Carlo Manunzio öffnete die Schublade seines Büroschreibtisches, holte ein Päckchen Cigarillos hervor und zündete sich einen an.
Gelassenheit.
Das war es, was er in den nächsten Minuten auszustrahlen beabsichtigte. Er schloss seine Augen und dachte an das Wort Gelassenheit. Eine Technik, die er aus einem Rhetorikseminar hatte, bei der man sich zuvor auf das eine entscheidende Schlüsselwort konzentrierte, das man mit seiner Rede rüberzubringen beabsichtigte. Gelassenheit!
Nein.
Souveränität.
Noch besser.
Er zog an dem feuchten Mundstück des Cigarillos und stieß wütend den Rauch in die Luft.
Hatte er das eigentlich nötig? Er war der leitende Chefredakteur des Corriere del Giorno. Wenn sich also jemand auf dieses Gespräch mental vorbereiten sollte, dann diese Reporterin, die er jederzeit achtkantig rauswerfen konnte, wenn es ihm beliebte. Was hatte diese Silvestri bloß an sich, was ihn so verunsicherte? Zum einen natürlich ihr Aussehen. Aber da war noch etwas. Diese Selbstsicherheit, die an Impertinenz grenzte, eine dreiste Respektlosigkeit.
Und ihr Mundwerk. Die Silvestri hatte auf alles eine Antwort. Sofort! Immer! Die Frau war eiskalt und gnadenlos. Darum hatte er sie eingestellt. Sie war die geborene Reporterin, eine, die sich wie ein Kampfhund in ein Thema verbiss und nicht mehr losließ, bis sie genug für ihren Artikel zusammenhatte. Er schätzte sie als Reporterin.
Aber nicht als Angestellte.
Da fühlte er sich in ihrer Gegenwart unbehaglich.
Er wollte dieses Gespräch lieber nicht führen. Doch ihm blieb keine Wahl. Er dachte an den Mann im Parkhaus, der gestern Abend neben seinem Auto auf ihn gewartet hatte. An das Handyvideo, das man ihm vorgespielt hatte.
Nein, es musste sein.
Er nahm einen weiteren Zug, dann drückte er auf den Knopf der Gegensprechanlage: »Schicken Sie Signorina Silvestri jetzt rein.«
Er setzte sich in seinem kunstledernen Drehsessel zurecht.
Souveränität.
Die Tür öffnete sich.
Nein. Beiläufigkeit. Das ist es. Keine große Sache draus machen. Business as usual.
Er beugte den Kopf und begann, ostentativ die Papiere zu studieren, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Ohne Hinzusehen winkte er Fiona Silvestri mit einer knappen Handbewegung heran. »Nehmen Sie Platz«, murmelte er in einer recht überzeugenden Zerstreutheit, ohne den Blick von den Papieren zu lassen. In seinem Gesichtsfeld tauchten ein paar schwarz bestrumpfte Beine in High Heels auf, die gleich darauf zielbewusst den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch ansteuerten. Ein Chanelwölkchen drang in seine Nase.
Souveränität.
Er ergriff einen großformatigen Umschlag und warf ihn auf die gegenüberliegende Seite seines Schreibtisches.
»Der Müllskandal. Die Stadtverwaltung mauert. Klemmen Sie sich mal dahinter. Hab so das Gefühl, dass das noch ein ganz dickes Ding wird.«
Fiona Silvestri verzog spöttisch ihre rot geschminkten Lippen. »Keine Zeit, ich bin an was Größerem dran.«
Manunzio konnte nicht verhindern, dass er scharf einatmete. Beiläufigkeit!
»Ach ja, diese Konklavekiste, ja?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nette kleine Story, hat mir gefallen, wie Sie das aufgezogen haben, aber Sie haben da bereits mehr rausgeholt, als dran war. Gut gemacht, aber jetzt ist das Ding durch und wir wenden uns wieder handfesteren Themen zu.«
Er sah sie auffordernd an und verfluchte sich bereits im nächsten Moment innerlich dafür. Er hätte sich wieder seinen Papieren zuwenden sollen, dann hätte seine Ablehnung wie etwas Endgültiges gewirkt. Stattdessen sah er die Silvestri an, als warte er auf ihre Genehmigung. Und genauso war es ja auch.
»Nein.« Fiona Silvestri schlug die Beine übereinander, wobei ihr enger Rock ganz kurz den Blick auf ihre halterlosen Strümpfe freigab. Die meisten Männer machte das nachgiebiger, nur aus diesem Grund trug sie die unbequemen Dinger ja. Auch Manunzio war nicht völlig gleichgültig gegenüber ihrer attraktiven Erscheinung. Wenn nur dieser zynische Zug um ihre Mundwinkel nicht gewesen wäre, der verdarb alles.
»Ich bleibe da dran. Da steckt weit mehr dahinter, das hab ich im Gefühl.«
Manunzio verzog das Gesicht, als hätte er Essig getrunken. »Ich glaube, da liegen Sie falsch. Ein Herzinfarkt, ein Selbstmord während des Konklave. Schöner Zufall, aber nicht mehr. Wie gesagt, Sie haben alles rausgeholt …« Er sah fast flehentlich zu ihr hinüber.
Die Silvestri grinste unwiderstehlich dreist. »Nun, wir werden ja sehen.« Sie erhob sich. Manunzio starrte sie an wie das Kaninchen die Schlange. Wenn sie das Büro jetzt verließ, war es zu spät. Er schluckte, seine Gedanken rasten. Die Silvestri war jetzt an der Tür.
»Stopp!«
Er wunderte sich selbst über den Befehlston, in dem das aus ihm herausgekommen war.
»Stopp, bitte«, fügte er wesentlich sanfter hinzu. Wieder dieser spöttische Blick der Silvestri.
»Ja?«
Manunzios Kehle wurde trocken. »Setzen Sie sich«, krächzte er.
Sie tat es in unnachahmlicher Weise; als erwiese sie ihm eine unverdiente Gnade.
Manunzio presste die Lippen zusammen und stieß die Luft durch die Nase aus. »Hören Sie, Signorina Silvestri, diese Konklavesache – ich möchte nicht, dass Sie sich in Gefahr begeben.«
Die Silvestri lächelte beinahe nachsichtig. »Das freut mich zu hören. Obwohl …«, sie zögerte nachdenklich, »als ich die Serie über die Camorra gemacht habe, hatten Sie weniger Bedenken.«
»Trotzdem, das hier ist etwas anderes, glauben Sie mir.«
»Ich denke, ich kann schon auf mich aufpassen.«
»Daran zweifle ich nicht, Signorina Silvestri, aber dennoch – « Er suchte nach Worten. »Ich wünsche nicht, dass Sie da weitermachen. Basta!«
»Warum so heftig?« Die Silvestri zündete sich eine dünne Zigarette an. »Sie halten die Sache also für zu gefährlich?«
»Allerdings.«
»Und was lässt Sie das denken?«
»Ich … ich will Sie nicht mit den Details belasten, aber glauben Sie mir bitte.«
Sie stieß eine Rauchwolke in die Luft. »Belasten Sie mich ruhig. Ich liebe Details.« Sie sah ihn aufmunternd an.
»Bitte!« Manunzio schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Verstehen Sie doch!«
Silvestris Lächeln wurde nur noch breiter.
Die Atmosphäre in dem Raum war zum Schneiden; etwa eine halbe Minute sagte niemand etwas. Dann sackte Manunzio in sich zusammen wie eine Bauchrednerpuppe, aus der man die Hand gezogen hatte.
»Wir werden bedroht, verstehen Sie? Ernsthaft bedroht.«
Die Silvestri zuckte mit den Achseln. »Wäre nicht das erste Mal.«
»Ich spreche nicht von anonymen Drohbriefen oder ähnlichem.«
Manunzio starrte sein Gegenüber beschwörend an, als bete er darum, nicht weitersprechen zu müssen.
Sein Gebet wurde nicht erhört. Er schluckte und senkte die Augen, bevor er mit leiser Stimme fortfuhr: »Gestern Abend im Parkhaus, da war ein Mann an meinem Auto. Er muss auf mich gewartet haben. Dieser Mann, er war … er hat mir ein Handyvideo gezeigt. Von meinem Haus, meine Frau auf dem Weg in die Galerie, wo sie arbeitet, meine Töchter, in der Schule, im Kindergarten.«
Die Silvestri verzog geringschätzig den Mund: »Bluff! Eindrucksvoll, aber Bluff.«
Manunzio schüttelte heftig den Kopf. »So würden Sie nicht reden, wenn Sie den Mann gesehen hätten. Ein Söldner, ein Mörder. An der einen Hand fehlten ihm mehrere Finger, und die Augen! Tote Augen waren das. Verstehen Sie jetzt? Hände weg von dieser Story. Das müssen Sie mir versprechen, Signorina Silvestri. Sie müssen!« Er sah sie an, als wolle er sie mit seinem Blick hypnotisieren.
Die Silvestri nahm einen letzten Zug und drückte ihre Zigarette in dem wie das Colosseum geformten Kunststoffaschenbecher auf Manunzios Schreibtisch aus. »Ganz wie Sie wünschen.« Sie erhob sich und nickte Manunzio knapp zu.
Dann verließ sie das Büro so gelassen, wie sie gekommen war.
Mit undurchdringlichem Gesicht bestieg Fiona Silvestri den Fahrstuhl und drückte den Knopf für die zweite Etage, wo ihr Büro lag. Der Lift setzte sich surrend in Bewegung. Sie schloss für einen Moment die Augen für ein Stoßgebet zu Franz von Sales, dem Schutzheiligen der Journalisten: »Danke für die beste Story meines Lebens! Danke!« Der Fahrstuhl hielt, und sie machte sich auf den Weg zu ihrem Büro. Es gab viel zu tun.