Sonntag, 16 . September 2018

Gefunden

Selma hörte Stimmen.

Singende, tanzende Stimmen, es waren mehrere, und es konnten Engel sein, was sie da hörte.

Lupus war mit ihr in den Himmel geholt worden. Er lag dicht bei ihr, fast über ihr. Sie wollte die Augen öffnen, aber ihr Körper funktionierte nicht.

Jemand berührte ihren Hals. Eine Maske wurde über ihr Gesicht gelegt. Sie wollte die Maske nicht, wollte sie wegreißen, aber ihre Hände gehorchten ihr nicht.

Lupus knurrte. Sie spürte das Vibrieren seiner Kehle. Er würde die Stimmen verjagen. Sie wollte endlich in Ruhe gestorben sein.

Nur das wollte sie. Das Sterben hinter sich bringen.

Das ließen sie nicht zu, und sie versuchte, nach ihnen zu schlagen.

Diese Menschen hielten sie für lebendig, aber eigentlich war sie tot. Beim letzten Mal war sie für tot gehalten worden, aber da hatten sie sich geirrt. Damals hatte sie gelebt und alles gehört, was sie gesagt hatten.

Diesmal war es nicht möglich, sie zu sehen.

»Lupus«, sagte sie, ohne ihre Stimme hören zu können.

Ihre Lippen waren so trocken. Sie hatte so einen entsetzlichen Durst.

»Wir kümmern uns um Ihren Hund«, hörte sie eine Frau sagen. »Haben Sie keine Angst. Haben Sie Lupus gesagt? Heißt er Lupus? Ich habe ihn schon an die Leine genommen. Der hat Sie gern, dieser Hund. Er hat Ihnen wohl das Leben gerettet.«

»Ich heiße Bjørn«, sagte ein Mann ihr ins Ohr. »Die anderen sind Mathilde und Eirik. Wir kommen vom Roten Kreuz in Geilo. Sie sind vermisst gemeldet worden, und die Polizei hat festgestellt, dass Sie in die Berge gefahren waren. Jetzt bleiben Sie ganz ruhig liegen. Wir holen Sie hier weg.«

Selma wurde hochgehoben.

Es tat weh. Sie war leicht und schwer zugleich. Die Engel rochen gut. Ihre Hände waren so warm. Ihre Stimmen sangen. Selma wollte sich wehren, die Engel durften sie nicht umbringen, sie wollte Widerstand leisten, wie beim letzten Mal.

Sie wollte sie sehen, aber das konnte sie nicht.

Selma wollte Wasser. Jemand stach ihr in den Arm. Das tat gut, das spürte sie; ein Nadelstich, der bewies, dass sie noch immer lebte und Arme hatte, jedenfalls einen. Sie lag auf einem Bett. Einem harten Bett, einer Bank, einer Pritsche, sie wurde festgebunden, sie bekam eine Decke, und es wurde warm.

Die hatten sie für tot gehalten, die, die sie überfallen hatten.

Das hier waren andere. Die glaubten, sie sei am Leben.

Selma selbst war sich nicht so ganz sicher.

Jemand trug sie über die Hochebene. Die anderen feuerten sie an und streichelten ihre Wange, eine Frau rief hussa und hei und Wir sind bald da , eine Stimme, die Selma auf die Nerven ging, ohne dass es irgendeine Rolle spielte.

Rein gar keine. Sie schlief ein. Tief und ganz ohne Albträume.