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Kardinal Monti wartete mehrere Minuten, bis er es wagte, den weißen Plastikvorhang zur Seite zu schieben; dann stieg er, am ganzen Leibe zitternd, aus der Dusche. Er hastete zur Zimmertür und vergewisserte sich, dass sie geschlossen war. Zusätzlich drehte er den Schlüssel herum. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Hier war er nicht mehr sicher, er musste verschwinden. Augenblicklich! Er legte sein Ohr an die Tür und lauschte. Nichts. Dann öffnete er die Tür ein wenig und lugte durch den Türspalt. Es schien niemand in der Nähe zu sein. Ohne einen richtigen Plan verließ er das Zimmer und schlich den Flur entlang. Vor dem Fahrstuhl zögerte er. Dann entschied er sich für das Treppenhaus. Erst während er langsam die Stiegen hinunterging, wurde ihm bewusst, dass er im Morgenmantel war. So würde er an der Wache am Eingang auf keinen Fall vorbeikommen. Dann fiel ihm etwas ein. Der Notausgang. Er ließ sich nicht von außen öffnen und wurde daher auch nicht bewacht. Durch ihn würde er verschwinden. Langsam ging er weiter, wobei er versuchte, keine Geräusche zu verursachen.

Dreißig Sekunden später erreichte er den Ausgang. Er legte den Sicherheitsriegel um, wodurch ein verplombter Draht zerrissen wurde, und stieß die Tür auf. Ein schriller Alarm ließ ihn zusammenschrecken, und er rannte los, so schnell er konnte. Er blieb nicht eher stehen, als bis er hinter einer hohen Hecke Schutz fand. Keuchend versuchte er, zur Ruhe zu kommen. Er spürte, wie sein Herz raste. Zumindest schien er nicht verfolgt zu werden. Noch nicht. Der erste Teil seines Plans war geglückt, erst jetzt bemerkte er, dass sein Plan keinen zweiten Teil hatte. Wohin konnte er sich wenden? Instinktiv machte er sich auf den Weg zur Lourdesgrotte. Er zwang sich, ruhig zu atmen, und mit jedem Schritt wurde er zuversichtlicher. Gleich würde er Signor Cavelli anrufen, und der würde Rat wissen.

So gut es ging, versuchte er sich im Schatten zu halten und die durch Scheinwerfer illuminierten Stellen des Gartens zu meiden.

In der Ferne konnte er die Sirenen der Vatikanischen Feuerwehr hören, die offenbar zu dem vermeintlichen Brandherd raste, dem Gebäude, in dem sämtliche Kardinäle schliefen. Kurz flackerte in Monti der Gedanke auf, was es für das Papsttum bedeuten würde, wenn es wirklich einmal zu einem solchen Brand kommen sollte, bei dem es keine Überlebenden gab. Schnell schüttelte er die schauderhafte Vision ab. Obwohl er schon oft in den Gärten gewesen war, fiel ihm die Orientierung schwer. Nachts sah alles so anders aus. War er hier nicht schon gerade gewesen?

Endlich erreichte er den Eingang der Grotte. Hastig sah er um sich; noch immer schien ihm niemand zu folgen. Vorsichtig tastete er sich an der Wand entlang ins Innere der komplett dunklen Grotte. Der modrige Geruch war jetzt noch stärker als am Tage, oder kam ihm das nur so vor? Waren da Geräusche? Nein, es waren nur seine eigenen Schritte, die ein leises Echo verursachten. Wo war dieses verfluchte Telefon? Zunehmend panisch werdend, tastete er bald hier, bald dort danach. Schließlich berührten seine Hände ein Objekt aus Plastik. Er fand den Hörer und presste ihn ans Ohr. Dann stellte er sich den Ziffernblock bildlich vor, denn er würde blind wählen müssen. Seine Finger tasteten den Block ab. Irgendetwas war seltsam, aber er ignorierte es. Wie lautete die Telefonnummer von Cavelli? Bisher hatte er sie immer von seinem Zettel abgelesen, doch der steckte wohlverwahrt, aber unerreichbar in einer kleinen Innentasche seiner Soutane. Er konzentrierte sich. Es waren nur fünf Ziffern. Er hatte schon immer ein Gefühl für Zahlen gehabt. Unterbewusst waren sie in seinen Erinnerungen gespeichert, das wusste er. Wenn ihm nur die erste Ziffer einfiele, dann würde der Rest folgen. Langsam begann er, alle Ziffern im Geiste durchzuprobieren. Ja, das war sie, Cavellis Nummer. Sein Zeigefinger tastete nach der 8, doch auf halbem Wege erstarrte seine Hand in der Luft. Jetzt wusste er, was das Seltsame war: Aus dem Hörer kam kein Freizeichen. Das Telefon war tot. Jemand musste es abgeschaltet haben.