem sie die Ausdrucke in den Schrank gelegt hatte, war sie sicher. So muss es sein, dachte sie und musterte die Vorderseite des Dokumentes.

Sjalg Pettersons Tod war der Startschuss zur Aktion gewesen, auch wenn Liquidierungen in Tryggves Plan nur ganz allgemein erwähnt worden waren. Wie er das ohne Zugang zu Harlekin geschafft hatte, war schwer nachzuvollziehen. Aber es war geschickt durchgeführt worden, das musste sie zugeben, und es war ein Geschenk des Schicksals gewesen, dass der Mann hyperallergisch war. Die Polizei schien sich überhaupt nicht für den Fall zu interessieren.

Diese Festnahme in Randaberg vor einiger Zeit, als ein russisch-norwegisches Ehepaar wegen Cannabisanbaus verhaftet worden war, war das Ergebnis eines in Tryggves Unterlagen ausführlich beschriebenen Komplotts. Die beiden hatten niemals Interesse an Cannabis gehabt, sondern hatten in den sozialen Medien in großem Maße russische Propaganda verbreitet. In tadellosem Norwegisch, verteilt auf insgesamt dreiundfünfzig verschiedene Accounts. Ihre Beiträge enthielten oft Links zu Artikeln von regimetreuen russischen Websites und Nachrichtenkanälen, die sie freundlicherweise für das norwegische Publikum übersetzt hatten. Ihr Ziel war es gewesen, immer mehr Kritik gegen die strenge Politik zu provozieren, die Norwegen sich Russland gegenüber auferlegt hatte. Das Ehepaar hatte sich vor allem auf die Bevölkerungsteile konzentriert, die ganz rechts oder ganz links standen, und das war ihnen gelungen. Nun würden die beiden eine lange Zeit hinter Gittern verbringen, weil irgendwer in ihrem Kriechkeller eine Narkotikaplantage angelegt hatte, um dann eine Woche später das Haus in Brand zu stecken. Die beiden waren voller Panik dabei gewesen, die Cannabisfarm zu demontieren, schworen aber, nichts von deren Existenz gewusst zu haben, als die Feuerwehr und danach die Polizei eingetroffen war.

Die kleine »Redaktion« in Murmansk dagegen war die pure Trollfabrik. Eine Produktionsstätte für Lügen und Fehlnachrichten, bei denen es besonders darum ging, die Bevölkerung der nördlichen Regierungsbezirke russischfreundlicher zu machen. Aus Zerfurcht/Verwittert ging hervor, dass die Redaktion am liebsten durch Hacking zerstört werden sollte, also von Norwegen aus, dass aber schlimmstenfalls zu einer physischen Aktion geschritten werden müsste.

Sabotage auf russischem Territorium.

Berit Ullern schüttelte resigniert den Kopf. Sie hatte keine Ahnung, zu welchen Alternativen gegriffen worden war, aber zumindest hatte das alles zu einer kleinen diplomatischen Krise zwischen Norwegen und Russland geführt. Dass Putins Regime ausgerechnet Norwegen in Verdacht hatte, war wirklich kein Wunder, wenn man bedachte, welche Aufgabe die kleine Gruppe aus russischen Journalisten da oben im Norden nun einmal hatte.

Sie blätterte in den Unterlagen.

Auch Erpressung war eine wichtige Waffe. Sie konnte basieren auf dem Kompromat , also diskreditierendem Material, über das die Gruppen ihres Nachrichtendienstes bereits verfügten, aber die Aktion lief auch auf moderne Honigfallen und andere Methoden hinaus, um menschliche Schwäche und Torheit auszunutzen. Sie vermutete, dass Pål Poulsens abrupter Abgang als erster Vizevorsitzender der FRP das Ergebnis langjähriger Ansammlung von schmutziger Wäsche der großen und kleinen Akteure in der norwegischen Öffentlichkeit gewesen war.

Enthüllungen waren überhaupt eine scharfe Waffe. Alle hatten Geheimnisse.

Sabotage, vor allem die, die sich gegen das Internet richtete, stellte einen beträchtlichen Teil von Zerfurcht/Verwittert dar. Zum Beispiel Kartierung und Unschädlichmachung von Bots-Fabriken, computergenerierten Profilen, die gewaltige Massen von Kommentaren produzierten, um damit Trendthemen in die sozialen Medien zu bringen.

Die Twitteraktion gegen default.no, die so große Beteiligung und damit für das Forum ziemlich dramatische Konsequenzen gehabt hatte, konnte auch ein Teil von Tryggve Mejers Missbrauch der geheimsten Verteidigungswaffe des Landes gewesen sein.

Bei der Operation Zerfurcht/Verwittert war so ungefähr alles möglich.

Berit Ullern hätte normalerweise dem, was geschehen war, keine Träne nachgeweint. Und auch nicht dem, was geschehen würde, wenn Tryggve weitermachen dürfte. Sie war ebenso wie er bestürzt und entsetzt wegen des Diskussionsklimas in Norwegen und der übrigen westlichen Welt. Eine Verrohung der Auseinandersetzungen fand statt, die diese immer uninteressanter machten. Was wiederum eine Bedrohung für die Demokratie darstellte. Die mehr oder weniger offenen Versuche von russischer Seite, die Lage zuzuspitzen, machten alles noch schlimmer.

Nicht eine einzige Träne hätte sie vergossen.

Nicht einen Finger hätte sie gerührt, um Tryggve aufzuhalten, wenn nicht der gesamte Apparat in Gefahr geraten wäre, aufzufliegen.

Die Organisation, der Peder und Ellev während der Achtzigerjahre Macht und Mittel gesichert hatten, sollte das Land vor einer Okkupation beschützen. Norwegen könnte ein weiteres Mal verheert werden, im wahrsten Sinne des Wortes. So, wie Berit Ullern das sah, wuchs das Risiko einer russischen Invasion mit jedem Jahr, und zwar im umgekehrten Verhältnis zur Bereitschaft der Politiker, diesem Risiko ins Auge zu blicken und dafür zu sorgen, dass sich das Land verteidigen könnte. Ost-Finnmark würde nach seriösen Sachverständigeneinschätzungen innerhalb von vierundzwanzig Stunden besetzt werden können. Da ein solcher Angriff gern parallel zu Konflikten an anderen Orten stattfand, war es alles andere als sicher, dass die NATO zu Hilfe kommen könnte oder wollte.

Solche Situationen hatten Peder und Ellev sich vorgestellt. Auf einer solchen Grundlage, mit einem solchen Mandat hatte sie sich gehorsam zur Verfügung gestellt, als Ellev Trasop sie bewertet und für schwer genug befunden hatte.

Dieser Idee hatte sie Treue geschworen. Norwegen sollte um sich beißen können, wenn sich die russische Übermacht im Land breitgemacht hätte.

Sie legte die Unterlagen in den kleinen Safe im Kleiderschrank, drückte noch einmal auf den Knopf und hörte das Schloss klicken, als sie die Bügel mit den Kleidungsstücken so zurechtschob, dass der Safe nicht mehr zu sehen war.

Tryggve war dabei, das von Ellev und Peder hinterlassene Erbe zu verschleudern.

Berit wusste, dass sie ihn aufhalten musste. Und zwar um jeden Preis.