Paparazzo

Der Mann mit der Kamera hieß Andreas und war neunzehn Jahre alt.

Er konnte sich kaum Fotograf nennen, tat es aber trotzdem.

In seiner bisherigen Karriere war Andreas für zwei Aufträge bezahlt worden: für die Hochzeitsbilder seines Vetters und für zwei grandiose Aufnahmen von der Pride-Parade des vergangenen Jahres, die in Aftenavisen abgedruckt worden waren. Kamera und Ausrüstung waren vielleicht gut genug, aber eine Ausbildung hatte der Junge nicht. Ausbildungsstellen waren einfach nicht aufzutreiben. Er musste sechs Tage in der Woche als Pizzabote jobben, um zu überleben.

Das Fotografieren war trotzdem sein Leben.

Wenn er einfach jeden Auftrag annähme, würde sich ihm der Weg öffnen. Davon war er überzeugt. Hier war harte Arbeit gefragt. Als Trine-Lise von DG am Vorabend angerufen hatte, war Andreas das erste Mal seit Langem in bessere Stimmung gekommen. Sie hatte ihm in aller Kürze erzählt, worum es bei dem Auftrag ging. Selma Falck war superprominent, und Andreas wusste genau, wie sie aussah. Sie hatte sich angeblich mit einem bekannten Koch zusammengetan, doch wer das war, wusste er nicht. Andreas hatte sich den Namen notiert und genug Bilder zusammengegoogelt, um ihn wiederzuerkennen.

Dreimal hatte er sich davon überzeugt, dass die Adresse stimmte.

Trine-Lise war nicht besonders optimistisch gewesen. Vermutlich würde dieser Jesper irgendwann am frühen Morgen allein aus dem Haus kommen. Andreas durfte ihm gern ein paar Bilder spendieren, für den Fall, dass sie anderswo einen Treffer landeten, wenn es darum ging, die beiden zu erkennen. Es würde aber sicher nichts sein, was sie sofort verwenden könnten, und er würde nicht bezahlt werden, wenn die beiden Turteltauben nicht zusammen aus dem Haus kämen.

Selma Falck war alt. Älter als Andreas’ Mutter. Echt alt. Der Koch war erst sechsundzwanzig. Die Frau sah zwar ziemlich gut aus, war eigentlich eine MILF , aber der Altersunterschied war so groß, dass es fast widerlich war. Peinlich jedenfalls, und sicher guter Zeitungsstoff.

Seit drei Stunden stand Andreas nun schon auf seinem Aussichtsposten zwischen den Mülltonnen auf der anderen Straßenseite. Er fror nicht, das vorspringende Dach des alten Mietshauses schützte ihn vor dem leichten Morgenregen, aber er langweilte sich jetzt ernsthaft. Er hatte in der Papiertonne nach Lesestoff gewühlt, als es noch keine sechs gewesen war, aber gefunden hatte er nichts. Jetzt war es acht, es war zu früh, um aufzugeben, aber viel länger als bis neun würde er es hier nicht aushalten. Der Akku in seinem Telefon war zudem fast leer, er hatte nachts vergessen, ihn aufzuladen, und hatte fast die ganze Zeit gezockt.

Einige der Menschen, die in der letzten Stunde vorübergekommen waren, auf dem Weg zu Arbeit oder Schule, waren langsamer geworden, als sie an ihm vorbeigingen. Seine Kamera fiel auf, und ein älterer Mann wäre fast über die große Tasche gestolpert, die Andreas immer mit sich herumschleppte. Eine Frau um die vierzig hatte skeptisch gefragt, ob sie ihm irgendwie behilflich sein könnte. Er hatte sein breitestes Lächeln aufgesetzt und gesagt, er warte auf seine Freundin. Die Frau hatte ihn damit getröstet, dass die Freundin sich sicher nur verspätete.

Andreas hatte keine Freundin, aber nun passierte etwas im Hauseingang auf der anderen Straßenseite. Blitzschnell ging er hinter der Papiertonne in die Hocke. Er legte die Kamera auf den Tonnendeckel und schaute durch das Teleobjektiv zu dem Neubau hinüber.

Jesper Jørgensen war leicht zu erkennen. Trotz des kühlen Wetters trug er nur ein eng anliegendes kreideweißes T-Shirt. Andreas konnte deutlich die riesige Schlange sehen, die sich um seinen Arm wand, eine Tätowierung, die auch auf den meisten Googlebildern von ihm zu sehen war. Zum Glück trug er keine Kopfbedeckung. Andreas machte in aller Eile eine Serie von Bildern, sehr enttäuscht, weil der Koch offenbar allein war. Aber plötzlich wäre er vor Begeisterung fast aufgesprungen. Selma Falck tauchte hinter der Glastür auf, die Jesper noch immer offen hielt. Sie war ebenfalls barhäuptig, trug eine Lederjacke, Jeans und weiße Joggingschuhe. Als sie herauskam, hob sie die Hand zu einem schlaffen Abschiedsgruß für Jesper Jørgensen und wandte sich nach links. Er wollte offenbar in die Gegenrichtung.

»Jetzt komm schon!«, flüsterte Andreas durch zusammengebissene Zähne.

Als ob Jesper ihn gehört hätte, griff er nach Selma Falcks Arm. Sie blieb stehen, halbwegs widerstrebend, dann sah sie sich um und versuchte, sich loszumachen. Jesper lachte. Andreas konnte das Lachen hören, und er hielt den Auslöser gedrückt.

»Yes«, zischte er leise. »Yesssss!«

Mit einem kurzen Ruck zog der Koch die Frau an sich, beugte sich vor und küsste sie, während er ihr den anderen Arm um die Taille legte. Noch immer wehrte sie sich, blieb mit geradem Rücken stehen und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Das spielte aber keine Rolle, denn als sie sich losgemacht hatte, lächelte sie und wischte mit dem Daumen etwas von seinem Mund.

Die Kamera klickte und klickte. Die beiden auf der anderen Straßenseite gingen in entgegengesetzte Richtungen los.

Andreas hatte sich auf den Bordstein gesetzt. Seine Hände zitterten vor Aufregung, als er sich im Display die Ausbeute des Tages ansah.

Kristallklare Bilder. Kussbilder. Sogar ein Bild, auf dem Selma Falck lächelnd ihren Lippenstift vom Mund des Kochs wischte.

Oder vielleicht war es auch nur Zahnpasta.

Scheißegal, Andreas saß hier auf Gold, und er rannte los, um die Bilder zu bearbeiten und Trine-Lise so schnell wie möglich zu schicken.

Harte Arbeit, hatte sein Großvater immer gesagt. Harte Arbeit und Geduld, das trennt die Spreu vom Weizen.

Der Großvater hatte absolut recht gehabt, und Andreas nahm die Beine in die Hand.