Sommer

Toyboy

Inzwischen war Freitagabend, und Selma war allein zu Hause.

Oslo war davon geprägt, dass in der nächsten Woche die Schule wieder beginnen würde. Eine Alltagsschwere hatte sich über die Stadt gesenkt, das war Selma aufgefallen, als sie vor einer Stunde von Einar nach Hause gegangen war. Die Menschen schlenderten nicht mehr, lachten nicht mehr, während sie unterwegs waren. Verschwunden waren die leichten Kleider und die erhobenen Blicke. Sie hatten jetzt etwas Zielstrebiges, allesamt, sogar die, die schon angetrunken unterwegs ins Nachtleben waren. Die Wärme würde sicher noch an dem einen oder anderen Tag der kommenden Wochen zurückgeschlichen kommen, aber der glühend heiße, leichtsinnige Sommer des Jahres 2018 war einwandfrei zu Ende.

Selmas Mailpostfach enthielt eine unendliche Reihe von blauen Punkten. Sie hatte es seit Wochen kaum noch über sich gebracht, Mails zu lesen. Jetzt warteten dort über zweihundert ungeöffnete Mitteilungen auf sie. Einiges davon war Werbung, und sie beschloss, all diese Mails auszusortieren und in den Papierkorb zu werfen, ehe sie versuchte, den Rest ernst zu nehmen.

Das dauerte, und sie war unruhig.

Jesper hatte kommen wollen, aber Selma hatte Nein gesagt. Sie schaffte nichts, wenn er da war.

Und auch nichts, wenn er nicht da war.

Außer im Netz zu zocken, und das tat sie jetzt viel zu oft. Ohne dass es ihr irgendwie geholfen hätte. Die Wirkung schien im Laufe des Spätsommers verflogen zu sein. Als ob Jesper eine konstante Unruhe in ihr Leben gebracht hätte, die stärkeren Tobak brauchte als einige Runden mit Texas Hold’em, um vertrieben zu werden.

Sie stöhnte kurz auf und ging zum Kühlschrank. Dort lag noch immer eine Dose echte Cola, aber sie hatte die eine, die sie sich pro Woche gestattete, schon getrunken. In der Tür stand eine von Jesper hinterlassene halb volle Flasche Weißwein. Selma griff danach, zog den Korken heraus und schnupperte an der Öffnung.

Weißwein roch sauer, ein bisschen wie Magensäure und stark wie billiges Parfüm. Rotwein roch nach Schimmel, was schlimmer war. Bier war bitter, das wusste Selma noch von dem einen Mal, als sie sich mit sechzehn zum Probetrinken hatte überreden lassen.

Sie drückte den Korken in die Flasche und stellte sie zurück, griff nach der Coladose und beschloss, sich einen Vorschuss auf die Quote der nächsten Woche zu gönnen. Sie öffnete die Dose und ließ sich Zeit, das sanfte Zischen zu genießen, als der Zugring abriss und der beige Schaum ins Freie drängte.

»Reiß dich zusammen«, flüsterte sie. »Tu was. Trödel nicht so schrecklich herum.«

Sie hatte wenigstens versucht, Kontakt zu Mina aufzunehmen, hatte ihr auf Instagram eine Nachricht geschickt und hoffte noch immer aufs Beste. Die Nachricht war jedoch von der Empfängerin nicht gelesen worden, konnte sie sehen. Die Lüge, die Selma sich aus den Fingern gesogen hatte, war eine von ihren besseren, fand sie. Angeblich hatte der Handballverband sie gebeten, sich an einer Untersuchung über die Schwundquote im Sport zu beteiligen. Selma wollte mit Mina sprechen, weil die sich vor fünf Jahren an sie gewandt hatte. Sie habe ihre spannende Entwicklung verfolgt, fügte sie begeistert hinzu und meinte, Mina sei eine so wohlartikulierte und reflektierte junge Frau, also eine, mit der Selma sprechen müsste.

Mit der Cola in der einen und einem Feuerzeug in der anderen Hand lief sie umher und zündete die Kerzen an, die sie gestern hervorgeholt hatte. Die Sonne ging schon gegen neun Uhr unter, und vor zehn war auch die Dämmerung vorüber.

So wurde es hier drinnen gemütlicher.

Ihre Arbeitslust ließ noch immer zu wünschen übrig.

Sie seufzte, nahm das MacBook vom Sofa und stellte es auf den Esstisch. Sie musste sich ganz aufrecht hinsetzen, um nicht einzuschlafen. Das hier musste jetzt erledigt werden. Sie fing an, die offensichtlich uninteressanten Mails zu löschen.

Das Telefon klingelte. Sie warf einen kurzen Blick aufs Display. Es war Jesper, und sie ließ es klingeln. Sie löschte weitere Mails, öffnete die eine oder andere, bei der sie sich nicht ganz sicher war, und versuchte, die Nachrichten in die verschiedenen Untergruppen zu verschieben, die sie eingerichtet hatte, als sie vor Weihnachten beschlossen hatte, sich selbstständig zu machen. Ohne Sekretärin musste sie lernen, einigermaßen Ordnung in ihrem Nähkästchen zu halten.

Sie sollte bei der TV -Sendung Die Promi-Farm 2019 mitmachen, las sie. Die Aufnahmen würden erst im Mai anfangen, aber sie wollten rechtzeitig anfragen, um sich Selma zu sichern. Die Mail kam von dem Castingleiter der Produktionsgesellschaft, aber Selma kannte ihn besser als ehemaligen Beachvolleyballspieler. Sympathischer Typ, sie war ihm einige Male begegnet, und jetzt war er absolut überzeugt davon, dass gerade Selma Falck durch ihre Mitwirkung die beliebte Serie zu neuen Höhen führen würde.

Sie schob die Mail in den Ordner für Wichtige Unbeantwortete .

Es klang eigentlich verlockend. Sie hatte so gut wie keine Folge der Serie gesehen, aber dem massiven Medienaufgebot nach konnte es spannend werden. Vermutlich würde sie gewinnen. Sie war nicht abhängig von Tabak, sie trank nicht, und was Essen anging, war sie so wenig wählerisch, dass sie, ohne zu überlegen, zwei Tage am Stück von Butterbroten leben konnte. Kräftemäßig würde sie alle schlagen, da war sie sich ziemlich sicher.

Die Tiere wären natürlich ein Problem. Ein großes Problem sogar. Selma würde es nie im Leben über sich bringen, eine Kuh zu melken. Sie hatte Sterbensangst vor diesen riesigen Tieren.

Sie verdrängte den Gedanken an ihre Teilnahme. Wieder klingelte ihr Telefon.

Wieder Jesper.

Gereizt stellte sie den Klingelton aus.

Runhild Petterson hatte weitere Hochzeitsbilder geschickt. Das war das dritte Mal seit ihrer Begegnung. Auf die den beiden früheren Mails angehängten Bilder hatte Selma einen genaueren Blick geworfen, in der Hoffnung, dass sie etwas Interessantes enthalten könnten. Das taten sie nicht, und sie verschob die Mail zu Unwichtigen Unbeantworteten .

Das Display ihres Telefons leuchtete erneut auf.

»Das ist doch zum …«

Eine SMS , sah sie und öffnete die Nachricht.

Selma, ruf mich an. Jemand von DG hat sich bei mir gemeldet. Die wissen, dass wir zusammen sind (sind wir das?), und sie wollen einen Kommentar. Scheiße, die sagen, dass sie Bilder von uns haben. Woher denn????????? Was soll ich sagen??? Ruf an. Jesper

Selma blieb mit offenem Mund sitzen und las die Mitteilung ein weiteres Mal. Und noch einmal. Am Ende konnte sie sie auswendig, mit allen Fragezeichen und überhaupt. Schließlich legte sie das Telefon vorsichtig weg.

Das war eine Katastrophe.

Anine, dachte Selma. Anine würde ihr nie verzeihen.

Ihr Herz hämmerte dermaßen, dass sie ihren Puls in starken, raschen Schlägen spürte, als sie sich mit beiden Händen an den Hals fasste.

Das war total unbegreiflich. Sie hatte niemandem von Jesper erzählt. Sie war in den letzten Wochen auf verschiedenen Sommerfesten und bei geselligen Anlässen gewesen, aber immer allein. Nicht einmal Einar ahnte, dass sie sich einen Toyboy zugelegt hatte, wie böse Zungen sicher behaupten würden. Es war möglich, dass Jesper bei der Arbeit ein wenig zu viel gesagt hatte, was wusste Selma schon, aber sie waren doch außerhalb ihrer Wohnung nie zusammen gewesen.

Abgesehen von heute Morgen, fiel ihr dann ein. Einige Sekunden unten vor der Haustür, als Jesper sie an sich gezogen und geküsst hatte. Da musste irgendwo ein Fotograf gewartet haben.

Vielleicht einer, der früher am Tag den Müll der Nachbarn durchwühlt und von dem Selma sich abgewandt hatte, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Der Betreffende musste einen Tipp bekommen haben. Von irgendjemandem, der Bescheid wusste. Oder der begriffen hatte.

In Selmas Kopf stand alles still. Und dann brach es los.

»Lars Winther«, sagte sie laut und langsam. »Mögest du dafür in der Hölle brennen.«