Wer vom ersten Sekretär des Camerlengo gebeten wird, auf ein kurzes Gespräch in seinem Büro im Governatoratspalast vorbeizuschauen, der geht besser hin. Wie freundlich diese Einladung auch vorgebracht sein mag (und Monsignore Andreani klang meist überaus freundlich), es ist ein Befehl. Ein Befehl, der nach Auffassung mancher Kleriker vom Stellvertreter des Stellvertreters des Stellvertreters Gottes kam, wobei während der Sedisvakanz der Posten des obersten dieser Stellvertreter nicht einmal besetzt war. Wer in dieses Büro gerufen wurde und nicht bereits wusste, worum es sich handelte, zitterte innerlich.
Cavelli ahnte allerdings nur zu gut, weshalb Monsignore Andreani ihn zu sprechen wünschte. Den ganzen Morgen hatte das Telefon in seiner Wohnung nicht aufgehört zu läuten. Jede Zeitung und jeder Fernsehsender wollte ein Interview mit ihm machen oder, falls das nicht möglich sei, zumindest ein kurzes zitierfähiges Statement zu den Vorgängen im Konklave bekommen. Cavelli hatte bald begriffen, dass, obwohl er sich am Telefon geweigert hatte, mit der Silvestri zu sprechen, offenbar ein weiterer Artikel im Corriere del Giorno veröffentlicht worden war und dass sie ihn darin offenbar trotzdem erwähnt hatte. Schnell war klar, dass diese Leute nicht so schnell aufgeben würden, und er hatte den Hörer neben das Telefon gelegt, von wo aus dieser ihn nun anklagend ansah und die ganze Wohnung mit einer unbehaglichen Spannung erfüllte.
Und jetzt diese Botschaft vom ersten Sekretär des Camerlengo. Schriftlich, zugestellt durch eine Mitarbeiterin der Telefonzentrale – natürlich, bei Cavelli war ja immer besetzt –, ob er doch so gut sein möchte, kurz herüberzukommen – wenn es ihm recht wäre, gleich. Natürlich würde es um den Zeitungsartikel gehen. Für eine Sekunde war Cavelli gewillt, Andreani alles zu sagen, was er wusste. Sollte der doch sehen, wie in dieser komplizierten Situation zu verfahren war. Was ging es Cavelli denn überhaupt an? Aber gleich darauf musste er an Kardinal Montis Worte denken, daran, dass er innerhalb des Vatikan nicht wisse, wem zu trauen sei und wem nicht.
Als Cavelli zehn Minuten später im dritten Stock des Governatoratspalasts durch die hohe Doppeltür das Bureau Secretario betrat, erhob sich Andreani mühsam hinter seinem Schreibtisch. Andreani mochte Mitte vierzig sein, wirkte aber bedeutend älter, und zwar aus dem einfachen Grund, weil er es so wollte. Obwohl er ein sehr disziplinierter Mann war, der sich tadellos schlank gehalten hatte und von dem bekannt war, dass er schon zweimal einen Marathonlauf absolviert hatte, wirkte er, was Körperhaltung, Bewegung und Mimik betraf, wie ein Mann in den Siebzigern. Offenbar war er der Ansicht – vielleicht nicht einmal ganz zu Unrecht –, dass im Vatikan Alter mit Rang und Autorität einherging. Jedenfalls konnte man sich Andreani gut als späteren Papst vorstellen, von seinem ganzen Gebaren her würde er sich nicht umstellen müssen.
»Mein lieber Signor Cavelli, wie schön, dass Sie es ermöglichen konnten.« Er kam Cavelli lächelnd ein paar Schritte entgegen. Zuckerbrot und Peitsche, dachte Cavelli unwillkürlich. Jetzt ist erst mal das Zuckerbrot dran. Andreani schüttelte seine Hand und sah ihm dabei prüfend in die Augen. Der Geruch von Atkinson-Rasierwasser stieg Cavelli in die Nase. Angeblich eines von mehreren subtilen Zeichen, an denen sich Opus-Dei-Mitglieder erkannten, aber vielleicht mochte Andreani den Geruch auch einfach nur. »Nehmen Sie Platz.« Er deutete nicht auf den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch, sondern auf eine gepolsterte Sitzgruppe, die man zweifellos noch unter Paul VI. angeschafft hatte und die damals durchaus modern gewesen war. Offenbar wollte Andreani das Ganze nicht ufficiale, sondern ufficione regeln, also informell. Während sich Cavelli setzte, ließ er sich auch selbst ächzend in einen der niedrigen Sessel fallen. Dann blickte er Cavelli väterlich an.
Was fanden bloß alle an diesem Cavelli? Insbesondere manche Nonnen schienen ja geradezu fasziniert von dem Mann zu sein. Das war vollkommen unverständlich! Andreani verscheuchte den Gedanken und räusperte sich vorsichtig. »Nun, Sie wissen natürlich, worum es geht, Signor Cavelli.« Wieder ein Lächeln. »Dieser Artikel im, äh, Corriere del Giorno.« Er sprach den Namen der Zeitung in einer Weise aus, als wenn er ihn am ausgestreckten Arm mit spitzen Fingern halten würde. »Wir sind ein wenig, nun sagen wir … verwundert, wie Sie sich wohl vorstellen können.«
»Natürlich, genau wie ich«, erklärte Cavelli treuherzig. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, den besagten Artikel selbst zu lesen, aber was immer darin steht, kann nicht stimmen oder ist zumindest stark übertrieben. Wahr ist, ich bin gestern beim Joggen im Park überfallen worden und ...«
»Heilige Mutter Gottes!« Andreani hob entsetzt die Hände in die Höhe. »Ihnen ist doch hoffentlich nichts passiert!«
»Bis auf den Schreck ist mir nichts passiert. Und das ist auch schon alles. Wie dieser Reporter darauf kommt, mich in irgendeinen Zusammenhang mit irgendwelchen angeblichen Vorgängen im Konklave zu bringen – nun ja, Sensationspresse halt. Die schreiben, was sie wollen, ob’s wahr ist oder nicht.« Cavelli hielt inne, er merkte, dass er für einen, der nichts wusste, zu viel redete.
»Ich verstehe, ich verstehe.« Andreani strich sich unbehaglich über einen nicht vorhandenen Kinnbart.
Hinter Cavellis Rücken wurde quietschend eine Schiebetür geöffnet. »Ich bin gleich wieder verschwunden«, hörte er eine leise männliche Stimme sagen. Andreani nahm es mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis. »Die Sache ist die – uns ist zu Ohren gekommen, dass Sie sich während des Konklave mit einem Kardinal getroffen haben.«
Mit lautem Getöse sprang der Kopierer hinter ihm an. Eine willkommene Unterbrechung, die Cavelli ein paar Sekunden zum Nachdenken bringen würde. Mit überraschter Miene drehte er sich um. Am Kopierer stand Monsignore Rinanzo mit einem großen Bündel Papiere. Cavelli fühlte sich, als wenn man ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt hätte. Was machte Rinanzo hier? Richtig, er teilte sich ein Büro mit Andreani, es war nicht ungewöhnlich, dass er hier war, trotzdem: Die umständlich langsame Art, mit der er seine Papiere kopierte und dabei ostentativ vermied, zu ihnen hinüberzusehen, ließ vermuten, dass er nicht zum Kopieren gekommen war.
Cavelli schaffte es, ruhig zu bleiben. »Wer behauptet das?«
Andreani machte eine bedauernde Geste, öffnete eine dünne Mappe, die vor ihm auf dem Kaffeetisch bereitgelegen hatte, und schob sie zu Cavelli hinüber. Einige großformatige Schwarzweißfotos mit Zeitstempel wurden sichtbar. »Das haben unsere Kameras an zwei Tagen während des Konklave in den Gärten aufgenommen.« Er tippte auf verschiedene Bilder. »Das hier ist Kardinal Monti, und das sind ja wohl Sie, oder etwa nicht? Also, ich höre.« Andreani blickte Cavelli mit kaltem Blick in die Augen. Die Zeit des Zuckerbrots war vorbei, und die Peitsche war ausgepackt worden.
»Nun, es handelte sich um Gespräche privater Natur, nichts, was den Vatikan interessieren müsste.«
Andreanis Stimme klang ehrlich entrüstet. »Diese Gespräche – privat oder nicht – haben während des Konklave stattgefunden. Es existiert ein heiliges Verbot, das den Kardinälen jegliche Gespräche untersagt. Ein heiliges Verbot, verstehen Sie das, Signor Cavelli?«
Cavelli gab sich zerknirscht. »Ich bin auch ehrlich erschüttert, dass sich Kardinal Monti nicht daran gehalten hat, aber das müssten Sie dann mit ihm besprechen, für mich gilt dieses Verbot ja nicht.«
Andreani starrte ihn durchbohrend an, bevor er mit metallener Stimme antwortete, jedes einzelne Wort akzentuierend: »Sie sind hier nur geduldet, Signore, nur geduldet, vergessen Sie das nicht!«
Cavelli spürte förmlich, wie ihm das Adrenalin durch die Adern jagte. Entschlossen erwiderte er Andreanis Blick. »Keineswegs, Monsignore Andreani. Meine Familie hat das Recht, hier zu leben. Ich hab ’nen Zettel von Julius II., der das bezeugt. Gültig bis zum Jüngsten Tage. Und solange der nicht eintritt, können Sie mir gar nichts!«
Cavelli erhob sich, nickte den beiden Monsignori knapp zu und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro.