7

Da es keine Vorhänge oder Jalousien in der Kuppel gab, kam die Sonne Waynes Wecker zuvor. Er atmete weißen Dunst aus, setzte sich auf und hatte einen der schönsten Sonnenaufgänge vor sich, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Majestätisches Königspurpur und Orangegold überzogen den Himmel im Osten, als wären Licht und Farben explodiert.

Im Zimmer war es überraschend kalt. Der Wind drückte gegen die Nordseite der Kuppel und ließ die Scheiben leise in den Rahmen knacken. Wayne schlug die Decke zurück, rieb sich mit den Handballen die Augen und reckte sich wie eine Katze. Als er sich Kleidung aus einem der Kartons suchte, zitterte er schon.

Der Ring seiner Mutter lag auf der Fensterbank. Er nahm ihn und wollte sich gerade die Kette um den Hals legen, als er bemerkte, dass er warm war.

Was zum Teufel!?

»Dort oben ist es eiskalt«, sagte er zu seinem Vater, als er nach unten kam und die Schnürsenkel über den Boden zog. Er küsste den Ehering seiner Mom und schob die Kette dann wieder in sein T-Shirt.

Leon putzte sich die Zähne und hatte vor dem Badezimmerspiegel den freien Arm um sich geschlungen. Er trug nur eine Jogginghose. »Du stammst aus Chicago und beschwerst dich hier über die Kälte?«, fragte er und spuckte einen Mund voll Schaum ins Becken. »Freu dich, dass es nicht schneit. Mann, im Vergleich zu dem, womit ich aufgewachsen bin, ist es mild.«

»Ich weiß, ich weiß.« Wayne trampelte ins Erdgeschoss. »Barfuß im Schnee, den Berg rauf und wieder runter, bla, bla.«

»Bind dir die Schuhe zu, bevor du hinfällst«, sagte Leon von oben. »Du willst doch nicht am ersten Tag mit gebrochener Nase in der Schule auftauchen, oder?«

»Ich dachte, Mädchen stehen auf Narben.«

»Narben, ja. Aber nicht auf platte Nasen.«

Zum Frühstück gab es eine Schüssel Cerealien und Toast mit Butter. »Und, was hast du wegen der Katze entschieden?«, fragte Wayne seinen Vater in dem kurzen Augenblick, als der in der Küche war.

»Katze?«, fragte Leon. »Ach, ja.«

Der Junge sah ihn scharf an.

»Mir ist es gleichgültig, wenn du sie fütterst, solange sie draußen bleibt«, sagte sein Vater. Leon hatte sich endlich einen Anzug angezogen und band sich gerade die Krawatte. »Die fangen Mäuse, ehe sie ins Haus kommen, das ist gut. Ich möchte nur nicht, dass sie hier reinkommt.« Er band sich die Krawatte zu einem Four-in-Hand-Knoten und zog ihn fest. »Katzen sind schön und nett, aber sie machen viel Dreck.«

»Okay.«

Leon zögerte und beäugte ihn. »Alles cool?«

»Alles cool.«

Leon richtete seine Krawatte, zog den Kragen runter und knöpfte ihn zu. »Wie sehe ich aus?«, fragte er und nahm sein Jackett von einem der Küchenstühle.

»Professionell wie immer.«

Leon hob das Jackett in die Höhe. »Jackett oder kein Jackett?«

»Trag es, bis du bei der Arbeit bist, dann zieh es aus und häng es irgendwohin.«

Leon zögerte kurz, nickte nachdenklich und zog es über. »Mein persönlicher Mode-Guru rettet mir mal wieder den Tag.«

»Und kremple dir die Ärmel hoch. Dann siehst du aus, als wärst du zu allen Schandtaten bereit.«

Kremple die Ärmel hoch, hatte Mom vor tausend Jahren gesagt und sich gebückt, um Wayne in die Augen zu schauen. Die Erinnerung war in goldenes Licht getaucht wie eine antike Fotografie. Sie standen in ihrer alten Wohnung in Chicago, und der Spätsommerwind trug den Lärm des Verkehrs durch die offenen Fenster herein.

Warum?, hatte er gefragt.

Weil es so aussieht, als würdest du es ernst meinen, hatte sie gesagt.

»Bereit?«, fragte Leon.

»Legen wir los.«

»Ach.« Leon warf ihm einen nachgemachten Hausschlüssel zu. »Hey, du kannst heute dein Telefon anlassen, aber spiel nicht die ganze Zeit im Unterricht damit herum.«

»Das würde ich niemals tun«, sagte Wayne, den Mund voller Toast, »außerdem sind die Spiele auf diesem vorsintflutlichen Ding alle blöd.«

»Guter Junge.« Leon hetzte wieder in den Flur.

Wayne griff sich ins T-Shirt, zog den Ehering seiner Mutter an der Kette hervor und umklammerte ihn, während er aß. Das Metall fühlte sich immer noch warm an, als hätte es in der Sonne gelegen.

Er hob ihn ans rechte Auge, betrachtete die Küche hindurch und studierte die Pinnwand, die sein Vater neben dem inzwischen überflüssigen Festnetzanschluss angebracht hatte. Da sie erst so kurz hier wohnten, hingen noch nicht viele Sachen dran – Coupons für eine Pizzeria namens Miguel’s; Klebezettel mit verschiedenen Telefonnummern; eine To-do-Liste (Internet einrichten, Versicherung überprüfen, Ölwechsel machen lassen) und so weiter.

Wenn du nun eines Tages durch diesen Ring schaust 

Sei still, Pete.

Das hatte er dem anderen Jungen ja schon gesagt: Es war nur eine beruhigende Geste, als würde er eine Haarsträhne um einen Finger aufrollen oder die Arme verschränken oder am Stoff der Jeans reiben, was der Beratungslehrer »Stimming« oder »Selbststimulation« nannte. Wie eine schwere Decke in einer kalten Nacht erzeugte der Goldring, wenn er durch ihn hindurchsah, ein starkes Gefühl von Geborgensein, war Schutz und Schild, wie eine Maske. Vor einigen Jahren hatte sein Vater ihn überredet, ein paar Monate lang Baseball zu spielen, und so hatte er im Außenfeld mit dem Handschuh vor dem Gesicht gestanden, durch die Lücken zwischen Daumen und Zeigefinger gespäht und die Vorgänge auf dem Feld beobachtet. Er hatte schon damals gewusst, wie bescheuert es aussah, aber das machte ihm nichts aus. Der Geruch des abgetragenen Leders, die Dunkelheit dahinter und die Berührung der Maske auf den Wangen hatten beruhigend auf ihn gewirkt.

Er nahm die Brille ab, spannte den Ring im Rund zwischen Zeigefinger und Daumen ein, spreizte die anderen Finger ab und drückte ihn an die nackte Augenhöhle. Während er den nächsten Löffel Cerealien kaute, saß er am Tisch und betrachtete den nun verschwommenen Raum wie durch ein Monokel. Ja, er war nervös vor dem ersten Tag an der neuen Schule, so ganz allein.

Vergiss nicht, hatte Mom ihm gesagt, während Wayne die Ärmel hochkrempelte. Am ersten Schultag sind alle genauso nervös wie du. Vergiss das nicht, ja?

Okay, hatte er gesagt, es aber kaum geglaubt.

Stell dir vor, sie sind alle nackt, hatte Mom gesagt. Oder in Unterwäsche.

Wayne hatte sich vor Entsetzen gewunden. Ekelhaft. Er verzog das Gesicht und schob die Arme durch die Riemen seines Ranzens, der bald schon schwer mit Schulbüchern beladen sein würde. Außerdem wusste er gar nicht, wie Mädchenunterwäsche aussah.

Darüber hatte Mom gelacht.

Wayne erstarrte, den Ring am Auge, den Löffel auf halbem Weg zum Mund. Draußen vor der Küchentür stand jemand. Reglos.

Ein breiter Schatten fiel dunkel auf den Holzfußboden und erhob sich an der gegenüberliegenden Wand, ehe er hinter dem Türrahmen verschwand.

»Dad?«, fragte Wayne leise.

Wer da auch im Flur stand, er bewegte sich nicht und antwortete nicht.

»Dad?« Diesmal ein wenig lauter. »Dad, du kommst zu spät zur Arbeit.« Seine Stimme klang ein wenig brüchig. »Wo hast … wo steckst du denn?«

Keine Antwort.

Wayne beugte sich zur Seite, bis sein Kinn fast den Küchentisch berührte, und versuchte in den Flur zu spähen. Er reckte sich weiter und weiter, bis ein Fuß auf dem Boden stand, und nun konnte er eine Silhouette im Morgenlicht, das aus dem Wohnzimmer fiel, sehen. Eine Person vielleicht, die etwas Braunes trug, oder etwas Rotes, und mit angelegten Armen gerade außerhalb seines Schärfebereichs stand. Ohne Brille war es eben nur ein Schemen, ein unförmiger rotbrauner Fleck.

»Hallo?«, rief er erneut. »Dad, was machst du denn? Hast du dich umgezogen? Du kommst zu spät. Vergiss deine Brieftasche nicht. Du willst doch nicht …«

KRAWUMM. Die Wand bebte mit einem harten, hohlen Krachen, als hätte jemand eine Bowlingkugel dagegengedonnert.

Wayne fuhr hoch und riss seine Schüssel um. Rosa Milch und vollgesaugte Lucky Charms ergossen sich über den Tisch. Er schnappte sich seine Brille und setzte sie auf, blinzelte, als das Bild plötzlich klar wurde, und blickte vom Tisch in den Flur.

Was auch immer das für ein roter Schemen gewesen war, jetzt war davon nichts mehr zu sehen. »Warst du das?« Leon beugte sich aus der Wohnzimmertür vor.

»Nein.«

Leon sah ihn kritisch an. »Ehrlich?«

»Ja, absolut ehrlich. Ich würde es dir sagen, wenn ich es war. Außerdem habe ich noch nie solchen Unfug und solchen Lärm gemacht.«

»Und damals, als du eine Schüssel Ramen-Nudeln ohne Wasser in die Mikrowelle gestellt hast, da klang es, als wäre in der Küche eine Bombe hochgegangen. Und die ganze Wohnung war voller Rauch.«

Wayne schob die Brille auf der Nase hoch. »Das war vor Jahren.«

»Man konnte es aber noch riechen, als wir ausgezogen sind. Die Mikrowelle war hinüber.«

Wayne seufzte. Dad liebte es, ihm die Ramen-Geschichte unter die Nase zu reiben, wann immer Wayne anbot zu kochen. Er gab ihm nie eine Chance, die Sache wiedergutzumachen. Trotzdem würde Wayne nie dagegenhalten und erwähnen, wie oft sein Vater eine Stunde vor dem Zubettgehen volltrunken durch die Wohnungstür hereingetorkelt war. Wayne hatte sehr schnell gelernt, wie man sich Abendessen macht.

»Vielleicht ist oben etwas umgefallen«, sagte Leon aus dem Wohnzimmer.

»Vielleicht.« Wayne ging zurück in die Küche und machte den Tisch mit einer Handvoll Papiertücher sauber.

Er leckte sich noch die Lippen und stieß von den Cerealien auf, als er sich draußen an den Briefkasten stellte und auf den Schulbus wartete.

Laut Pete Maynar kam der Bus um sieben, doch es war schon zehn vor, und er entdeckte Pete nicht in der kleinen Gruppe Kinder, die auf der anderen Seite der Straße stand. Zwei Mädchen, zwei Jungen, alle außer einem jünger als Wayne. Das älteste war ein großes schwarzes Mädchen in einer Jacke aus Ballonseide, das Haar hatte sie auf dem Rücken zu einem dünnen Zopf geflochten.

Bei seiner Ankunft hörten sie auf zu reden und verstummten.

»Hi«, grüßte er und kniete sich hin, um seine Schuhe zu schnüren.

Zuerst antwortete niemand, dann sagte das große Mädchen: »Hi«, und stieß einem der Jungen mit dem Knöchel vor die Brust. »Sag hi. Das gehört sich so.«

»Hi«, sagte der Junge.

Die anderen sahen ihn an und stimmten mit mürrischen Grüßen ein.

Wayne überlegte, was er sonst noch sagen könnte.

»Ihr seid die, die ins Spukhaus gezogen sind«, sagte einer der Jungen.

Wayne drehte sich um und schaute zu dem viktorianischen Haus zurück, dann wandte er sich wieder den Kindern zu. Seine bauschige Jacke zischte und schnaufte bei jeder Bewegung in der stillen Morgenluft. »Ich bin jedenfalls da rausgekommen, ja.«

Das große Mädchen schlug dem Jungen vor die Brust.

»Aua. Was soll das?«

»Du bist unhöflich, Evan«, sagte sie und zuckte auf eine trotzige und etwas bedrückte Art die Schultern. »Tut mir leid. Ich bin Amanda.« Nacheinander tippte sie den beiden Jungen mit dem Zeigefinger an die Schläfen und schob die Köpfe zur Seite. Beide waren weiß, beide hatten von der Kälte rosa Nasen. »Das ist Kasey, das ist Evan. Sie sind meine Stiefbrüder. Die Kleine ist Katie Fryhover. Sie wohnt im Trailer hinten, bei ihrer Großmutter und ihrem Hund Champ.«

»Ich heiße Wayne. Wayne Parkin. Wir sind gerade von Chicago hergezogen.«

»Amanda …«

»Hugginkiss«, sagte Evan.

Amanda schlug ihn abermals. »Sei still. Ich heiße nicht Amanda Hugginkiss, sondern Amanda Johnson. Gott.«

»Hast du schon Geister gesehen?«, fragte die kleine Katie Fryhover. Auf ihre Oberlippe glänzte Rotz, und ihr fehlte ein Schneidezahn.

»Ich habe mit einem gefrühstückt«, antwortete Wayne und spürte plötzlich den warmen Ring auf seiner Brust. Den Kids fielen vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf. Instinktiv rieb er durch das T-Shirt hindurch an dem Ring. »Ich frühstücke jeden Morgen mit einem Geist.«

»Woooaaah«, krähten Evan und Kasey Johnson gleichzeitig.

Amanda sah ihn misstrauisch an.

»Echt?«, fragte Katie.

»Yup.« Wayne lächelte. »Mein Dad und ich reservieren einen Platz für sie. Niemand außer ihr darf dort sitzen.« Die andächtige, milde Art, in der er es sagte, dämpfte die Aufregung der Kinder etwas, und sie verstummten.

Irgendwo im Wohnwagenpark schlug eine Tür zu, und Pete kam schnaufend den Kiesweg herunter zur Straße. Im Gehen zog er sich eine Jacke an und wechselte dabei eine Pop-Tart von einer Hand in die andere. Als er bei ihnen ankam, kämpfte er immer noch mit der Jacke und hatte dabei einen Arm hinter dem Rücken.

»Verdammt!«, fluchte er, die Pop-Tart im Mund. Die Kids lachten. Pete biss voller Ärger versehentlich die Pop-Tart durch und versuchte, sie mit der freien Hand aufzufangen, doch dabei schleuderte er sie in die Gosse. Wütend kaute er, aber die Jungen lachten noch lauter. »Seid ihr jetzt zufrieden?«

Amanda grinste hinter vorgehaltener Hand. »Bestimmt war das nicht deine erste.«

Wayne verzog das Gesicht, als er daran dachte, wie wenig Pete in Wirklichkeit aß.

»Ich hasse es einfach, Essen zu verschwenden.« Pete zerrte sich die Jacke über und blies Dunst in die Luft. »Morgen, Bruce Wayne. Wie war deine erste Nacht im Haus der tausend Leichen?«

»Ganz okay. Ich habe allerdings nur ein paar Leichen gesehen. Nichts Besonderes.« Ein Mundwinkel von Wayne verzog sich zu einem Grinsen. »Auf keinen Fall so schlimm, wie sie gesagt haben.«

»Nicht wie in der Werbung? So ein Mist.« Pete gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

Das ferne Schnarchen des Schulbusses röhrte durch die Bäume. Hinter ihnen schlug eine Wagentür zu, und die Kinder gingen aus der Einfahrt, damit Waynes Dad durchkam. Der Subaru schwenkte in die Straße ein, wo Leon anhielt und sein Fenster nach unten ließ. Eine Morgensendung war aus dem Wagen zu hören, zwei Männer, die über einen Pasteten-Ess-Wettbewerb an einem Ort namens Rome redeten. »Ich wünsche dir einen guten ersten Schultag«, sagte er und stellte das Radio ab. »Wenn du mich brauchst, weißt du, wie du mich erreichst.«

Waynes Telefon steckte in der Innentasche seiner Jacke und drückte neben Moms Ehering an seine Brust. »Okay. Dir auch einen schönen Tag, Dad.« Das Telefon war ein Billiggerät, das halb so alt war wie er selbst, es hatte keine Apps oder Spiele außer einem blöden Flipper und einem Spiel, in dem man mit einem Hasen Karotten suchen und fressen musste, aber er konnte Leon anrufen oder ihm eine Nachricht schicken.

»Dad?«, sagte er.

»Ja?«, fragte sein Vater.

»Was war das eben für ein lautes Geräusch?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Leon. »Ich bin nach oben gegangen und habe mich umgeschaut, aber nichts auf dem Boden gesehen außer den Umzugskartons, die vorher schon da standen. Vielleicht kam es aus den Rohren. Hast du Wasser laufen lassen?«

»Nein. Ich habe am Tisch gesessen und gefrühstückt.«

»Dann weiß ich es auch nicht. Wir schauen danach, wenn ich zu Hause bin. Aber es ist eben ein altes Haus. Wer weiß? Dinge, die renoviert werden müssen, können alle möglichen Geräusche machen.« Der Schulbus schnaufte die Straße entlang auf sie zu. Leon zeigte auf die Kids. »Bleibt cool, Compadres«, sagte er und fuhr los.

Wayne verdrehte die Augen.

Sie stiegen nacheinander in den Bus, ein klappriges, zugiges Ding, das mit lärmenden Kindern vollgestopft war. Nachdem Wayne einen Sitzplatz gefunden hatte, sah er aus dem Fenster. Schwarze Schwingen kamen aus einem Baum herab, und eine Krähe landete im Gras am Straßenrand.

Der Vogel schnappte sich die Reste von Petes Pop-Tart mit dem Schnabel, kämpfte sich wieder in die Luft und flog davon.

Nachdem Wayne seine bisherige Kindheit in Chicago verbracht hatte, fand er die King-Hill-Grundschule fast zu ruhig und auf hinterwäldlerische Art düster. Im Speisesaal plätscherten verschlafene Gespräche vor sich hin, während Kinder mit verquollenen Augen sich leise unterhielten oder den Kopf auf die Arme legten, um noch ein paar Minuten zu dösen, ehe der Tag loslegte.

Die meisten waren weiß, fiel ihm auf, als er mit Pete zwanzig Minuten vor dem Klingeln eintrat.

Das hatte er durchaus erwartet. Es gab fast keine Mexikaner, keinen einzigen Asiaten, und abgesehen von Amanda, sah er nur eine Handvoll schwarzer Kids, die mehrere Jahre älter waren, schlaksige Teenager, die sich in einer Ecke nebeneinander an die Wand gelehnt hatten wie Tauben auf der Stange und mühsam gegen den Schlaf ankämpften.

Zu seiner Überraschung verlief der Morgen ziemlich locker. Als er in seiner Klasse aufstehen und sich vorstellen musste, wovor er seit dem Umzug Angst gehabt hatte, begrüßten ihn alle mit »Hi, Wayne«, und außer ein paar halbherzigen Batman- und Cowboy-Witzen war das alles.

Der Unterricht war leicht im Vergleich zu dem, was er zu Hause gelernt hatte – vom Lehrplan her fast ein ganzes Jahr zurück. Dadurch hatte er das Gefühl, versehentlich in eine Förderklasse geraten zu sein, oder in einer Zeitschleife zu stecken, durch die er das vergangene Jahr wieder und wieder durchleben musste.

Gut, dachte Wayne, dann bin ich den anderen Kids ein Jahr voraus. Ich kann es locker angehen lassen und brauche nicht für die Klassenarbeiten zu lernen.

Eine andere Sache, die er nicht erwartet hatte, war die klaustrophobische Enge der kleinen Schulgemeinde – keine Klasse hatte über fünfundzwanzig Kinder und einige sogar weniger als fünfzehn.

Im Unterricht herrschte eine ungewöhnlich lockere Atmosphäre, als hätten sich einfach ein paar Leute entschlossen, sich zu versammeln und jemandem bei seinem Vortrag zuzuhören. Die Lehrer spielten sich nicht bedrohlich vor einer unruhigen Klasse auf, sondern waren freundlich, engagiert und fröhlich.

Durch die riesigen Fenster der Klassenzimmer schien die Sonne hell herein, und anstelle auf die Düsternis zwischen den monumentalen Gebäuden Chicagos, schaute er hier auf schwankende Baumwipfel. Mehrere Jungen trugen Latzhosen und rochen wie ein Komposthaufen. Wayne fühlte sich, als wäre er in einem Dorf von Amischen gelandet. Irgendwie erwartete er halb ein Butterfass in der Ecke oder ein Huhn, das mitten im Unterricht ins Klassenzimmer spazierte.

Ein wenig entmutigend fand er es, dass sich außer Pete und Petes Freund Johnny Juan niemand richtig mit ihm unterhalten wollte. Die weißen Kids waren freundlich, blieben aber auf Distanz und behandelten Wayne wie einen Geist, der nur dann körperlich wahrnehmbar war, wenn jemand unbedingt mit ihm sprechen musste. Den Rest der Zeit war er unsichtbar.

»Und was machen deine Mom und dein Dad, Wayne?«, erkundigte sich Johnny beim Mittagessen, während er das Chili Bohne für Bohne in den Mund löffelte.

»Johnny« Juan Ferrera war ein dünner mittelamerikanischer Junge, der laut Pete im vergangenen Jahr von Florida heraufgezogen war. Juan und seine Großfamilie lebten in einem der urbaneren Viertel am Südostende der Stadt, wo mehrere seiner Verwandten in der Mount-Weynon-Textilfabrik und dem mexikanischen Restaurant am Südende der Stadt, in der Umgebung des Colleges, arbeiteten.

Pete war einmal bei Johnny gewesen, bei einer Geburtstagspyjamaparty. Wenn Wayne glauben durfte, was man ihm erzählte, hatte Johnny Juan die neueste Xbox und besaß mehr Lego als Pete in seinem ganzen Leben auf einem Haufen gesehen hatte, aber Johnny und sein Bruder schliefen in Schlafsäcken auf dem Boden, weil die Großeltern ihre Betten okkupiert hatten.

»Mein Vater unterrichtet Literatur. Er arbeitete an der Blackfield Highschool.« Wayne nahm den Ring aus dem T-Shirt, steckte den Finger hinein und rieb über die raue Gravur auf der Innenseite. Dieses meditative Ritual tröstete ihn immer. »Meine Mom … ist vor ein paar Jahren gestorben.«

Johnny hielt kurz inne und schaute Wayne zu, der in sein Chili starrte, dann kratzte er sich den Kopf und aß weiter. Ein Tablett landete klappernd auf dem Tisch, und ein Mädchen ließ sich auf den Platz zwischen ihnen fallen.

»Hi, Kids«, sagte Amanda Johnson.

Pete sah von seiner zerlegten Zimtschnecke auf. »Wie läuft’s, Alter?«

Sie warf ihm einen bösen Blick zu und aß ihr Chili mit dem Löffel so etepetete, als hätte sie teure Hummercremesuppe vor sich. Aus der Nähe sah Wayne jetzt ein Minenfeld aus Akne in der Mitte ihrer Stirn, das sie mit Make-up abgedeckt hatte.

»Was guckst du so?«, fragte sie mit mildem Gift in der Stimme.

Wayne zuckte mit den Schultern und aß weiter. Sein Handy knurrte in seiner Jacke. Eine Nachricht von seinem Vater. FÄHRST DU MIT DEM BUS NACH HAUS, ODER SOLL ICH DICH ABHOLEN?

»Habt ihr schon gehört?«, fragte Amanda, als würde sie eine Geschichte am Lagerfeuer erzählen. »Offensichtlich läuft in der Stadt ein Mörder herum.«

Johnny Juan roch an seiner Milch. »Woher hast du das denn?«

Tipp, tipp, tipp, schrieb Wayne seinem Vater zurück: HOL MICH RUHIG AB.

»Vorgestern hat Jeff Beeslers Hund einen Knochen nach Hause gebracht, der wie von einem Menschen aussah.« Amanda blinzelte verschwörerisch und beugte sich vor. »Ihr wisst, wer Jeff Beesler ist, ja? Er ist in der achten Klasse und spielt Football. Ich kenne ihn schon, seit ich klein bin. Er mag …«

Johnny Juan unterbrach sie. »Nie im Leben.«

»Quatsch«, sagte Pete. »Was für ein Knochen war es denn?«

Das Mädchen war verärgert wegen der Unterbrechung. »Woher soll ich das wissen, sehe ich aus wie ein Wissenschaftler? Sie sagen, es war ein Stück vom Rückgrat. Jeff hat ihn der Polizei übergeben, und die haben ihn zum kriminaltechnischen Labor des Georgia Bureau of Investigation in Summerville geschickt.«

»Ey, echt, das ist Quatsch«, wiederholte Pete. »Niemand bringt hier irgendwen um. Ist bestimmt ein Knochen von einem toten Hirsch oder so.« Er fuchtelte mit dem Eiscremesandwich, das er aß. »Ich habe keine Angst vor einem Mörder. Ich weiß, wie man sicher nach Hause kommt, Mann. Auf meinem Weg erwischt mich kein Killer.«

Wayne sah von seinem Telefon auf. »Echt?«

»Ja. Dauert ein bisschen länger als mit dem Bus, aber ich bin ganz bestimmt der Einzige, der diesen Weg kennt. Oder der ihn benutzt. Ich kenne diese Stadt wie meine eigene Hand.« Pete legte seine dicke Hand auf den Tisch und fing an, mit der Gabel zwischen die Finger zu stechen. Dong … Dong … Dong. »Wir sollten meinen Weg nehmen, wenn wir heute von der Schule nach Hause gehen. Kommst du mit, oder bist du ein feiges Huhn?«

»Mann, so ein Mist zieht nicht bei mir«, sagte Wayne.

Tipp, tipp, tipp. KANN ICH MIT PETE NACH HAUSE LAUFEN?

Pete steckte die Hände in die Achselhöhlen und machte mit den Ellbogen eine Bewegung, als würde er mit den Flügeln schlagen. Mit dem grimmigen Gesicht wurde die Imitation eines Huhns noch zwingender. »Ach, ja? Gacker, gacker, gacker.«

BIST DU VERRÜCKT? DAS IST ZU WEIT.

»Wenn du Angst hast, kann ich mit euch gehen.« Amanda beugte sich vor. Ihre überspachtelte Akne sah aus dieser Entfernung wie Gips aus. »Als Aufpasserin natürlich. Hast du Angst? Ist schon in Ordnung.«

»Denn du bist ja nur ein kleiner Junge«, sagte Pete. »Hey, Nerd, lass mal das Handy in Ruhe. Wir versuchen hier, Gruppenzwang auf dich auszuüben.«

PETE KENNT ABKÜRZUNGEN. WIR SIND GANZ SCHNELL ZU HAUSE.

Johnny mischte sich ebenfalls ein. »Ey, ich komme auch mit. Ich habe keine Angst.«

NEIN.

»Du wohnst doch gar nicht bei uns draußen«, sagte Amanda. »Wie kommst du dann nach Hause?«

»Mein Onkel kann mich abholen. Er arbeitet in der Frühschicht und hat um fünf frei.« Johnny zuckte mit den Schultern. »Außerdem vermisst mich sowieso niemand. Die halbe Zeit wissen die überhaupt nicht, wo ich stecke. Und es ist Freitag. Bis Sonntagmorgen brauche ich nirgendwo aufzulaufen.«

DU HAST DOCH GESAGT, ICH SOLL MIR FREUNDE SUCHEN. SO FINDE ICH WELCHE.

Vom älteren Parkin kam keine Antwort. Die Aufsicht im Speisesaal, die Klassenlehrerin einer siebten Klasse, Mrs. Janice, begann, die Kinder hinauszuscheuchen, und Wayne stellte sich in eine Reihe mit anderen Kindern. Er stritt sich gerade mit Pete darüber, was elastischer war, Batmans Skyhook oder das Netz von Spider-Man, als das Handy wieder vibrierte.

ALSO GUT. ABER DU GEHST DIREKT NACH HAUSE. VERSCHLIESS DIE TÜREN. MUSS HEUT LÄNGER ARBEITEN. BIN BALD ZU HAUSE.

»Sieht aus, als würden wir zu Fuß nach Hause gehen«, sagte Pete, der ihm über die Schulter spähte.