Cavelli spürte, wie sich seine Eingeweide verkrampften. Er blickte auf Montis im Mondlicht nur schemenhaft wahrzunehmende Gestalt. »Sind Sie sicher?«
»Ja, ich hab etwas gehört und die kleine Tür geöffnet. Da sind eindeutig Schritte. Mehrere Leute kommen die Treppe hoch. Offenbar versuchen sie, leise zu sein.«
Cavelli war froh, dass es zu dunkel war, als dass Beatrice sein Gesicht sehen konnte, er konnte körperlich spüren, dass er blass geworden war. »Das sind nicht die Schweizer. Die würden durch die Vordertür kommen.«
Er hörte, wie Beatrice nach Luft schnappte. In seinem Kopf raste es. Er war zuvor nie im päpstlichen Apartamento gewesen, aber außerhalb davon würde er sich sofort zurechtfinden, da war er sich völlig sicher. Also mussten sie zuerst mal hier raus. Aber nicht durch den Haupteingang, es war damit zu rechnen, dass in der Nähe ein Gardist postiert war. Angesichts der unübersichtlichen Situation, in der nicht klar war, wem man trauen konnte, war es selbst in der jetzigen Notsituation ein zu hohes Risiko. Außerdem würde es ihre Lage nicht gerade verbessern, wenn man entdeckte, dass sie in die Wohnung des Papstes eingedrungen waren. Cavelli versuchte, sich zu orientieren. Irgendwo in der Wohnung war eine unscheinbare Tür, die im Apostolischen Palast auf einen kleinen Flur führte. Ursprünglich wohl ein Dienstboteneingang, der aber nach Cavellis Einschätzung wahrscheinlich auch heute noch vom Sekretär des Papstes verwendet wurde. Diese Tür musste er finden, und zwar sofort. Küche, Flur, Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer hatte er bereits gesehen. Und somit blieb nur ...
»Hier lang, schnell!« Er durchquerte das Wohnzimmer und öffnete eine Tür, die in ein kleineres, völlig schmuckloses Arbeitszimmer führte – möglicherweise das Reich des Sekretärs – da war die Tür. Mit drei Schritten war er dort und drückte den Türgriff herunter. Verschlossen. Dann bemerkte er Beatrice neben sich und hörte, wie ein Schlüssel herumgedreht wurde. Er öffnete die Tür und ließ die anderen beiden vorangehen. Er war schon im Begriff, ihnen zu folgen, als ihm noch eine Idee kam. Schnell zog er den Schlüssel ab, verließ die Wohnung und steckte ihn von außen ins Schloss. In diesem Moment hörte er Stimmen im Apartamento. So leise wie möglich drehte er den Schlüssel herum. Dann zog er sein Smartphone aus der Tasche und ließ kurz das Licht aufflammen. Sie befanden sich in einem gebogenen weißgetünchten Flur. Ja, hier kannte er sich aus. Der Flur führte zu den Vatikanischen Museen hinüber. Er legte den Zeigefinger an die Lippen. »Scht! Sie sind bereits in der Wohnung. Hier lang.«
»Warte!« Beatrices Flüsterstimme hallte leise von den Wänden zurück. »Schuhe aus. Dann können wir hier schneller laufen, ohne dass man uns hört.« Geschickt hatte sie dabei die Pumps von den Füßen gestreift und in die Hand genommen. Während Cavelli es ihr gleichtat, war sie dem Kardinal behilflich, der offenbar Probleme mit dem Bücken hatte.
»Okay.« Cavelli zog die beiden etwas von der Tür weg. »Die werden eine ganze Weile brauchen, bis sie merken, dass wir nicht da sind, bis dahin sind wir ...«
»Don, da!« Mit weit aufgerissenen Augen zeigte Beatrice auf die Tür. Auf der anderen Seite drückte jemand die Klinke hinunter. Bereits eine Sekunde später ein lautes Krachen. Offenbar warf sich jemand mit seinem ganzen Gewicht dagegen.
Beatrice krallte sich in Cavellis Jackenärmel. »Wieso wissen sie, dass wir hier sind? Warum suchen sie nicht in der Wohnung? Sie müssen doch suchen, sie ...!«
»Weg hier!« Cavelli ergriff den Arm des Kardinals und rannte los. Beatrice war dicht neben ihm. Hinter ihnen war ein erneutes Krachen zu hören, Holz splitterte. Die kleine Tür würde nur noch wenige Sekunden standhalten. Direkt vor ihnen wurde der Gang in beide Richtungen von einem weiteren Gang gekreuzt. »Nach rechts!« Hinter ihnen ein fürchterliches Krachen, das davon kündete, dass die Tür nun endgültig nachgegeben hatte. Dann schnelle Schritte in ihre Richtung. Cavelli ließ erneut kurz das Handylicht aufleuchten, um sich zu orientieren.
»Dein Handy!« Beatrice riss es ihm aus der Hand.
»He, was ...?«
Beatrice machte eine schnelle Bewegung wie beim Bowling und ließ das Smartphone auf dem Boden weit in den gegenüberliegenden Gang schlittern.
»Verstehst du denn nicht, Don? Sie können dein Handy orten. Los jetzt, wir haben vielleicht ein bisschen Zeit gewonnen.«
Auf Strümpfen liefen sie so schnell es möglich war, wenn man keine lauten Geräusche verursachen wollte. Ihre Verfolger schienen sich da weniger Beschränkungen aufzuerlegen. Ihre Schritte wurden lauter und lauter und dann ganz plötzlich wieder leiser.
»Es funktioniert«, flüsterte Beatrice, »sie sind in den falschen Gang abgebogen.«
»Sie werden den Irrtum sehr schnell bemerken«, erwiderte Cavelli, während er versuchte, sich zu orientieren. Sie befanden sich in einem verwinkelten Zwischenbau, der den Apostolischen Palast mit den Vatikanischen Museen verband. In beiden Gebäuden kannte er sich bestens aus, aber dieser Teil war eine Herausforderung. Er blickte aus einem kleinen Seitenfenster und entdeckte im Mondlicht links von sich den Turm der Winde. Jetzt wusste er wieder, wo sie sich befanden. Am Ende des Gangs war eine Tür und dahinter eine Wendeltreppe nach unten. »Los, hier entlang!« Innerhalb weniger Sekunden hatten sie die Tür erreicht. Jetzt konnte er nur noch beten, dass sie offen war. Er drückte die Klinke hinunter. Offen! Cavelli hatte sich nicht geirrt; das kleine Licht über der Tür beleuchtete schwach die wunderbarste Wendeltreppe, die er je gesehen hatte. Nur noch drei Schritte und ...
»Stehenbleiben!« Die Stimme war direkt hinter ihnen. Cavelli wirbelte herum, während Beatrice und der Kardinal vor Schreck erstarrten. Zwei Meter neben der Tür stand ein Stuhl, auf dem vor einer Sekunde noch ein Gardist gesessen hatte, beauftragt mit einem der ödesten Wachdienste, den der Vatikan zu vergeben hatte. Dass direkt neben ihm ein großer Feuerlöscher hing, ließ vermuten, dass man ihn in erster Linie als Brandwache einsetzte. Falls an diesem Posten jemals etwas Erwähnenswertes passiert war, musste es wohl einige hundert Jahre her sein. Doch nun stand dieser junge Mann vor ihnen, mindestens so erschrocken wie sie selbst, wusste nicht, ob er zuerst zum Funkgerät oder zu seiner Pistole greifen sollte, entschied sich dann für die Pistole, die er auf Kardinal Monti, den er, wahrscheinlich aufgrund seines massigen Körperbaus und seines Trainingsanzugs, für die gefährlichste Person dieses Einbruchtrios hielt, und brüllte nun ein weiteres Mal: »Stehenbleiben. Keine Bewegung!«
Wie hieß dieser Gardist bloß? Die meisten von ihnen kannte Cavelli, und sie kannten ihn. Mit einigen war er sogar befreundet. Auch diesen hatte er schon ein paarmal gesehen, aber sie hatten sich noch nie unterhalten. Cavelli war der Mann nicht besonders sympathisch gewesen. Eine Einschätzung, die sich nun rächte. »Hören Sie«, wandte sich Monti an den Schweizer. »Ich versichere Ihnen, es ist alles In Ordnung. Ich bin Kardinal Monti, erkennen Sie mich nicht? Stecken Sie um Gottes willen die Waffe weg, bevor noch etwas passiert.«
Der Gardist starrte Monti einen Moment an, als versuche er hinter den Sinn dieser absurden Behauptung zu kommen. Seine Waffe wanderte zwischen den Gefangenen hin und her. Der Mann schien unter erheblichem Stress zu stehen. Seine Augen flackerten beunruhigend, und Cavelli befürchtete, dass bereits das kleinste falsche Wort eine Katastrophe auslösen könnte. Schwer atmend griff der Gardist nach seinem Funkgerät. Ohne den Blick von ihnen zu lassen, drückte er auf den Knopf und sprach in das Gerät. »Hier ist Posten sechzehn. Bitte melden, over.« Aus dem Funkgerät war nur ein Rauschen zu hören. Dann ein Knacken und eine Stimme. »Zentrale an Posten sechzehn ...« Beatrices Schrei ließ Cavelli mehr zusammenzucken als das, was er sah. Alles schien wie in einem perfekt durchchoreographierten Horrortheaterstück des Grand Guignol abzulaufen. Wie aus dem Nichts war durch die offene Tür ein dunkler Schatten hinter dem Gardisten aufgetaucht. Mit einer fließenden Bewegung packte die Gestalt von hinten das Kinn des Schweizers, riss dessen Kopf nach hinten, während fast gleichzeitig in seiner anderen Hand ein Messer aufblitzte und durch die Kehle glitt wie durch ein Stück weiche Butter. Mit einem gurgelnden Geräusch stürzte der Schweizer zu Boden, wo er zuckend liegen blieb. Sofort begann sich eine Blutlache auf dem Boden zu bilden, die stetig größer wurde. Jetzt erschien ein zweiter, etwas größerer Mann in der Tür. Für eine Sekunde wendete der kleinere Mann den Kopf nach hinten.
»Nein, nicht!«, hörte sich Cavelli rufen, aber Beatrice hatte einen schnellen Schritt nach vorn gemacht und bereits die Hand nach der Pistole des Gardisten ausgestreckt, als der Kleinere reagierte und der Waffe einen Tritt versetzte, der sie die Treppe hinunterbeförderte, wo sie gut hörbar an verschiedenen Stellen anstieß, bis sie schließlich irgendwo liegen blieb. Der Mann starrte Beatrice an und hob das Messer. Er wirkte nicht wütend, sondern völlig ausdruckslos. So wie man eine lästige Fliege betrachtet, die man totschlagen will. Keine große Sache, nichts Persönliches, es muss nur einfach getan werden, bevor man seine vorherige Tätigkeit in Ruhe fortsetzen kann. Kardinal Monti bewegte sich mit beschwörend erhobenen Händen auf den Angreifer zu, offenbar in der wahnwitzigen Hoffnung, ihn beschwichtigen zu können, was diesen instinktiv zu einem kleinen Ausweichschritt veranlasste. Cavelli sprang mit einem Satz an ihm vorbei und riss den Feuerlöscher von der Wand. Beide Killer wirbelten herum, konnten aber nicht verhindern, dass Cavelli dem Kleineren den Feuerlöscher heftig gegen die Brust stieß, was diesem einen dumpfen Schmerzenslaut entlockte, ihn aber ansonsten nicht allzu sehr zu beeindrucken schien. Er stieß den Löscher zurück, während der andere Mann zur Seite wich, so dass die beiden Cavelli nun aus zwei Richtungen in die Zange nehmen konnten. Auch der Größere hatte nun ein Messer in der Hand. Cavelli machte einen Schritt rückwärts, Richtung Treppengeländer. Der Größere vollführte einen schnellen Ausfallschritt und stieß mit dem Messer nach ihm. Cavelli parierte ihn mehr schlecht als recht mit dem Feuerlöscher, wobei das Messer auf dem Metall ein hässliches Geräusch verursachte. Noch ein oder zwei Sekunden, dann würde es ihm genauso ergehen wie dem Gardisten, und danach waren der Kardinal und Beatrice dran, die beide wie erstarrt dastanden, offenbar unfähig, sich zu rühren. Irgendetwas hatte er übersehen. Etwas Wichtiges. Dann sah er es. Die gelbe Lasche an der Oberseite des Feuerlöschers. Hier ziehen! war dort aufgeprägt. Cavelli schlug noch einmal in einer kreisenden Bewegung mit dem Löscher um sich, dann zog er die Plastiklasche heraus, packte das Ende des Löschschlauchs und drückte entschlossen den Hebel nach unten. Im nächsten Augenblick fanden sich die beiden Angreifer in eine weiße Pulverwolke eingehüllt.
»Runter!«, brüllte er Beatrice und Monti an und schob die beiden mit sich die Treppe hinunter. Im Laufen drückte er immer weiter den Hebel, bis der Löscher leer war. Dann ließ er ihn fallen. Über ihnen hatte sich eine etwa sechzig Meter lange, dichte weiße Wolke gebildet. Cavelli schätzte, dass, bis das Pulver zu Boden geschwebt und die Luft wieder durchsichtig und atembar geworden war, gut und gerne eine Minute vergehen könnte. Sie mussten dieses Treppenhaus unbedingt verlassen, bevor ihre Verfolger wieder freie Sicht hatten. Vor sich hörte er den Kardinal nach Luft japsen; die Aufregung und Rennerei waren nichts für den alten Mann. Inzwischen befanden sie sich zwei Stockwerke tiefer. Cavelli erblickte eine Tür und drückte die Klinke herunter. Sie war offen. Schnell huschten sie hindurch, und leise schloss er die Tür hinter sich. Jetzt noch etwa dreißig Sekunden, bis man ihnen folgen konnte. Er hörte Beatrice einen unterdrückten Laut der Überraschung ausstoßen. Verständlicherweise. Sie befanden sich nun in der Galerie der Landkarten, einem prächtigen, etwa zweihundert Meter langen Wandelgang mit Marmorboden, riesigen gemalten Landkarten auf der einen und großen Fenstern auf der anderen Seite. Er war Teil der Vatikanischen Museen und die meisten Menschen betraten ihn für gewöhnlich gleichzeitig mit tausenden anderer Besucher, so dass es ein einziges Geschiebe und Gedränge war und jedes Gefühl für die Pracht dieser Räumlichkeit im Keim erstickt wurde. Jetzt, so verlassen, war der Eindruck überwältigend. Cavelli versuchte, sich so schnell wie möglich Klarheit über ihre Situation zu verschaffen. Draußen dämmerte es bereits. Hastig sah er auf seine Armbanduhr. Es war Viertel vor sechs. Der Clavigero begann um fünf Uhr morgens mit dem Aufschließen der Museumstüren. War er hier schon durchgekommen? Möglich war es. Das würde bedeuten, dass alle Türen von hier bis zum Museumseingang offen waren. Und wenn er doch noch nicht hier gewesen war? Dann würden die Türen in beide Richtungen verschlossen sein und sie säßen in der Falle. Cavelli biss die Zähne zusammen. Sie hatten keine Wahl. Zumindest konnten sie ohne ihre Schuhe schnell laufen, ohne auf dem Marmorboden Lärm zu verursachen. Noch achtzig Meter. Noch fünfzig. Zwanzig. Endlich die Tür. Cavelli warf sich auf die Klinke, die Tür gab nach. In diesem Moment wurde am anderen Ende des Gangs die Tür aufgerissen, durch die sie selbst gekommen waren. Augenblicklich erfassten die beiden Verfolger die Situation und spurteten mit der tödlichen Zielstrebigkeit von zwei Atomraketen los. Cavelli, Beatrice und Monti machten, dass sie wegkamen, und rannten den Gang hinter der Tür entlang. Montis Schnaufen war inzwischen mehr ein Röcheln, und im Gesicht war er hochrot angelaufen. Lange würde er wohl nicht mehr durchhalten. Cavelli wurde klar, dass dieser Wettlauf nicht zu gewinnen war. Und Hilfe war nicht zu erwarten. Es sei denn ... »Lauft weiter!«, schrie er den beiden anderen zu. Dann packte er einen Stuhl, auf dem tagsüber Museumswächter saßen, und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen eine Vitrine mit antikem Goldschmuck. Ein schriller Alarm zerriss die Stille.