Die heiligen drei Könige.
Warum kam Kardinal Friso jetzt gerade dieses Bild in den Sinn? Weil sie drei Kardinäle, also drei heilige Männer, waren? Zu einem bestimmten Zeitpunkt an einen bestimmten Ort gerufen? Ja, so war es. Dort allerdings endeten die Gemeinsamkeiten. Nicht ein Stern am Himmel hatte sie hergeleitet, sondern Briefe auf dem Teppich, die man unter ihren Zimmertüren hindurchgeschoben hatte. Und der Person, wegen der sie gekommen waren, würden sie nicht Weihrauch und Myrrhe bringen, sondern den Tod.
Die unheilvollen drei Könige.
Kardinal Friso hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. War das real? All die Jahre hatte er es recht gut vermocht, seine zwei Leben auseinanderzuhalten. Das große Leben als respektierter und allseits geschätzter Kardinal und das kleine Leben, das sich nur sporadisch einmischte, wie ein lästiger Schnupfen; die Briefe, die er in tote Briefkästen legte und von denen er sich einredete, dass sie keinen Schaden anrichteten. Diese Leute benutzten nicht ihn, er benutzte sie. Was hatte er mit ihrer Hilfe für eine brillante Karriere gemacht, und was hatten sie dafür bekommen? Belanglose Informationen ohne jede Bedeutung.
Doch seit dem Konklave hatte sich alles geändert. Ein weiteres biblisches Bild kam ihm in den Sinn. Der Teufel. Friso hatte ihm seine Seele verkauft für Macht und Reichtum in diesem Leben, und nun war der Tag der Abrechnung gekommen. Zu früh, viel zu früh! Man hatte von ihm verlangt, im Konklave nach ihren Befehlen abzustimmen. Und er hatte sich eingeredet, dass es auf seine eine Stimme ja ohnehin nicht ankomme und dass in ein paar Tagen alles sein würde wie früher. Doch das würde es nicht. Niemals mehr. Diese Illusion war nun endgültig zerstört. Er und die beiden anderen waren dabei, die letzte Grenze zu überschreiten.
Hier standen sie nun. Drei Kardinäle im vollen Ornat. Auf einem Flur vor einer Zimmertür. Alle etwas schnaufend, denn wie in den Briefen an sie gefordert, hatten sie nicht den Fahrstuhl genommen, sondern das Treppenhaus.
Treffen sich drei Kardinäle im Fahrstuhl ...
Was war los mit ihm? Dies war ganz und gar nicht witzig. Friso rief sich innerlich zur Ordnung. Dies war ernst. Todernst. Vorsichtig blinzelte er zu Sangalli und Lucarino. Das waren also die anderen. Oder zumindest zwei von ihnen. Es hieß, es gäbe fünf. Der vierte war natürlich der Mann, in dessen direktem Auftrag sie hier waren, ihr Anführer, den sie nicht kannten, und der fünfte war der Mann, vor dessen Zimmertür sie nun standen, der Mann, den sie – Friso erschauerte bei dem Gedanken daran – ermorden würden: Kardinal Monti.
Sangalli nestelte neben ihm an seiner Soutane und zog schließlich einen Schlüssel hervor. Friso wusste instinktiv, dass es sich um den Generalschlüssel handelte. Wie hatte Sangalli ihn erhalten? Friso wusste es nicht, und es war ihm mehr als recht so. Hielt man Sangalli für vertrauenswürdiger als ihn? Oder für skrupelloser? Beides wäre zutreffend. Auf jeden Fall, so befand Friso, machte die Gewalt über den Schlüssel Sangalli offiziell zum Hauptverantwortlichen dieser kleinen Truppe.
»Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.«
So hatte Jesus zu Petrus gesprochen, und bis heute zierten zwei Schlüssel die Vatikanische Flagge. Was konnte es in diesen Mauern für ein stärkeres Symbol für die absolute Befehlsgewalt geben? Man war hier geradezu besessen davon. Cum clave – Konklave. Wieder rief Friso sich zur Ordnung. Sangalli würde wissen, was zu tun war; er, Friso, war nur ein ausführendes Organ, ein Helfer, ein winziges Rädchen im großen Getriebe, mehr nicht. Nicht verantwortlich für ... Falls es überhaupt so weit kommen würde. Eine beruhigende innere Stimme versicherte ihm unablässig, dass sich die Ermordung Montis im letzten Moment als unnötig erweisen würde. Der Mann würde Vernunft annehmen, oder das Ganze würde sich als ein großes Missverständnis herausstellen. Oder war dies womöglich eine Prüfung? Stellte man sie drei auf eine Probe, wie Gott einst Abraham auf die Probe gestellt hatte, indem er ihm befahl, seinen Sohn Isaak zu opfern? Erst in allerletzter Sekunde, Abraham hatte den Opferdolch bereits über Isaaks Brust gehoben, hatte Gott seinen Befehl widerrufen. Würde es auch heute so sein? Die Wege des Herrn waren unerforschlich. Friso sah auf seine Armbanduhr. Viertel nach vier. Die Zeit des tiefsten Schlafs. Die Zeit, in der die Geheimpolizei in Diktaturen an die Türen ihrer Opfer klopfte. Falls sie überhaupt klopfte.
Außer ihnen und dem Sicherheitspersonal war jetzt im Vatikan niemand mehr wach. Gleich würde es geschehen. Oder auch nicht.
»Arme oder Beine?«
»Wie bitte?« Friso schreckte aus seinen Gedanken hoch.
Sangalli sah ihn unter seinen langen Augenlidern müde an.
»Arme oder Beine? Ich drücke ihm das Kissen aufs Gesicht. Wollen Sie seine Arme festhalten oder die Beine?«
Friso spürte, wie sich sein Magen verkrampfte, wobei er nicht wusste, was schlimmer war: einen sterbenden und sich verzweifelt wehrenden Mann festzuhalten oder der Tonfall Sangallis, der sanft war, als hätte er ihn nur bei Tisch gefragt, ob er vom Huhn die Brust oder den Schenkel bevorzuge.
»Beine«, presste er mit trockener Kehle hervor. So würde er zumindest so weit wie möglich von dem ganzen »Vorgang« entfernt sein. Sangalli nickte gleichmütig. Dann, während Lucarino sich nervös umsah, schob er leise den Schlüssel ins Schloss und wartete, bis das automatische Licht im Flur erlosch. Erst dann drehte er ihn langsam herum. Lautlos öffnete er die Tür und verharrte dann bewegungslos. Im Zimmer war es dunkel, und kein Laut war zu hören. Gut so, dachte Friso. Vielleicht bekommt Monti es gar nicht mit, wenn es geschieht. Er wacht nur einfach nicht mehr auf. Ist das nicht die Weise, in der wir alle irgendwann das Zeitliche segnen möchten? Doch nur den Wenigsten ist diese Gnade vergönnt. Sangalli bedeutete den anderen beiden, ihm zu folgen, und leise betraten sie das Zimmer. Vorsichtig schloss Lucarino die Tür. Durch das Fenster fiel ein wenig Mondlicht. Nicht so viel, um Details sehen zu können, aber genug, um zu erkennen, dass dieses Zimmer genauso geschnitten war wie ihre eigenen, das erleichterte die Sache. Langsam näherten sich Sangalli und Lucarino Montis Bett. Friso folgte in einigem Abstand mit zusammengepressten Lippen. Bring es einfach hinter dich, es ist wie ein Sprung ins kalte Wasser, einige Momente unangenehm, aber das vergeht schnell, und dann ist es, als wenn gar nichts gewesen wäre.
Noch vier Schritte, noch drei.
Wenigstens fiel kein Licht auf das Bett. Er würde Montis Gesicht nicht sehen müssen.
Noch zwei Schritte.
Dann ein Geräusch. Geblendet schloss er die Augen. Im Türrahmen des hell erleuchteten Badezimmers stand Kardinal Monti in Pyjama und Morgenmantel und starrte verblüfft zu ihnen hinüber. Fast zehn Sekunden rührte sich niemand. Dann trat Monti einen Schritt zurück, schloss die Badezimmertür, und man konnte hören, wie ein Riegel gedreht wurde.
Frisos Herz krampfte sich zusammen. Sie waren verloren. Was, wenn Monti nun um Hilfe schrie? So oder so, ihr Plan war gescheitert.
Gut so. War dies das Wunder, auf das er gehofft hatte? Nun würden sie einfach wieder gehen, denn in dieser Situation war nichts mehr auszurichten.
Und dann? Monti hatte sie gesehen. Aber auch erkannt? Sie hatten im Dunkeln gestanden. Und er, Friso, sogar noch etwas weiter hinten als die anderen.
Zudem waren sie zu dritt und Monti allein. Mochte er doch behaupten, was er wollte, wer würde ihm schon glauben?
Ja, dies war das ersehnte Wunder. Wenn Monti sich den anderen offenbarte, wenn er behauptete, drei ehrenwerte Kardinäle seien nachts in sein Zimmer eingebrochen, würde man ihn für verrückt halten. Damit würde auch alles, was er sonst sagen konnte, unglaubwürdig werden. Sie waren gerettet und niemand würde sterben müssen. Wie wunderbar. Die Wege des Herrn waren in der Tat unerforschlich.
Dann vernahm er das Splittern von Holz. Lucarino hatte sich mit seinem nicht unbeträchtlichen Gewicht gegen die Badezimmertür geworfen. Die Tür stand nun offen und gab den Blick auf ein leeres Badezimmer frei. Die Vorhänge des weit geöffneten Fensters flatterten im Wind.
Monti musste in seiner Verzweiflung das Undenkbare getan haben und im vierten Stock aus dem Fenster geklettert sein. Lucarino setzte sich als erster in Bewegung, aber ein scharfes »Halt!« von Sangalli ließ ihn innehalten, noch bevor er das Fenster erreicht hatte. Verständnislos sah Lucarino ihn an, doch Sangalli deutete nur in Richtung des offenen Fensters. »Die Kameras«, sagte er leise.
Friso atmete erleichtert auf. Richtig, die tausende von Kameras im Garten, daran hatte er gar nicht gedacht, aber sie verboten natürlich jede Verfolgung, ja, sie konnten es sich nicht einmal erlauben, aus dem Fenster zu sehen, um festzustellen, ob Kardinal Monti bei seiner Fassadenkletterei zu Tode gestürzt war.
Allerdings standen die Chancen dafür recht gut. Friso und Lucarino sahen zu Sangalli hinüber, ob er etwas anordnen würde, aber der stand den Kopf gesenkt einfach da und dachte nach. Dann fügte er sich in das Unvermeidliche. Er verzog resigniert das Gesicht und verließ die Suite. Die anderen beiden folgten ihm, und wenige Minuten später waren sie wieder auf ihren Zimmern. Was nun zu tun war, würde an höherer Stelle entschieden werden.