Die meisten Menschen, die das Wort Inquisition hören, denken dabei an ihre spanische Erscheinungsform. An den Großinquisitor Torquemada, an Folter und die Verbrennung von vermeintlichen Ketzern.
Viele wären wohl überrascht, zu hören, dass die Inquisition in allen anderen christlichen Ländern weit weniger blutrünstig ablief, sowohl was die Anzahl der Beschuldigten als auch die Maßnahmen angeht, denen diese sich ausgesetzt sahen. Noch überraschter aber wären sie wahrscheinlich, zu erfahren, dass diese Behörde im Vatikan bis zum heutigen Tage existiert. Sie nennt sich Glaubenskongregation und befindet sich in dem großen Eckgebäude im Südwesten der Vatikanstadt direkt neben der Audienzhalle. Einer ihrer bekanntesten Leiter war Kardinal Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. Noch weniger bekannt dürfte der Allgemeinheit sein, dass es das einzige Gebäude auf vatikanischem Boden ist, das man direkt von Italien aus betreten kann, ohne wie sonst üblich zuvor eines der Tore passieren zu müssen. Ja, vielen ist nicht einmal bewusst, dass dieses Bauwerk überhaupt zum Vatikan gehört, sondern sie gehen unbewusst davon aus, dass es sich um ein römisches Verwaltungsgebäude handelt.
Cavelli hoffte inständig, dass der Gruppierung, die mit allen Mitteln versuchte, das Konklave in ihrem Sinne zu beeinflussen, und die – damit musste man einfach rechnen – sämtliche Tore des Vatikan beobachtete, zumindest dieses Detail unbekannt war.
Die letzten zwei Stunden hatte er im Büro von Oberst Durand verbracht und diesem so oft seine Geschichte erzählt, dass er sie am Ende selbst geglaubt hatte. Nämlich, dass Kardinal Monti, der ja bekanntlich im selben Palazzo wie er wohnte, aufgrund einer versehentlich falsch dosierten Tabletteneinnahme verwirrt durch die Vatikanischen Gärten gelaufen war und bei ihm geklingelt habe, woraufhin Cavelli und seine Kollegin Professor Kingsley von der Sapienza-Universität sich um ihn gekümmert hätten. Dann wären plötzlich diese beiden ihm völlig unbekannten Männer aufgetaucht. Offenbar hatten sie gewusst, dass Cavelli im Besitz diverser Vatikanischer Schlüssel sei. Sie hatten ihn, den Kardinal und Signorina Kingsley als Geiseln genommen und ihn gezwungen, sie in die päpstliche Wohnung zu bringen, in der sie offenbar etwas gesucht hätten. An dieser Stelle hätten Cavelli, der Kardinal und Professor Kingsley einen Fluchtversuch durch die Seitentür des Apartments unternommen, doch die beiden Einbrecher hätten die Tür zertrümmert und sie durch das Museum gejagt, wobei sie auf sie geschossen und einen Gardisten getötet hätten.
Das war seine Geschichte. Zwei Einbrecher hatten sich Zugang zum päpstlichen Apartment verschafft. Hatten sie gehofft, Material zu finden, das den Vatikan in irgendeiner Form kompromittierte? Davon war auszugehen, denn Gegenstände von außergewöhnlichem Wert waren dort ja nicht zu finden. Allerdings hatten die Eindringlinge den denkbar ungünstigsten Moment für ihre Aktion gewählt. In der Zeit der Sedisvakanz befanden sich dort keinerlei Schriftstücke. Dennoch schien der Fall klar zu sein. Ein Schweizer Gardist hatte dabei sein Leben gelassen, das war das Tragische an dem Vorfall.
Oberst Durand graute davor, nun dessen Familie verständigen zu müssen. Hätte sich sein Tod verhindern lassen? Wieder einmal würde man die internen Sicherheitsvorkehrungen auf den Prüfstand stellen. Wieder einmal würde man diese theoretisch unendlich lange Schraube eine Windung weiterdrehen, um beim nächsten Mal für den noch unwahrscheinlicheren Fall gerüstet zu sein. Kardinal Monti, Professor Kingsley und Signor Cavelli waren allerdings zu entlasten, sie waren ganz offensichtlich Opfer und nicht Täter. Blieb dieser ominöse Schlüsselbund auf seinem Schreibtisch. Oberst Durand verzog unbehaglich den Mund. Natürlich war ihm bewusst, dass dieser Cavelli gewisse Privilegien innerhalb des Vatikan genoss, doch bislang hatte er das als eine Art amüsante vatikanische Folklore eingeschätzt. Erst vor einer Stunde hatte er zum ersten Mal Einblick in die übersetze Abschrift der päpstlichen Urkunde von 1503 genommen und war im ersten Moment schlichtweg entsetzt gewesen. Ein Mann, der, ohne ein vatikanisches Amt zu bekleiden, überall Zutritt hatte und noch einiges mehr. Ein sicherheitstechnischer Alptraum. Allerdings einer, an dem es nichts zu rütteln gab. Er versuchte, sich sein innerliches Widerstreben nicht anmerken zu lassen, als er Cavelli den Bund mit den zahlreichen – alten wie neuen – Schlüsseln hinüberschob. Cavelli bedankte sich und wies auf den kleinen Haufen von Gegenständen, der ebenfalls auf dem Schreibtisch lag. Das Wenige, was die beiden Einbrecher bei sich getragen hatten. Der Glücksfall, auf den er gehofft hatte, war tatsächlich eingetreten: Sie hatten Cavellis weggeworfenes Smartphone eingesteckt.
»Die haben mir mein Handy abgenommen. Erlauben Sie?« Er streckte die Hand danach aus und steckte es mit einer selbstverständlich wirkenden Geste ein. Durand nickte geistesabwesend. Darauf kam es nun auch nicht mehr an.
Cavelli war entlassen. Gemächlich verließ er das Büro des Kommandanten, doch schon im Flur beschleunigte sich sein Schritt. Im Treppenhaus fingerte er sein Smartphone aus der Tasche und wählte die gespeicherte Mobilfunknummer von Beatrice. Sie meldete sich bereits nach dem zweiten Klingeln.
»Don, wo ...?«
»Keine Zeit für Erklärungen, bist du noch auf der Krankenstation und ist der Kardinal in der Nähe? Nenn keine Namen, sag einfach ja oder nein.«
»Zweimal ja.«
»Hat einer von euch irgendetwas ausgesagt?«
»Nein.«
»Gut, dann hör jetzt genau zu. In den Vatikanischen Gärten steht der sogenannte Johannesturm, der Kardinal kennt ihn ...« Cavelli redete noch einige Minuten weiter und gab ihr genaue Instruktionen. Dann beendete er die Verbindung und suchte im Anrufspeicher nach einer bestimmten Nummer. Es dauerte nicht lange, bis er sie gefunden hatte. Cavelli tippte auf Nummer wählen. Erst nach einigem Warten meldete sich eine misstrauische Frauenstimme.
»Ja?«
»Signorina Silvestri?«
»Wer spricht da?«
»Hier ist Donato Cavelli.«
Am anderen Ende wurde hörbar nach Luft geschnappt. Eine längere Pause entstand.
»Sind Sie noch dran, Signorina?«
»Was wollen Sie?« Ihre Stimme war das personifizierte Misstrauen. Was war los mit der Frau? Sie hatte etliche Male versucht, ihn zu sprechen, und nun, da er sie anrief ...
»Wollen Sie immer noch ein Interview?«
Wieder Schweigen. »Was wenn?«
»Ich verschaffe Ihnen ein Interview mit Kardinal Monti. Er ist die Person, die am meisten über die Vorgänge bei diesem Konklave weiß.«
»Woher weiß ich, dass dies keine Falle ist? Man hat versucht, mich umzubringen.«
»Mich auch, falls das ein Trost für Sie ist. Das Interview wird in der Vatikanstadt stattfinden. Das dürfte Sie wohl beruhigen. Und ein Kameramann wird Ihr Interview mit dem Kardinal aufzeichnen. Gut?«
»Meine Wohnung wird beobachtet, also ganz sicher auch die Eingänge zum Vatikan. Man wird mit allen Mittel versuchen, mich am Reinkommen zu hindern.«
»Darüber hab ich mir bereits Gedanken gemacht. Sie betreten den Vatikan durch keines der Tore, sondern durch die Glaubenskongregation. Wissen Sie, wo die ist?«
»Nein.«
»Sehen Sie? Die meisten wissen das nicht. Es ist das große Gebäude an der Straßenecke links vom Petersplatz. Vor der Audienzhalle.«
»Ach ja, das, und wie ...?«
»Sie nehmen ein Taxi, steigen direkt vor dem Eingang aus und betreten das Gebäude. Ich erwarte Sie dort. Von da an sind Sie in Sicherheit.«
Wieder eine Pause.
»Warum tun Sie das, Signor Cavelli? Bisher haben Sie sich doch vehement gegen ein Interview gesträubt.«
»Ich bin immer noch dagegen, aber ich sehe keine Alternative. Wir müssen Öffentlichkeit herstellen, wenn wir das hier überleben wollen.«
»Wer ist wir, und was ist das?«
»Genau darum wird es in dem Interview gehen.«
»Ich kann fragen, was ich will?«
»Das steht Ihnen frei.«
Wieder dauerte es eine Weile, bis Fiona Silvestri antwortete.
»Das Filmmaterial steht mir exklusiv zur Verfügung. Und ich will Ihre Garantie, dass Monti keine anderen Interviews machen wird, es sei denn mit mir, verstanden?«
»Einverstanden«, antwortete Cavelli widerstrebend. Er sah auf seine Armbanduhr. »Seien Sie in einer Stunde da. Aber nicht früher!«
»Verstanden.« Ein Tuten in der Leitung zeigte an, dass sie aufgelegt hatte.
Cavelli zögerte. Dann wählte er eine weitere Nummer aus seinem Telefonspeicher. Der Teilnehmer am anderen Ende ließ sich über eine Minute Zeit, bis er den Anruf annahm. Schließlich meldete sich eine verschlafene Stimme. »Enzo?«
»Hier ist Professor Cavelli.«
Ein unterdrücktes Stöhnen war zu hören. «Was gibt’s?«
Cavelli erklärte es in wenigen Sätzen und endete mit: »Wie schnell kannst du beim Vatikan sein?«
»Na ja«, drang Enzos Stimme etwas verknautscht aus dem Hörer. »Duschen, anziehen, Frühstücken ... in knapp zwei Stunden könnte ich in etwa ...«
»Du hast dreißig Minuten, maximal. Ich erwarte dich an der Porta Sant’Anna.« Cavelli beendete die Verbindung, bevor Widerspruch aufkommen konnte. Er fühlte nach dem Schlüsselbund in seiner Jackentasche. Konnte der Plan, den er sich ausgedacht hatte, überhaupt gelingen? Durchaus. Aber die Chancen standen bestenfalls bei fünfzig Prozent. Wahrscheinlich weit schlechter.