Der Parteitag

Mina war von ihrer Mutter abgeholt worden. Wie durch ein Wunder hatte niemand sie bemerkt, als sie auf Befehl ihres Vaters das Flugzeug lange vor ihm verlassen hatte. Während der letzten Reiseetappe hatten sie nicht einmal nebeneinandergesessen. Sie holte allein ihren Koffer und ging damit in die Ankunftshalle, wo Cathrine Selmer am Rand der großen Menschenmenge stand, die den Hals reckte und auf ihre Lieben wartete. Mutter und Tochter begrüßten einander lässig, auch das wie abgesprochen, und gingen zusammen zum Kurzzeitparkplatz. Fünf Minuten später waren sie auf dem Weg nach Skeikampen, wo ein Freund von Cathrines Schwester ihnen für einige Tage seine Hütte überlassen hatte.

Um Tryggve Mejer hatte es größeren Wirbel gegeben.

Irgendwer hatte ihn schon im Flugzeug von Paris nach Oslo bemerkt. Eine ältere Frau und ein Mann mittleren Alters in gestreiftem Anzug hatten es sich erlaubt, ihn anzusprechen. Tryggve hatte angespannt gelächelt, um dann die Augen zu schließen. Danach hatte er sich schlafend gestellt, bis das Flugzeug gelandet war.

Das Büro der Ministerpräsidentin hatte für alles gesorgt. Tryggve wurde bereits an der Flugzeugtür von zwei Anzugträgern empfangen und dann durch Gänge geführt, die er bisher noch nie betreten hatte. Um sein Gepäck werde sich jemand kümmern, wurde ihm gesagt, und ehe Tryggve wusste, wie ihm geschah, saß er auch schon in einem Auto, das ihn die kurze Strecke zum Radisson Blu brachte.

Er war aufgeregt.

Nicht wirklich nervös, aber sehr angespannt. Er wusste, dass diese Stunden seine letzten in Freiheit sein würden, er würde festgenommen werden, sowie jemand die zuständige Behörde verständigt hätte. Er hoffte, dass es schnell gehen würde. An den letzten Tagen im Bungalow auf La Digue hatte er sein Haus bestellt.

Jetzt war alles in Ordnung.

Er war vorbereitet.

Auch diesmal hatte er kein Manuskript. Das brauchte er nicht. Seine Rede war sorgfältig ausgearbeitet, und er hatte sie sich perfekt eingeprägt. Bei den späteren Vernehmungen würde Zeit für die Einzelheiten sein. Alles, was zunächst nötig wäre, war, die Bombe so kräftig detonieren zu lassen, dass Mina verschont bliebe.

Mina hatte jetzt nur noch einen Feind: den Major.

Berit Ullern wusste aller Wahrscheinlichkeit nach, dass Tryggves Tochter Sjalg Petterson durch ein Missgeschick getötet hatte. Der Major wusste jetzt vermutlich alles, so, wie sie immer dafür sorgte, alles zu wissen, was sie für nötig hielt. Obwohl sie vielleicht nicht über die gleichen Fotos verfügte wie Selma Falck, würde sie niemals eine solche Trumpfkarte für sich behalten, wenn sich die Polizei an sie wendete. Vielleicht morgen. Vielleicht schon heute Abend.

Der Major könnte auf Mina zeigen, aber Tryggve war darauf vorbereitet, auch das zu verhindern.

Er war ganz einfach bereit.

Im Hotel wurde er rasch am Haupteingang vorbeigeführt. Die beiden Männer brachten ihn zu einer fünfzig Meter entfernten kleineren Tür. Eine Frau, die dahinter gewartet hatte, ließ sie ein, und Tryggve wurde durch einen weiteren Gang in einen kleinen fensterlosen Raum gebracht.

»Warten Sie hier«, befahl der eine seiner Begleiter.

Tryggve setzte sich auf ein gelbes Sofa.

Seine Hände waren schweißnass, das merkte er jetzt, aber sie zitterten nicht.

Das Leben, so, wie er es kannte, würde gleich vorüber sein, aber er würde Zeit haben, sich zu erklären. Zeit genug. Zuerst bei den Vernehmungen, danach in Interviews, die er zweifellos geben dürfte, wenn die ersten Ermittlungen abgeschlossen wären. Sowie die anderen Ratsmitglieder festgenommen wären. Sowie die allerletzte norwegische Stay Behind- Gruppe aufgelöst und vernichtet wäre.

Es war so weit. In der Ferne hörte er Applaus. Der wurde lauter, als die Tür geöffnet wurde. Mit einem Wächter vor und dem anderen hinter sich betrat er mit festen Schritten den großen Saal.

Tryggve hob die Arme zu einer allerletzten Siegesgeste.

Händeklatschen und Füßestampfen. Er richtete den Blick auf die Rednertribüne dort vorn.

Jemand rief seinen Namen. Aus dem Augenwinkel heraus sah er eine Frau auf ihn zulaufen. Er erkannte sie sofort, sie war die Leiterin der politischen Abteilung der Zeitung Aftenavisen . Sie versuchte, etwas zu sagen, sie schrie, wurde aber von Security-Männern zurückgedrängt, die jetzt aus dem Nirgendwo aufgetaucht waren. Zu seiner Linken sah Tryggve Hermod Fredriksen, den jovialen Bürgermeister aus Færder. Sein Gesicht sah ganz anders aus als die der anderen in seiner Nähe. Er wirkte irgendwie verwirrt, verängstigt, und er sagte etwas, das Tryggve nicht verstehen konnte. Ansonsten gab es nur Lächeln und muntere Zurufe, ein warmes Willkommen für einen Mann, den alle bewunderten und den zu sehen sie sich freuten. Bei der Rednertribüne stand Erna höchstpersönlich, sie streckte die Hand zu einem gebieterischen Willkommen aus.

Den Schuss spürte Tryggve kaum.

Es tat nicht weh.

Nur ein kleiner Schlag in der Brust. Ungefähr beim Herzen. Tryggve konnte noch überrascht an sich selbst hinunterblicken, ein hochgewachsener Mann im besten Alter, der nicht älter als fünfzig Jahre und elf Monate werden sollte. Ein einziger Gedanke jagte durch seine Gehirnwindungen, ehe dort der Kurzschluss eintrat: Mina ist in Sicherheit.

Dafür würden die Männer von Harlekin und Selma Falck sorgen.