Das Journal

Mina Selmer lag im Bett und kam sich alt vor.

Sie hatte die Mitteilungen auf Snapchat durchgesehen. Instagram wollte sie nicht einmal öffnen, es erinnerte sie nur daran, wie viel sie in diesem Sommer verpasst hatte. Wie verdammt übel alles war.

Als ihr Vater im Fernsehen ganz Norwegen erklärte, warum er im Sommer gearbeitet hatte, war Mina so froh gewesen. Sie bekam die Antworten, nach denen sie gesucht hatte, und konnte sich nun endlich vorstellen, sich ihm anzuvertrauen. Sie war so sicher gewesen, dass jetzt, da die neue Meinungsfreiheitskommission kein Geheimnis mehr war, der alte Papa zurückkehren würde. Nach der Fernsehsendung hatte sie auf ihn gewartet, mit Lachs und Rührei, fest gebraten, so, wie er es am liebsten hatte. Sie hatte sogar einen Sack Holz aus der Garage geholt, obwohl nur noch Säcke zu sechzig Litern übrig waren. Die waren furchtbar schwer, und am Ende hatte sie den Sack hinter dem Haus aufschneiden und immer fünf Holzscheite auf einmal hineintragen müssen. Alle Kerzen brannten, als er nach Hause kam, aber er blieb nur in der Küchentür stehen und machte ein bedauerndes Gesicht.

»Wie lieb von dir«, hatte er geseufzt, »Essen und alles. Aber verstehst du, ich habe keinen Hunger. Ich musste vor der Sendung etwas essen. Aber Rührei hält sich im Kühlschrank ja gut.«

Das stimmte nicht so ganz. Warmes Rührei schmeckte viel besser als kaltes. Sie hatte auch Toast geröstet, und der würde am nächsten Morgen zu scheußlichem Zwieback geworden sein.

Warum Papa nun immer noch in den Keller musste, war ihr ein Rätsel. Dort stand ja nicht mal ein Schreibtisch. Man konnte sicher die Hobelbank benutzen, aber es musste doch einfacher und angenehmer sein, sich in das Arbeitszimmer zu setzen, das er und Mama sich im ersten Stock teilten.

Mina tat alles weh, ihr ganzer Körper, als ob sie zum ersten Mal seit langer Zeit ausgiebig trainiert hätte. Steif und starr fühlte sie sich, und ihr war ein bisschen übel. Außerdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie Papa angelogen hatte.

Jetzt war er in Trondheim.

Mina war alt genug, um eine Nacht allein zu Hause zu sein, aber Papa fand es eigentlich nicht gut. Im vergangenen Herbst, gleich nachdem die Schule wieder angefangen hatte, hatte sie eine richtige Party veranstalten dürfen. Die war total aus dem Ruder gelaufen. Papa hatte vorher ein Alkoholverbot und eine absolute Obergrenze von dreißig Gästen erlassen, aber es waren schon über achtzig da, als Mina mit Zählen nicht mehr mitkam. Am Ende hatte sie sich zusammen mit Ingeborg in ihrem Zimmer eingeschlossen und nur noch geweint. Der Nachbar verständigte die Polizei, nachdem er erst herübergekommen war und sie gebeten hatte, etwas leiser zu sein. Die Polizei tauchte auf, und als Mama und Papa nach Hause kamen, schätzte Mama die Zerstörung auf fast 20 000 Kronen. Ingeborg und Mina hatten versucht, während des Abends die leeren Flaschen einzusammeln und in der Garage zu verstecken. Nicht besonders schlau, denn Papa fand die beiden riesigen Müllsäcke mit zerquetschten Bierdosen, leeren Wodkaflaschen und verdreckten Red-Bull-Büchsen mit Schnapsgestank schon früh am nächsten Morgen.

Minas Eltern waren tagelang wütend gewesen, obwohl Mina angeboten hatte, den Schaden durch einen Teil ihres Konfirmationsgeldes zu begleichen. Mama wurde ja über fast alles auf dieser Welt wütend, aber es war unheimlich gewesen, Papa dermaßen zornig zu erleben.

Seither zögerte er, wenn es darum ging, sie über Nacht allein zu Hause zu lassen.

»Ich verlasse mich auf dich, aber nicht auf die anderen«, sagte er jetzt immer.

Beim Frühstück hatte sie gesagt, sie wolle bei Ida übernachten. Vor nur wenigen Wochen hätte er genauer nachgefragt. Zu wie vielen sie sein würden, ob Idas Eltern zu Hause wären, ob sie zuerst auf eine Party wollten. So in etwa. Jetzt hatte er nur genickt und erleichtert gewirkt, ehe er in der schwarzen Regierungslimousine entschwunden war.

Mina setzte sich mühsam im Bett auf.

Vielleicht wurde sie ja krank. Sie hatte den ganzen Sommer lang nicht trainiert und sich eigentlich auch nicht besonders gesund ernährt.

Nach dem ersten Besuch im Keller, als sie den Code für den Safe geknackt hatte, war ihr aufgegangen, dass ihr ein dicker Patzer unterlaufen war. Als sie den Inhalt der Speichersticks in ihren eigenen Laptop kopiert hatte, hatte sie elektronische Spuren hinterlassen. Alle Dokumente in solchen Speichermedien teilten mit, wann sie zuletzt geöffnet worden waren. Sie war einige Tage lang nervös gewesen, aber typischerweise war Papa nichts aufgefallen. Ihm konnte nichts aufgefallen sein. Er war ebenso zerstreut und geistesabwesend wie sonst auch, und wenn er es gesehen hätte, würde er ja kaum jemand anderes verdächtigen können als Mina.

Vielleicht war es doch nicht so wichtig.

Vielleicht hatte sie recht, und die Schatulle und deren Inhalt waren nur eine Art Andenken. Eine Erinnerung an Ellev, den Papa so gerngehabt hatte und der auch für Mina ihr Leben lang wichtig gewesen war.

Wenn das Geheimnis im Rechner dort unten gespeichert war, musste es sich dabei um etwas anderes handeln als die Organisation der Meinungsfreiheitskommission.

Mina gähnte.

Sie war jetzt fast immer schläfrig, sie schien niemals ausgeruht zu sein, egal, wie viel sie schlief. Früher hatte sie sich nicht einmal erinnern können, ob sie während der Nacht auf dem Klo gewesen war. Jetzt wurde sie immer wieder wach, ganz einfach, weil sie geträumt hatte oder weil sie unbequem lag.

Mina war müde, konnte aber nicht schlafen. Das kannte sie schon, es war zu früh am Abend. Sie würde nur einnicken und dann innerhalb von zehn Minuten wieder hochfahren. Ausnahmsweise hatte sie auch ein bisschen Hunger. Papa hatte gesagt, im Kühlschrank sei ein Salat von Lille Persille. Nie im Leben war er im Storo-Senter gewesen, um den zu kaufen. Die Nachbarin schaute immer wieder mit Essen vorbei. Sie war ziemlich rüstig und sehr sympathisch, nur war sie fast achtzig. Sie glaubte offenbar, ein Mann könne nicht für sich selbst sorgen, wenn die Frau ihn so ganz ohne Weiteres einfach sitzenließ, wie Mina sie eines sommerlich heißen Abends, als alle Fenster offen standen, über den Zaun hinweg einer Nachbarin hatte erzählen hören.

Die ganze Straße wusste es. Dass Mama gegangen war.

Mina merkte, dass ihr die Tränen kamen. Das wollte sie nicht, sie war zu erschöpft. Stattdessen stand sie auf.

Als sie in die Zwischenetage gekommen war und eigentlich in die Küche gehen wollte, schienen ihre Beine sie ganz von allein weiterzutragen. Als ob ihr Wille sich geteilt hätte und als ob der böse Teil sie in den Keller und weiter in den Raum mit dem Safe führte.

Sie war jetzt weder hungrig noch durstig. Im Gegenteil, sie verspürte eine angenehme Spannung, als sie sich vor dem großen Safe bückte und hoffte, dass Papa den Code nicht geändert hatte.

Das hatte er nicht. Noch immer galt 2018 .

Die Schatulle mit dem königlichen Monogramm war Mina total egal. Sie hatte nach ihrem vorigen Besuch hier unten zweimal die Stay Behind- Gruppen gegoogelt und das Ganze als altmodisch abgetan, als etwas, womit Ellev sicher nach dem Krieg zu tun gehabt hatte. Mina hatte vor zwei Jahren von ihrem alten Nenngroßonkel die Biografie des Widerstandskämpfers und Ex-Verteidigungsministers Jens Christian Hauge geschenkt bekommen. Sie beide seien alte Freunde und Parteikameraden gewesen, hatte Ellev erzählt und dabei fast stolz gewirkt. Obwohl Mina von dem Typen nie gehört hatte. Sie hatte zwanzig Seiten in dem Buch gelesen und dann aufgegeben. Geschichte war schon spannend, aber nicht eine Million Seiten über einen alten Geheimniskrämer.

Was sie jetzt interessierte, war der Laptop.

Beim letzten Mal hatte sie ihn nicht einschalten können.

Da war er wohl total entladen gewesen, denn als sie jetzt auf den Knopf drückte, begann er zu leuchten. Als sie sich nach einer Sitzgelegenheit umschaute, entdeckte sie neben den Trinkgläsern aus dem Billigladen Nille oben im Regal an der Wand ein Bündel schwarzer Leitungen. Papa hatte offenbar vergessen, die wieder in den Safe zu legen.

Sie zögerte einen Augenblick, dann lief sie ins Kaminzimmer und holte sich wieder den Hocker, den sie beim letzten Mal benutzt hatte. Sie ließ sich vor der Hobelbank darauf nieder und sah sich den Bildschirm genauer an.

Papa hatte kein Passwort festgelegt. Typisch.

Der Rechner war auch nicht mit dem Internet verbunden. Er fragte nicht einmal, ob sie verbunden werden wollte.

Das wollte sie, es brachte ja wohl nichts, einen Rechner ohne Netzzugang zu haben. Als sie gerade die Verbindung herstellen wollte, überlegte sie sich die Sache anders.

Es gab Geräte, die von der Umwelt isoliert waren. Air gapped , so hieß das, da war sie sich sicher, und solche Rechner wurden benutzt von Banken, Ministerien und anderen Einrichtungen, wo Informationen gespeichert wurden, die um nichts in der Welt auf Abwege geraten durften. Da war jedoch die Rede von riesigen Systemen mit gewaltiger Speicherkapazität. Das hier war ein jämmerliches billiges Dell-Gerät.

Papa musste sich aber für so eines entschieden haben. Wenn man einen Rechner einrichtete, war der Netzzugang so ungefähr das Erste, wonach das Gerät fragte. Papa musste Mina fast immer um Hilfe bitten, wenn er ein neues bekam, das nicht dem Justizministerium gehörte, aber ein totaler Analphabet war er dann doch nicht.

Mina beschloss, den Rechner so zu lassen, wie er war.

Viel zu entdecken gab es da sowieso nicht.

Immerhin war Microsoft Office installiert. Sie begriff nicht ganz, wie er das geschafft hatte, ohne das Programm aus dem Netz herunterzuladen. Vielleicht ging das ja mit einem Speicherstick. Eine Suchmaschine gab es natürlich nicht und auch keine Mailbox. Einige Bilder waren gespeichert, und es war ein seltsames Gefühl, sich in einem Rechner zu bewegen, der offenbar nie im Netz gewesen war. Keine Geschichte.

Und sie fand nur ein einziges Dokument. In Word.

Mina begriff langsam, warum Papa mit diesem Rechner lieber hier unten saß. Wenn plötzlich und wider alle Vermutung jemand herunterkäme, hätte sie noch Zeit genug, das Gerät auszuschalten, zurückzulegen und den Safe zu verschließen, ehe dieser Jemand bei ihr wäre. Und dann konnte man einfach tun, als habe man nur etwas aus dem Keller holen wollen.

Das war noch ein Hinweis darauf, dass niemand wissen sollte, womit er sich hier beschäftigte.

Sie öffnete das Dokument. Ein ganz normales Docx-Dokument.

Aber es war groß.

JOURNAL /LOGG stand in großen Buchstaben auf der ersten Seite.

Mina lehnte den Rücken an die Hobelbank und fing an zu lesen.