Der kleine verwinkelte Raum, den man durch die Tür betrat, die sich links vom Altar der Sixtinischen Kapelle befand, war seit Jahrhunderten der Ort, an den sich ein neugewählter Papst zurückzog, um eines der drei bereitliegenden Papstgewänder anzulegen und Abschied von seinem bisherigen Leben zu nehmen. Aus diesem Grund wurde er die Kammer der Tränen genannt.
Heute jedoch gab es keinen Anlass für Tränen. Im Gegenteil, es war ein Tag des Jubels und des Triumphs. Soeben waren in der Sixtinischen Kapelle einhundertsiebzehn Kardinäle einer nach dem anderen vor ihm niedergekniet und hatten ihm Gehorsam geschworen. Ja, selbst Kardinal Monti hatte es getan, obwohl ihm anzusehen war, dass es ihn fast zerriss. Dreiundfünfzig Jahre hatte Rubino gearbeitet, um an diesen Punkt zu gelangen. Sicher, es war ursprünglich nicht seine Idee gewesen, und allein hätte er es niemals vollbringen können, ja, genau genommen war er nur eine austauschbare Schachfigur anderer Mächte. Doch diese Mächte hatten es vorgezogen, im Dunkeln zu bleiben, und so würde nun er, Rubino, ab heute und für alle Zeit das Gesicht dieser historischen Wende sein. Einer Wende, die an Bedeutung alles andere überstrahlen würde. Schon bald würde die Katholische Kirche nur noch als kümmerlicher Rest existieren. Ein Rest ohne finanzielle Mittel und vor allem ohne jede übernatürliche Ausstrahlung, ein Rest, für den sich kaum jemand interessieren würde. Jeder Versuch, wieder zu alter Größe aufzusteigen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn all das, was man in zweitausend Jahren erworben hatte an Geld, Tradition und Macht, würde nicht mehr zur Verfügung stehen. Nie mehr. Der Plan war perfekt. Man hatte schließlich Jahrzehnte Zeit gehabt, ihn bis ins kleinste Detail auszuarbeiten. Die Grundidee war von Anfang an klar gewesen. Ein Schlag gegen die Katholische Kirche, der diese in ihrer Gesamtheit zerstören würde. Aber kein offener Schlag, es sollte ein von innen heraus geführter Schlag sein, ein unsichtbarer Schlag. Damals hatte man ihn und andere aussichtsreiche junge Studenten rekrutiert. Es war von Anfang an klar gewesen, dass es viele Ausfälle geben würde. Abtrünnige, die ihre Weltanschauung im Laufe der nächsten Jahrzehnte ändern würden, teilweise in das Gegenteil ihrer früheren Überzeugungen, oder aber Männer, denen auf halber Strecke der Ehrgeiz abhanden kam, oder die von der Furcht vor Entdeckung gepackt wurden, und nicht zuletzt all diejenigen, die zwar loyal und fähig waren, es aber dennoch nicht weit genug nach oben schafften, um für die Mission von Nutzen zu sein. Wie bei den berüchtigten Cambridge five, den russischen Spionen Philby, Burgess, Maclean, Cairncross und Blunt, die ebenfalls in jungen Jahren rekrutiert worden waren und später hohe Positionen in der britischen Regierung innehatten, war es eine Frage von exzellenter Planung und unendlicher Geduld gewesen. Dazu waren Operationen gekommen, welche die anderen Kardinäle erpressbar machen sollten. Bei sieben von ihnen war es gelungen. Fünf und sieben. Das machte zwölf. Gewissermaßen die zwölf Apostel der Apokalypse. All das hatte sich am Ende ausgezahlt. Einer von ihnen, er, Rubino, war zum Papst gewählt worden. Demokratisch gewählt, doch mit unbeschränkten diktatorischen Vollmachten ausgestattet. Solange er nicht die Worte der Bibel in Zweifel zog, konnte er tun, was immer er wollte. Er würde schnell und gründlich sein. Der bis ins kleinste Detail durchdachte Plan lag bereit, er musste nur noch aktiviert werden. Ihn in Gänze umzusetzen würde eine Sache von wenigen Wochen sein, und dann würde es kein Zurück mehr geben. Er würde als Papst die Kirche zerstören, und viele würden ihm dabei noch zujubeln, denn alles geschähe natürlich im Namen der Demut und der christlichen Barmherzigkeit, doch am Ende würde jegliche Struktur vernichtet sein. Den Petersdom und den Vatikan sowie die bedeutendsten Kirchen in Rom und der Welt würde er dem jeweiligen Staat als Museen übereignen, denn seiner neuen, bescheidenen Kirche würde jedwede Prachtentfaltung fremd sein, da sie vom Glauben nur ablenke. In der Bibel stand nichts von einem Vatikan. Das Vatikanische Barvermögen, die Einnahmen aus dem Peterspfennig, die etwa zehn Milliarden der Vatikanbank sowie den größten Immobilienbesitz der Welt, dies alles war das persönliche Eigentum des Papstes. Hatte nicht Leo XIII. den Goldschatz des Vatikan unter seinem Bett versteckt? Hatte nicht Johannes Paul II. beim Besuch einer Favela spontan seinen goldenen Fischerring einer armen Familie geschenkt? Er, Rubino, würde unendlich viel weiter gehen. Unter ihm würde all das in soziale Projekte und den Aufbau von Infrastruktur in fernen Ländern fließen. Nicht natürlich in China, das wäre zu offensichtlich, aber an diejenigen, die mit China Geschäfte machten und die finanzielle Hilfe gut gebrauchen konnten. So würde China auf Umwegen davon profitieren. Die Diözesen auf der ganzen Welt würde er verpflichten, es ihm gleichzutun. Wie hatte Jesus gesagt: »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel.« Sämtliche kirchlichen Amtsträger oberhalb von Priestern würde er ihrer Würden entkleiden. Hatten Jesus oder Johannes der Täufer etwa ein Amt gebraucht, um das Wort des Glaubens zu verbreiten? Nein, dies leitete nur der Eitelkeit und der Bequemlichkeit Vorschub und lenkte vom Glauben ab. Priester würden künftig ohne Gehalt ehrenamtlich tätig sein, und Prälaten, Bischöfe und Kardinäle würde es schon sehr bald gar nicht mehr geben. Ohne Kardinäle jedoch würde es nicht möglich sein, nach ihm einen weiteren Papst zu wählen. Nie wieder. Ja, er, Rubino, würde der letzte Papst sein. Der Papst, der ausführen würde, was Jesus gewollt hatte und was er seinem engsten Vertrauten aufgetragen hatte. Nach ihm hatte sich Rubino auch seinen neuen päpstlichen Namen gegeben.
Petrus II.
Ein Kreis hatte sich geschlossen; die Katholische Kirche war zu ihrem Ursprung zurückgekehrt. So zumindest würde man es der Welt verkaufen, und die Welt würde applaudieren.
Petrus II. musste lächeln, als er über seine Namenswahl sinnierend in seine neuen roten Schuhe schlüpfte. Judas wäre passender gewesen ...