Sechs Tage vor dem Konklave
Der Mann in der Priesterkutte hätte einem Film von Federico Fellini entsprungen sein können. Monsignore Rinanzos spindeldürre Gestalt, seine hageren Gesichtszüge, die eingefallenen Wangen, die lange dünne Nase und die schwarzen Augen, die tief in den Höhlen lagen und unruhig umherblickten, das ölig zurückgekämmte schwarze Haar mit den Geheimratsecken, all das ergab eine Hässlichkeit, die geradezu verstörend war. Auf einen zufälligen Betrachter hätte es daher vielleicht durchaus passend gewirkt, dass er auch eine der hässlichsten der über neunhundert Kirchen Roms betrat. Mit einem müden Quietschen fiel die Eingangstür hinter ihm zu.
Hier im Innenraum war es dunkel, und ein muffiger Geruch hing schwer in der Luft. Alles wirkte staubig und trübe. Seit ihrer Erbauung vor über hundertfünfzig Jahren schien sie nie restauriert worden zu sein, und was früher einmal im goldenen Glanz erstrahlt hatte, war längst einem stumpfen Braun gewichen. Die meisten Touristen, die sich hier hinein verirrten, machten nach einem flüchtigen Blick ins Innere auf dem Absatz wieder kehrt. Hier gab es nichts Besonderes zu sehen. Die jungen Römer, die sonntags zur Messe gingen, hatten sich eine ansprechendere Kirche gesucht, und nur noch wenige Gläubige, meist sehr alte Leute, die seit ihrer Kindheit hierher kamen, waren hier noch gelegentlich anzutreffen. Es war die verlassenste Kirche Roms, und genau deshalb suchte Monsignore Rinanzo sie jeden Montag auf. Eilig, beinahe schon achtlos, benetzte er seine nikotingelben Finger mit Weihwasser und bekreuzigte sich. Wie immer verharrte er einen Moment und sah sich um. Eine alte Frau kniete betend in der ersten Reihe, ansonsten war die Kirche, wie Monsignore Rinanzo mit zwei schnellen Blicken feststellte, leer. Zügig, aber dennoch leise ging er hinüber zum Beichtstuhl und öffnete die Tür für den Priester. Es war die einzige Tür in der ganzen Kirche, deren Angeln nicht quietschten. Jemand ölte sie regelmäßig. Leise schloss er die Tür, und setzte sich. Seine Hand tastete, wie schon so oft zuvor, unter dem Sitz nach dem Umschlag. Da war er, wie immer mit Klebeband befestigt. Mit geübtem Griff löste er ihn ab und holte ihn hervor. Er entfernte das Klebeband und befestigte es erneut unter dem Sitz, eine simple, aber effektive Methode, die signalisieren würde, dass er es gewesen war, der den Brief entfernt hatte, und nicht irgendeine Putzfrau. Der Brief war größer als sonst, im DIN-A4-Format, und auch wesentlich dicker als üblich. Wie immer betastete er voller Angst den Umschlag, ob es da war. Wie immer war es da. Erleichtert atmete er auf. Aber da war noch etwas, was ihn beunruhigte. Er hatte strikte Anweisung, jeden Umschlag, den er auf diese Weise erhielt, erst in seiner Wohnung zu öffnen, und bisher hatte er sich auch stets daran gehalten, aber dieser ungewöhnliche Brief versetzte ihn in eine merkwürdige Unruhe. Das hier war anders. Es lag etwas Großes in der Luft, das konnte er spüren. Er musste einfach jetzt erfahren, was es damit auf sich hatte. Ungeduldig riss er den Umschlag auf und kippte den Inhalt auf seinen Schoß. Es handelte sich um einen eng getippten Brief, wie immer ohne Anrede und Unterschrift, und eine Anzahl kleinerer Umschläge, die alle mit verschiedenen Namen beschriftet waren. Er hielt den Brief hoch und drehte sich im Sitzen um, damit durch das Holzgitter in der Tür etwas Licht darauf fallen konnte. Mit zusammengekniffenen Augen begann er zu lesen.
Inhalt 12 Briefe. Bei Auslieferung ist sicherzustellen, dass keiner der Adressaten …
Mit einem scharfen Ruck wurde der kleine Vorhang neben ihm zur Seite gezogen. Monsignore Rinanzo blieb fast das Herz stehen, linkisch fuhr er herum und blickte in das Gesicht der alten Frau, die nun in der rechten Beichtzelle kniete. Das war nicht gut. Dies war nicht seine Kirche, wenn der rechtmäßige Priester auftauchen würde, müsste er sich eine Erklärung ausdenken, was er hier zu suchen hatte. Nein, das war ganz und gar nicht gut. Mechanisch machte er das Kreuzzeichen. »Gelobt sei Jesus Christus.«
»In Ewigkeit Amen«, antwortete die alte Frau, während sie sich bekreuzigte. Sie war eine von diesen hundertfünfzigprozentigen Katholikinnen; das erkannte er sofort. Eine von jenen, die den halben Tag von einer Kirche zur nächsten liefen, um mehrere Messen nacheinander zu feiern; die jedes Kirchenlied auswendig kannten, mit lauter Stimme mitsangen und täglich beichteten, obwohl sie natürlich keine ernsthaften Sünden begangen hatten. Die meisten Priester verdrückten sich, so schnell sie konnten, wenn sie einer dieser sogenannten Kirchenschwalben auch nur von Weitem ansichtig wurden. Aber jetzt war es zu spät. Die Alte leierte mit weinerlicher Stimme irgendwelche Nichtigkeiten herunter, und es würde sicher lange dauern, bis sie fertig war. Monsignore Rinanzo hörte nur mit einem Ohr hin, es ging wohl um ihre Katzen und eine Nachbarin. Er bemerkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Eilig stopfte er die Briefe zurück in den großen Umschlag und schob ihn unter seine Soutane. Als die Alte schließlich hustete, nutzte er den Moment, um ihr eine kleine Buße aufzuerlegen und die Absolution zu erteilen, und bevor sie noch protestieren konnte, hatte er die Tür aufgestoßen und mit hastigen Schritten die Kirche verlassen.