Dritter Tag des Konklave, abends
Kardinal Villarini lag in der Badewanne seiner Suite im Domus Santa Marta und gönnte sich eines seiner geliebten Schaumbäder. Wie meist mit ein wenig schlechtem Gewissen, da er es als etwas dekadent empfand, aber ein bisschen Luxus durfte auch er sich erlauben, beruhigte er sich. Sein Kopf war zurückgelegt, seine Augen geschlossen. Er genoss den vornehmen Lavendelgeruch und dachte an die vergangenen Stunden im Konklave.
Nachdem im Nachmittagskonklave des gestrigen Tages nun auch ein zweiter Favorit seine Wahl zum Heiligen Vater abgelehnt hatte, war offene Ratlosigkeit unter den Kardinälen ausgebrochen. Der Kardinaldekan hatte am Morgen eine geradezu beschwörende Rede über das Thema Pflicht und Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes gehalten und an das demütige Motto Johannes Pauls II. erinnert: »Totus Tuus« – »Ganz der Deine«. Er hatte übermüdet ausgesehen, und aus seinem Blick sprach so viel Flehendes, dass er schon beinahe mitleiderregend gewirkt hatte. Beruhigend hatte er hinzugefügt, dass es nur natürlich sei, vor diesem gewaltigsten aller Ämter in Furcht zurückzuschrecken, dass aber ebenso natürlich sei, dass jeder, der es auf sich nehme, des göttlichen Beistands gewiss sein könne.
Eine weihevolle Stille war eingetreten, die aber jäh zerstört wurde, als sich nun auch Kardinal Casaroli erhob, um – wenn auch in sehr viel ungelenkerer Form – fast das Gleiche zu sagen wie der Kardinaldekan. Dies war nun gänzlich überflüssig, aber wie hieß es schon in Matthäus 12,34: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Wenn dieser Satz je auf jemanden gepasst hatte, dann auf Kardinal Casaroli, dessen Äußeres schon geradezu klischeehaft an einen wohlbeleibten Mönch erinnerte, wie man sie gelegentlich in der Käse- oder Weinreklame sieht. Gutmütig und schlicht. Infolgedessen hatte seine Rede, die bei jedem anderen unfreiwillig komisch oder gar ärgerlich gewesen wäre, in ihrer Naivität eine geradezu herzerwärmende Wirkung auf viele der anwesenden Kardinäle gehabt. Anschließend hatte es einen weiteren Wahlgang gegeben, bei dem Kardinal Vacchelli die meisten Stimmen bekommen hatte. Allerdings hatten zwei Stimmen zu einer Zweidrittelmehrheit gefehlt, woraufhin der Kardinaldekan einen weiteren Wahlgang verkündete. Einen Wahlgang, der Vacchelli zweifellos über die Zweidrittelhürde tragen würde. An dieser Stelle hatte sich – zum Entsetzen der versammelten Kardinäle – Vacchelli erhoben und mit gesenktem Kopf darum gebeten, davon abzusehen, für ihn zu stimmen. Im nächsten Moment hatte er einen Schwächeanfall erlitten. Man hatte einen Arzt gerufen und die Versammlung aufgelöst.
Am Nachmittag war man ein weiteres Mal in der Sixtina zusammengekommen. Erneut waren Vorschläge für Kandidaten vorgebracht worden. Wenn auch zögerlicher als zuvor. Und zum ersten Mal war auch Villarini unter den Vorgeschlagenen gewesen.
Er ließ den erhabenen Moment, als der Name Villarini durch die Sixtinische Kapelle hallte, noch einmal vor dem inneren Geist Revue passieren.
Sein Name.
Villarini …
Dann der erste Wahlgang. Fünf Kardinäle hatten zur Wahl gestanden. Villarini hatte nur neunundzwanzig Stimmen erhalten.
Neunundzwanzig von einhundertneunzehn. Darunter seine eigene. Nicht gerade viel, aber dennoch mehr als jeder der vier anderen.
Beim zweiten Wahlgang hatte er zweiundsiebzig Stimmen erhalten. Jetzt fehlten nur noch wenige Stimmen zur Zweidrittelmehrheit. Und die – daran konnte nicht der allergeringste Zweifel bestehen – würde er im morgigen Konklave erhalten.
Und er würde nicht ablehnen.
Niemals hätte er damit gerechnet, vorgeschlagen zu werden. Aber war es nicht allen Päpsten der Neuzeit so ergangen? Waren nicht alle von ihrer Berufung vollkommen überrascht gewesen? Waren dies tatsächlich göttliche Wunder, die ohne jegliches Zutun der Erwählten zustande kamen? Bis heute hatte er daran gezweifelt.
Jetzt aber war er selbst Gegenstand dieses Wunders geworden.
Lorenzo Villarini, Papst Pius XIII. Morgen würde es geschehen.
Was genau er als Papst tun würde, wusste er noch nicht, aber eines war sicher. Es galt, dem Amt wieder mehr Würde zu verleihen. Seit der Amtszeit von Johannes XXIII. war das Zeremoniell immer weiter gestutzt worden. Die Abschaffung des Seda gestatoria, des Thronsessels, mit dem der Papst umhergetragen wurde, das Verzichten auf das Küssen des Pantoffels und des Rings, Straßenschuhe statt der offiziellen roten und so vieles mehr. In falsch verstandener Bescheidenheit hatten sich die letzten Päpste immer volksnaher und menschlicher gegeben, weil sie – wie sie sagten – eben nur Menschen waren. Was für ein grandioses Missverständnis. Gerade in ihrer Bescheidenheit waren sie besonders unbescheiden gewesen. Denn als die Menschen, die sie waren, hatten sie nicht weniger Ehre als frühere Päpste zu erwarten, sondern gar keine. Sie selbst waren völlig unbedeutend. Gewaltig war nur das Amt, und ausschließlich dieses durfte und musste geehrt werden. Wer das verkannte, war nicht bescheiden, sondern hatte nicht verstanden, dass er nur die sterbliche Hülle einer unsterblichen Idee war. Was für eine Anmaßung. Er würde das ändern. Die Päpste, die zwischen 1870 und 1929, also zwischen dem Ende des Kirchenstaates und der Unterzeichnung der Lateranverträge mit Mussolini, regierten, hatten sich als Gefangene im Vatikan bezeichnet. Kein Katholik außerhalb der Leonischen Mauer hatte sie je zu Gesicht bekommen. Ihrem Nimbus hatte das keineswegs geschadet. Im Gegenteil, diese Männer waren weit mehr verehrt und respektiert worden als die modernen Päpste, die jede Hand schüttelten, die sich ihnen entgegenstreckte, und die sich bei Staatsbesuchen mit albernen folkloristischen Hüten fotografieren ließen. Nein, Pius XIII. würde kein Papst zum Anfassen sein.
Eine Weile schwelgte er noch in seligen Gedanken, dann stieg er aus der Wanne, hüllte sich in seinen prächtigen Morgenmantel mit dem gestickten Goldmonogramm auf der Brusttasche und putzte sich die Zähne. Die letzte Nacht in Freiheit, dachte er mit dem lustvoll tragischen Gefühl, von morgen an und für alle Zeit eine Persönlichkeit der Welthistorie zu sein. Auf dem Weg zu seinem Bett bemerkte er einen hellen Fleck auf dem Boden, den er ohne seine Brille jedoch nicht klar erkennen konnte. Er trat näher und sah, dass es sich um einen großformatigen Briefumschlag handelte. Er bückte sich ächzend, innerlich die Organisatoren des Konklave verfluchend, die den Brief nicht am Empfang abgegeben, sondern unter der Tür hindurchgeschoben hatten. Diese jungen Leute hatten offenbar keine Vorstellung von den Höllenqualen, die einem Mann seines Alters der Rücken bereiten konnte. Er packte den Umschlag und richtete sich vorsichtig wieder auf. Bis auf ein KARDINAL VILLARINI in Großbuchstaben mit schwarzem Kugelschreiber in der oberen linken Ecke und dem Wort RISERVATISSIMA für streng vertraulich, von einem Rand zum anderen, war der Umschlag unbeschriftet. Er setzte sich auf die Bettkante und riss ihn auf. Es konnte nur etwas Gutes sein. Das fühlte er ganz deutlich. Enthielt dieser Umschlag vielleicht den zeremoniellen Ablauf, der nach einer Papstwahl stattzufinden hatte? Sehr umsichtig, dachte er anerkennend; nun konnte er alles nochmal in Ruhe durchgehen und sich einprägen, so dass es morgen keine peinlichen Unsicherheiten von seiner Seite geben würde. Er versuchte, seine Ungeduld zu bezähmen und den Inhalt nicht hektisch und unwürdig herauszuzerren, zog die in dem Umschlag enthaltene blaue Mappe ruhig hervor und öffnete sie. Der Text auf dem Deckblatt ließ ihn irritiert die Stirn runzeln, er bestand nur aus einem einzigen Wort, das in die Mitte der Seite gedruckt war: »Ablehnen«.
Ungeduldig legte er das Blatt zur Seite, um sich dem weiteren Inhalt der Mappe zu widmen.
Fotos. Großformatig in Hochglanz und Farbe. Widerlich und obszön. Was war das? Das konnte nicht sein. Woher kamen diese Fotos? Alles an ihnen war falsch. So war es nicht gewesen. Ja, es war eine Sünde, sicherlich, er war schwach geworden, einmal schwach geworden. Natürlich galt das Zölibat unumstößlich, und doch hatte Gott diese schöne junge Frau in sein Leben treten lassen, die ihn, den über Siebzigjährigen, aufrichtig geliebt hatte. Und er hatte sie geliebt. Wie hätte all dies geschehen können, wenn Gott es nicht so gewollt hätte? War nicht die Liebe die höchste und mächtigste aller Kräfte auf Erden? Wie konnte das falsch sein? Es hatte nur ein knappes halbes Jahr angedauert, dann hatte Melinda überraschend Nachricht davon erhalten, dass ihre Mutter schwer erkrankt sei. Daraufhin hatte sie ihr Theologiestudium in Rom abgebrochen und war schweren Herzens nach Sao Paulo zurückgekehrt. Aber es verging kein Tag, an dem er nicht an sie dachte. Es war die schönste Zeit seines Lebens gewesen. Glücklich und rein.
Und jetzt diese Fotos in seinen Händen. Gestochen scharf und pornographisch. Ein widerlicher alter Mann, der sich lüstern mit einer Frau vergnügte, die seine Enkelin sein könnte. So war es doch nicht gewesen. Oder etwa doch? Der Anblick der Fotos erfüllte ihn mit Scham. Dann fiel sein Blick wieder auf das Blatt Papier:
»Ablehnen«.
Er stöhnte auf. Wenn diese Fotos in die Öffentlichkeit gerieten, insbesondere nach seiner Wahl zum Papst … Das würde den Skandal des Jahrhunderts auslösen.
Ablehnen.
Das Wort wirbelte in seinem Kopf herum wie eine Staubwolke. Die anderen Kardinäle. Jetzt wurde ihm klar, warum sie abgelehnt hatten. Jemand hatte sie erpresst. Womöglich mit ähnlichen Bildern. Und nun war er an der Reihe. Wie konnte das sein? Er war so vorsichtig gewesen. Alle Treffen mit Melinda hatten in einem Hotelzimmer stattgefunden. Wie hatte da eine Kamera sein können? Niemand wusste von diesen Treffen. Niemand außer ihm und Melinda.
Melinda!
Nein, das konnte einfach nicht sein, es durfte nicht sein. Der Kardinal saß still da und rührte sich nicht, während ihm Tränen über das Gesicht rannen. Nach einer kleinen Ewigkeit stand er auf und verbrannte den Umschlag und seinen Inhalt im Waschbecken. Er kehrte zurück ins Zimmer, kniete sich vor das Kreuz an der Wand und betete.
»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade …«
Dann erhob er sich, nahm ohne Hast das kleine Obstmesser vom Tisch, mit dem er sich jeden Morgen seinen Apfel schälte, und ging ins Bad zurück. Das Badewasser war inzwischen kühl geworden. Er ließ etwas ablaufen und drehte den Heißwasserhahn auf und sah auf dem Wannenrand sitzend zu, wie sich die Wanne langsam füllte.
Er entschied sich dafür, den Morgenmantel anzubehalten. Dann stieg er in die Wanne, schob den linken Ärmel hoch und setzte das Messer an.
Ich hätte noch Lavendel nachgießen sollen, war sein letzter Gedanke auf dieser Welt.