Jesus

Lars Winther, Nachrichtenjournalist bei Aftenavisen , war nicht einen Schritt weitergekommen.

Vier Tage lang hatte er versucht, eine Bestätigung für die Informationen zu finden, die ihm jemand von einer unmöglich ausfindig zu machenden IP -Adresse geschickt hatte. Der Bursche von Intersecure, der Computerfirma, die die Journalisten von Aftenavisen um Hilfe baten, wenn sie wirklich in der Klemme steckten, hatte am Ende den Kopf geschüttelt und erklärt, dahinter müssten Profis stecken.

Was Lars Winther sich sowieso schon längst gedacht hatte.

Wohin er sich auch wandte, an Banken, Analytiker, Extremismusforscher oder Russlandkenner, nach kurzer Zeit landete er immer in einer Sackgasse. Alle konnten bestätigen, dass die Tatsachen, die er ihnen vorlegte und die er sorgfältig in Fragmenten präsentierte, damit niemand das ganze Bild sehen konnte, durchaus zutreffen mochten. Aber niemand konnte das wirklich garantieren. Niemand wollte in irgendeinem Zusammenhang zitiert werden.

Es sah zudem aus, als wäre die Arbeit so oder so Zeitverschwendung gewesen.

Nach dem Ausbruch auf Twitter hatten immer mehr Anzeigenkunden Google darüber informiert, dass sie keine Treffer auf den Seiten von default haben wollten. Es sah aus, als wäre dieses Forum deshalb unterwegs in schwerwiegende finanzielle Schwierigkeiten. Dem Dokument zufolge, das Lars zugesandt worden war, wurde nur die Hälfte der Betriebskosten bei großzügigen Russen und dem Finanzmann Eivind Kåre Storheim eingeholt. Der Rest bestand aus Werbeeinnahmen sowie dem Kleingeld, das die extreme Rechte als Spenden springen ließ.

Lars Winther näherte sich dem Block in Bøler, wo die Redaktion von default ihre Räumlichkeiten hatte. Die Adresse war geheim, was, wie Kjell Hope bei jeder Gelegenheit betonte, einfach sein musste. Aufgrund von Hetze und Morddrohungen, behauptete er immer wieder, ohne dass die Polizei irgendetwas bestätigen mochte. Die Wohnung war nicht schwer zu finden gewesen; Lars Winther hatte einen Kollegen in der Politikredaktion gefragt, und der hatte geantwortet.

Die Konfrontation mit Kjell Hope war die letzte Möglichkeit. Das Risiko, glatt abgewiesen zu werden, war riesig, aber es war eine Chance, die den Versuch wert war, ehe Lars zu Kreuze kroch und zugab, dass er dieser Sache unmöglich auf den Grund kommen konnte.

Auf jeden Fall nicht so bald.

Kjell Hope war eine seltsame Figur. Er war Anfang vierzig, geschniegelt und scheinbar gebildet. Jetzt jedenfalls. In seiner Jugend war er aktiv in der Blitzszene gewesen, der linksradikalen und lose zusammenhängenden Gruppe von Aktivisten, Anarchisten, Wohnungslosen und verkrachten Künstlern in Oslo. Mit sechzehn war Kjell Hope zum ersten und letzten Mal von der Polizei festgenommen worden. Bei ihrem Besuch in Oslo im Jahre 1986 war er Margaret Thatcher gefährlich nahe gekommen. Der von ihm geworfene Stein hatte ihren Wagen nur um einen knappen Meter verfehlt. Der Junge hatte zwei Tage in einer Kahlzelle verbracht, was, laut Gesetz und tobenden Eltern, unerhört war. Hungrig, durstig und mit hängenden Ohren durfte er mit seinen Eltern nach Hause fahren, wo er sich nach drei Wochen in Embryostellung die Haare schneiden ließ und als Rechtsliberaler wiederauferstand.

Originellerweise für so einen Jugendlichen machte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Konventionellerweise, angesichts seines Geschlechts, verbrachte er nicht viel Zeit mit der Pflege von Kranken. Schon mit siebenundzwanzig war er Abteilungsleiter im Krankenhaus Ullevål. Sechs Jahre später besaß und leitete er FürsorgePlus AS . Diese private Firma vermietete Pflegepersonal an den Staat. Kjell Hope war inzwischen zum wohlhabenden Mann geworden und war in die Fortschrittspartei eingetreten.

Die Wanderung des Mannes auf die rechte Seite der politischen Landschaft ging weiter. Er gehörte zu denen, die im Sommer 2011 am lautesten geschrien hatten, dass zweifellos die Muslime hinter den Angriffen auf das Regierungsviertel und auf Utøya steckten. Darin war er bei Weitem nicht der Einzige. Als gegen Abend an diesem schicksalhaften Tag in der norwegischen Geschichte feststand, dass ein weißer Norweger aus Westoslo und vom allerrechtesten Flügel hinter dem Massaker steckte, setzte er seine Hassreden in den sozialen Medien fort. Erst fünf Tage später verstummte er.

Leider nicht für besonders lange.

Mehrere Jahre lang war Kjell Hope ein pseudoakademisches Alibi für die Schwarzbraunen, so wie Lars Winther das sah. Kein vollkommener Breivik-Apologet, aber auch nicht sehr weit davon entfernt. Er war aktiv auf verdächtigen Websites. Ab und zu durfte er sich auch in den größten etablierten Medien äußern, frei nach der durch den 22 . Juli geschaffenen Mediendoktrin: Alle sollen zu Wort kommen .

Es sollte einen hohen Preis kosten, so laut zu sein.

Die Firma war 2016 in Konkurs gegangen.

Inzwischen war der Begriff Mainstream-Medien bereits eingeführt, und die waren schuld. An allem. Auch an Kjell Hopes Bankrott und daran, dass er aus einer Villa in Godlia in eine Zweizimmerwohnung in einem anderthalb Kilometer entfernt gelegenen Wohnblock ziehen musste.

Und diesem näherte sich Lars Winther jetzt.

Die Hochhäuser, drei an der Zahl, konnten an Bauten aus der Sowjetunion der Sechzigerjahre erinnern. Dennoch hatten sie etwas widersprüchlich Freundliches, etwas Verspieltes und Lichtes, was vielleicht daran lag, dass sie einen üppigen Wald im Rücken und vor sich nur niedrige Gebäude hatten, die in durchbrochenen Reihen um große grüne Innenhöfe angelegt waren.

Der Kollege hatte Lars Winther darauf aufmerksam gemacht, dass die Klingel nicht mit einem Namen versehen war. Wichtiger war, dass der Kollege auch gewusst hatte, welche Etage und welche Wohnung Lars Winther aufsuchen sollte. Nachdem er sich in der Nähe der verschlossenen Haustür herumgetrieben hatte, vertieft in etwas auf seinem Handy, dauerte es nur zwei Minuten, bis ein Junge herauskam, davonstürzte und es Lars Winther ermöglichte, sich durch die sich langsam schließende Tür hineinzuschleichen.

Fünfter Stock. Kein Name an der Tür.

Hier war es.

Lars Winther schob sich die Schultertasche auf den Rücken, ehe er klingelte. Je weniger er mit sich herumtrug, umso weniger beängstigend glaubte er auszusehen.

Er hörte drinnen Schritte. Eine Sicherheitskette klirrte, dann wurde ein Schlüssel umgedreht und die Tür geöffnet.

Ein junger Mann von höchstens zwanzig stand ihm gegenüber. Er starrte gleichgültig an Lars Winther vorbei und sagte nichts.

»Hallo«, sagte Lars Winther. »Ich suche Kjell Hope.«

»Von mir aus.«

Die Stimme war so nichtssagend wie das Aussehen des Knaben. Er wäre bei jeder polizeilichen Gegenüberstellung ungeschoren davongekommen. Das Gesicht war symmetrisch, die Nase normal groß, die Augen ausdruckslos, und der Mund sah aus wie gezeichnet. Er hätte zu einem Mann und zu einer Frau gepasst. Der Knabe war frisch rasiert oder hatte keinen Bartwuchs, das war schwer zu beurteilen. Seine Haare waren dunkelblond, kurz, aber nicht frisch geschnitten. Er trug graue Jeans und einen hellgrauen Pullover. Lars Winther würde ihn nicht wiedererkennen, selbst wenn nur eine Stunde seit dieser Begegnung vergangen wäre.

Der Mann sah aus wie das Klischee-Bild eines Kaukasiers in einem dubiosen Lehrbuch.

»Äh … wohnt er hier? Kjell Hope?«

»Nein.«

»Nein?«

»Jetzt nicht.«

»Aber er hat also hier gewohnt?«

»Ja. Aber er ist verreist.«

»Wohin?«

Die Augen erwachten ein wenig zum Leben.

»Was geht dich das an?«

»Na ja, ich … ich bin Journalist. Lars Winther, Aftenavisen

Der Junge ignorierte die ausgestreckte Hand.

»Mir sind einige Informationen zugänglich gemacht worden«, sagte Lars Winther und ließ die Hand sinken. »Über default. Ich wüsste gern, was Kjell Hope dazu sagt. Er hat ein Recht auf einen Kommentar zu vielem von dem, was ich schreiben werde.«

»default.no gibt es nicht mehr.«

Die Augen des Jungen hatten jetzt wieder ihren Normalzustand erreicht, was bedeutete, dass sie graublau waren und einen Punkt ungefähr in der Mitte von Lars Winthers Brustkasten anstarrten.

»Wie, gibt es nicht mehr?« Verwirrt zog Lars sein Handy hervor und suchte die Adresse.

Safari findet den Server nicht , stand dort in dunkelgrüner Schrift vor einem helleren Hintergrund. Safari kann die Seite default.no nicht öffnen.

Seine Gedanken kamen abrupt zum Stillstand. Das war unbegreiflich. Noch in der U-Bahn nach Bøler hatte er die Seite doch aufgerufen.

»Wann ist das passiert?«, rief er.

»Vor einigen Minuten. Ich habe sie eingestellt.«

»Und du bist …«

Noch immer interessierte der andere sich mehr für Lars Winthers Solarplexus als für dessen Augen.

»Ich bin der Mann, den Kjell Hope gebeten hat, default.no zu beenden.«

»Und dein Name?«

»Der spielt keine Rolle. Kjell hat Jesus gefunden.«

So ungefähr musste es sein, wenn man vom Schlag getroffen wurde, konnte Lars Winther noch denken, ehe er gar nicht mehr denken konnte.

»Gefunden … gefunden … er hat Jesus gefunden?«, konnte er endlich hervorstottern.

»Ja. Er ist im Ausland und da bleibt er auch.«

»Wo denn?«

»Wie gesagt, er hat Jesus gefunden. Matthäus 28 ,1820

»Äh … was?«

»Der Missionsauftrag.«

Lars Winther versuchte, Zeit zu schinden, indem er in seine Armbeuge hustete. Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und setzte das breiteste Lächeln auf, das er zustande bringen konnte, ehe er sofort wieder ernst wurde. Alles, was ihm einfiel, war:

»Was hast du gesagt?«

»Der Missionsauftrag. Matthäus 28 …«

»Das habe ich gehört«, fiel Kjell ihm ins Wort. »Aber was bedeutet das? Dass Kjell Hope Missionar geworden ist?«

»Ja. Na ja, er muss wohl zuerst zur Schule gehen. Oder in einen Kurs.«

»Wo?«

»Im Ausland. Jetzt habe ich keine Zeit mehr für dich.«

Die Tür war schon fast geschlossen, als Lars auf einen Reflex hin den Fuß in den Spalt schob.

»Wo im Ausland?«, fragte er. »Für welche Organisation ist er verreist?«

»Nimm den Fuß weg.«

»Ja, gleich. Ich muss darauf bestehen, zu erfahren, wo er ist.«

»Weg mit dem Fuß.«

Endlich ließ sich der junge Mann dazu herab, Kraft aufzuwenden und den Blick zu heben.

»Wenn du nicht sofort den Fuß zurückziehst«, sagte er laut und hob die linke Hand, um ihm sein Telefon zu zeigen, »dann rufe ich die Polizei.«

Lars gehorchte. Die Tür fiel zu.

»Jesus«, murmelte Lars. »Großer Gott.«

Wenn der Knabe in Kjell Hopes Wohnung die Wahrheit gesagt hatte, dann war der default- Redakteur zu einer neuen Etappe auf seiner ideologischen Reise aufgebrochen. Er hatte als Anarchosyndikalist angefangen, hatte dann bei einer rechtsliberalen Partei vorbeigeschaut und war bei der rechtspopulistischen FRP gelandet. Um dann noch einen Schritt nach rechts zu machen. Mit default.no war er wirklich dabei gewesen, Spuren zu hinterlassen.

Und jetzt war also Jesus angesagt.

Kjell Hope hatte das Spielfeld umrundet.

Lars Winther ging auf die Treppe zu.

Die Wanderung von ganz links nach ganz rechts war nicht ganz ungewöhnlich. Vor allem nicht im vergangenen Jahrzehnt, wo die politische Achse immer weniger linear geworden war. Die Hufeisentheorie war bereits etabliert: Im Kampf gegen Globalisierung und Eliten, für Nationalismus und Protektionismus gab es viele Gleichheitszeichen zwischen den Extremen auf beiden Seiten. Auch die Verachtung des Islam war auf beiden Seiten gleich groß.

Gott in die Sache hineinzuziehen war zwar nichts Neues, aber Lars Winther wusste trotzdem nicht so ganz, was er davon halten sollte. Wenn default auch nicht sehr lange existiert hatte, war dieses Projekt doch Kjell Hopes Versuch gewesen, ein Lebenswerk aufzubauen. Das Forum hatte immer mehr Leser generiert und wurde zum Gegenstand wachsender Aufmerksamkeit. Es irritierte und provozierte, und da es außerhalb von Organisationen und Vorschriften der Presse stand, wagten sie es, die Grenzen der Meinungsfreiheit wütender und brutaler herauszufordern als alle anderen. default war ganz einfach auf dem Weg zu etwas gewesen, dazu, eine norwegische Ausgabe des amerikanischen Breitbart zu werden.

Bis Jesus allem ein Ende gemacht hatte.

Kjell Hope konnte das nicht freiwillig getan haben.

Lars Winther nahm nie den Fahrstuhl, wenn er nicht gerade in New York war. Jetzt blieb er plötzlich auf der Treppe zwischen dem dritten und zweiten Stock stehen. Er hörte weiter unten das Echo spielender Kinder und eine scharfe Frauenstimme, die versuchte, die Kinder nach draußen zu schicken.

Es gab hier ein Muster. Lars Winther konnte es nur nicht ganz erkennen. Auch wenn das Material, das ihm ein anonymer Absender geschickt hatte, jetzt fast wertlos war, so gab es jemanden, der es ihm aus einem bestimmten Grund weitergegeben hatte. Die Absicht konnte nur gewesen sein, default zu schaden und eventuell den Finanzmann Eivind Kåre Storheim zu treffen.

Vielleicht sogar beides.

Lars Winther wusste ja nicht, ob das umfangreiche Dokument noch an andere Redaktionen geschickt worden war. Jemand konnte ihm zuvorgekommen sein und Kjell Hope in die Arme des Heilands gejagt haben, ehe Lars Winther so weit gekommen war.

Die Twitteraktion, die default seiner Werbeeinnahmen hatte berauben sollen, war ebenfalls ein Erfolg gewesen.

Er ging drei Stufen weiter nach unten, dann blieb er abermals stehen.

Jemand hatte default ans Leder gewollt und das auch nachdrücklich geschafft. Das war an sich nicht so auffällig, er selbst hatte dem Forum seit Langem nur Pest und Verderben gewünscht.

Was ihn stutzig machte, war das zeitliche Zusammentreffen.

default , Kjell Hope und Pål Poulsen waren alle innerhalb weniger Tage in die Knie gezwungen worden. Pål Poulsen war nicht so extrem wie Hope und dessen kleine Redaktion, war aber doch einer der größten Schwertschwinger in der rechtspopulistischen, islamfeindlichen Armee, für die sie sich selbst hielten. Er war zwei Jahrzehnte lang der Anführer gewesen, mit großer Klappe, und bisher offenbar immun gegen eigene Fehler und die brennende Kritik der anderen.

Die Kinder da unten wollten sich nicht aus dem Treppenhaus vertreiben lassen. Das Frauenzimmer kreischte jetzt los, und Lars Winther hörte rasche Schritte zu sich hochkommen. Er lehnte sich an die Wand, zog sein Telefon hervor und fing an, so überzeugend zu surfen, wie er nur konnte. Drei Teenager stürmten lachend vorüber, ohne auf ihn zu achten.

»Verflixt«, sagte er langsam zu sich, als er die Schlagzeile auf medier24 sah. »Oh, verdammte Kacke.«

Es gab hier wirklich ein Muster, und es wurde immer deutlicher.

Und größer.

Er blieb abermals stehen, als die Jugendlichen weiter oben im Haus verschwunden waren, schluckte und fühlte sich heiß. Seine Gedanken fanden langsam ihren Platz, und er konnte nicht begreifen, dass er es nicht sofort gesehen hatte.

Sjalg Petterson war tot, fiel ihm ein.

Und jetzt das hier.

Alles hing mit allem zusammen, und nun musste er um jeden Preis Selma Falck erreichen.