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1168 Underwood Road bildete eine beeindruckende neogotische Silhouette vor dem grellweißen Nachmittagshimmel. Das Haus war ein zweigeschossiger Queen-Anne-Victoria-Bau, ein antikes Puppenhaus, das graublau gestrichen war wie eine Regenwolke. Eine umlaufende Veranda zog sich am Gebäude entlang, das mit weißen Eastlake-Ornamenten gesäumt war.
An manchen Stellen sah man Streifen wie Mascara-Tränen, als hätte das Haus aus den Kanten Ruß geweint.
»Was habe ich dir gesagt?«, fragte Leon. »Cool, oder?«
Wayne löste den Gurt, lehnte sich vor und schob die Brille hoch. Der Junge schaute sich durch die Windschutzscheibe des Mietwagens ihre neue Operationsbasis an.
»Sieht aus wie das Haus aus Amityville Horror oder so«, sagte er und sah durch das Seitenfenster.
Die Siedlung erstreckte sich nach rechts weiter, anderthalb Meilen flacher roter Ziegel-Ranchhäuser, breite Häuser, auf deren Rasen überall Spielzeuge verstreut waren, weiße Cottages, ein paar Nurdachhütten, die zwischen den Bäumen hervorschauten. Gegenüber von 1168 befand sich ein kleiner Wohnwagenpark, acht oder neun mobile Zuhause, die in regelmäßigen Abständen bis zu einer fernen Baumreihe standen. Da sein Fenster halb heruntergefahren war, konnte Wayne von irgendwoher das kreischende Möwengeschrei spielender Kinder hören.
Große Lichtpunkte spiegelten sich auf den Gläsern seiner Brille. Aus einem Gefühl heraus sah er wieder zum Haus 1168, als sei er erwischt worden. Leere Fenster starrten herab wie Augen, und die Dunkelheit drängte von innen gegen ihre Scheiben, als wären die Räume bis zum Platzen mit Schatten gefüllt.
Ein Grinsen kroch über sein Gesicht. »Einfach geil.«
Leon strahlte.
Sie stiegen aus dem Transporter und trampelten die Vordertreppe hinauf. Die Veranda war breiter als erwartet, breit genug, um mit dem Fahrrad hin und her zu fahren, wenn er wollte. Unter den vorderen Fenstern standen Rattanstühle, und von der Decke hing, wo die Veranda um die Ecke bog, eine breite Schaukel an Ketten.
In dieser Richtung stand eine Katze, ein schlankes graues Tier mit schwarzen Füßen und honigfarbenen Augen. Wayne lächelte. »Hi, Kätzchen.«
»Bist du das Empfangskomitee?«, fragte sein Vater.
Die Katze gab ein heiseres Miauen von sich, trottete davon und ließ sich am Ende der Veranda an der Schaukel nieder.
»Ich glaube kaum.« Leon hob den Zeigefinger. »Erinnere mich, dass ich Katzenfutter kaufe, wenn ich in die Stadt fahre.«
»Heißt das, wir können die Katze behalten?«
»Es heißt, wir können das Empfangskomitee füttern.« Er lachte. »Dann braucht die Katze nicht um den heißen Brei herumschleichen.«
»Das ergibt keinen Sinn.«
»Ist ein Dad-Scherz. Es braucht keinen Sinn zu ergeben.«
Klick. Er zuckte zusammen bei dem unheilvollen Geräusch, als sein Vater die Haustür aufschloss. »Sieh dir das an, hier gibt es sogar noch einen dieser altmodischen Schlüssel«, sagte Leon und zeigte Wayne den langen, dünnen skelettartigen Schlüssel. Dann drückte er die Tür mit den Fingerspitzen auf.
Zu seiner Enttäuschung quietschte sie nicht melodramatisch, sondern der Türknauf knallte laut an die Wand. Leon zuckte nun ebenfalls zusammen, trat ein und sah hinter der Tür nach, ob etwas kaputtgegangen war. Wayne folgte ihm, stand da, drehte sich langsam im Kreis und nahm alles in sich auf. Der scharfe Geruch von frischer Farbe hing durchdringend in der Luft. Der Eingangsflur war unendlich hoch – die Decke schien fünf Meter entfernt zu sein – , trotzdem fühlte er sich eng an und bot gerade genug Platz, damit drei Männer nebeneinanderstehen konnten. Wenn er sich auf den Boden legen würde, könnte er mit Händen und Füßen die Wände berühren.
Rechts gelangte man durch einen Torbogen ohne Tür in eine Art Wohnzimmer. Links führte eine Treppe in den ersten Stock, und am Fuß der Stufen gähnte ein dunkles Badezimmer, in dem trübes Tageslicht auf den Chromarmaturen glitzerte. Geradeaus ging der Flur an zwei Wandschränken vorbei in eine mit Linoleum ausgelegte Küche.
Den roten Läufer mit verschlungenem Muster hatte der Makler ausgelegt, neu und sauber. Dessen ungeachtet, hallte jeder Schritt, jeder leise Laut und jedes Wort in kurzen Echos durch das Haus.
»Hallo?«, rief Leon.
Eine entsetzliche Sekunde lang erwartete Wayne beinahe, von oben eine Antwort zu bekommen. Super! »Glaubst du, hier spukt es?«
Leon steckte die Hände in die Taschen. »Wer weiß?«
Das Wohnzimmer war ein behaglicher Raum, wenn auch noch unmöbliert bis auf leere Bücherregale und eine gepolsterte Leseecke vor dem Fenster. Die Wände waren im gleichen verregneten Blau gestrichen wie das Äußere. Ein bescheidener Kamin stand düster und leer an einer Wand.
»Ich glaube, ich muss mal sehen, ob einer der Nachbarn beim Sofa mit anpackt.«
»Ich kann dir helfen.«
»Ich weiß nicht, es ist groß. Am Ende verletzt du dich noch. Wir haben es schon kaum aus dem Apartment geschafft.«
Sie gingen in die Küche, wo die Wände tapeziert waren, und zwar mit gelben Sonnenblumen, die vermutlich fröhliche Stimmung verbreiten sollten, aber eher verloren und schäbig wirkten. Der Kühlschrank war ein schwarzer Side-by-Side-Riese, der nagelneu fleißig in der Ecke brummte, und die Arbeitsplatte auf den dunklen Kirschholzschränken bestand aus dunklem Marmor.
Wayne entschied, dass die Küche nicht sein Lieblingszimmer werden würde. Leon ging zu allen Fenstern, zog die Vorhänge zurück und ließ die Sonne ein. Staub wirbelte in den sanften weißen Strahlen.
Die Speisekammer war überraschend groß, ein schmaler Raum mit Regalen an drei Seiten. Er wollte an ihnen hochklettern und nachschauen, was sich auf dem obersten Brett befand, aber sein Vater legte ihm eine Hand auf die Schulter und zog ihn zurück. »Nee. Komm, wir schauen uns die Schlafzimmer an.«
Die Treppe war steil und ächzte, als wäre sie aus Eisstielen gebaut, knarrte, knackte, polterte.
Der erste Stock wirkte irgendwie geräumiger als das Erdgeschoss. Sobald sie auf den Treppenabsatz traten, erstreckte sich ein schmaler, T-förmiger Flur vielleicht acht oder zehn Meter weit zu einem Fenster, das von zwei Türen flankiert wurde. Die rechte führte ins große Schlafzimmer, das nicht möbliert war und aus dessen begehbarem Kleiderschrank es nach Mottenkugeln roch. Durch die linke gelangte man ins Badezimmer mit Badewanne auf Klauenfüßen und Porzellanwaschbecken.
Die Wände waren rosa und blaugrün gefliest, doch von der Mitte an und an der Decke bestanden sie nur aus gestrichenem Gipskarton. Leon berührte die Wand. »Was mir gerade auffällt: Bei dem Gipskarton wird es schwierig, Schimmel zu verhindern. Aber dieses Pink ist krass.«
Wayne verzog das Gesicht. Ein großer Metallreif war an der Decke befestigt, und daran hing ein durchsichtiger Plastikvorhang bis in die Wanne. »Was für eine Badewanne hat eigentlich Füße?«
Wieder im Flur, schob er niedergeschlagen die Hände in die Taschen. »Wo ist mein Zimmer?«
»Ach.« Leon suchte den Flur ab, sah sogar aus dem Fenster und spähte noch einmal in das große Zimmer. »Mir war doch so, als hätte ich was vergessen. Ich fürchte, du musst in der Garage schlafen, Chef.«
Die Enttäuschung saß tief. »Ach, komm, lass den Unsinn.«
Sein Vater rieb sich den Kinnbart, hob den Zeigefinger und eilte davon, als sei ihm gerade etwas wieder eingefallen. »Es gibt noch einen Raum, den wir uns noch nicht angesehen haben. An der Treppe ist noch ein Wandschrank, in dem du schlafen kannst, wenn du reinpasst.«
»Ein Wandschrank?«
»Ja, wie bei Harry Potter.«
»Harry Potter musste unter der Treppe wohnen.« Wayne folgte ihm zurück zur Treppe und blickte übers Geländer hinweg nach hinten aus dem Fenster. Von hier aus sah er eine klapprige Gartenhütte und einen riesigen Hinterhof.
Neben dem Fenster befand sich eine Tür, die Leon öffnete und durch die man eine Wendeltreppe sah, die sich im sanften Sonnenlicht nach oben schraubte.
Leon zuckte mit den Schultern. »Nach dir.«
Wayne stieg hinauf und krabbelte dabei fast auf allen vieren. Die Treppe endete in einem runden Raum mit Fenstern, der ihn an den Glockenstuhl eines Kirchturms erinnerte. Die Wände bildeten dabei keinen perfekten Kreis, sondern ein Achteck, wie ein Stoppschild.
Die Decke war gerade hoch genug, damit sich sein Vater nicht bücken musste, aber er drückte mit den Fingerspitzen dagegen, als müsste er sie in die Höhe halten.
»Man nennt es eine Kuppel«, sagte Leon. »Was hältst du davon?«
Die »Kuppel« wirkte klein, doch nachdem Wayne von einem Fenster zum anderen gegangen war und nach draußen geschaut hatte, war der Raum größer, als der erste Anschein vermuten ließ. Genug Platz für sein Bett, und unter jedem der vier Fenster gab es eine kleine Sitzbank, unter der sich Stauraum befand. Er stieg auf eine davon und schaute nach draußen.
Auf der anderen Straßenseite schlängelte sich ein langer Schotterweg zwischen einem Wohnwagenplatz und einigen kleinen Landhäusern einen Hügel hinauf zu einem Gebäude, das aussah wie die Bilder, die er von Fort Alamo gesehen hatte. Drum herum rosa Mauern mit schmiedeeisernen gotischen Eisenzähnen und braunen Dachziegeln. Ein Mann lenkte einen Rasenmähertraktor den Hang davor hoch und runter und schnitt mattes grünes Gras.
»Gefällt mir«, sagte Wayne. Im Süden sah er die Spitzen von Gebäuden im fernen Blackfield, die über die Bäume hinter dem Haus ragten.
»Dann willkommen in deiner neuen Bat-Höhle, Master Wayne.«
»Die Bat-Höhle ist unterirdisch.«
Leon verharrte in seiner Atlas-Pose und stützte die Decke weiter mit seinen Händen. »Du musst Geduld mit mir haben. Ich bin alt und habe den Überblick verloren.«
»Batman ist älter als du.«
»Wenn du jetzt nicht aufhörst, lass ich dich trotzdem in der Garage schlafen.«
Im Laufe des Nachmittags schafften Wayne und sein Vater die meisten Kartons und Möbelstücke ins Haus, nur nicht das Sofa und den Esszimmertisch. Am schwierigsten waren Waynes Matratze und der Lattenrost, die Leon eigentlich allein tragen konnte (Wayne schob nur zur Unterstützung von hinten), bis sie die Wendeltreppe zur Kuppel erreichten. In dem engen Raum wurde das eine echte Herausforderung, die von Flüchen, Schweiß und mehrfachem Anstoßen begleitet wurde. Hinterher waren sie gereizt und nicht gut aufeinander zu sprechen.
Um den Esszimmertisch hineinzutragen, brachten sie ihn auf die vordere Veranda, drehten ihn wie eine riesige Münze auf die Seite und rollten ihn hinein. Leon scheuchte Wayne vor den Tisch und verwirrte ihn damit zunächst, doch als sein Vater die Titelmelodie von Indiana Jones summte und so tat, als wäre der Tisch der Felsen aus Jäger des verlorenen Schatzes, begriff er und tat so, als würde er in Zeitlupe davonlaufen.
Während sie arbeiteten, blieb die graue Katze auf Abstand, saß nahe der Verandaschaukel auf dem Geländer und schaute ihnen zu, wie sie Kartons ins Haus schleppten. In den leuchtenden Augen des Tieres flackerte neugierige Intelligenz, als würde es sie taxieren.
»Du könntest ruhig helfen«, sagte Leon.
Die Katze antwortete mit einem rauen Schnarren.
Ihr stahlblauer Subaru stand schon in der Kieseinfahrt, vor dem gemieteten Transporter; Leon hatte ihn vor dem Umzug hergebracht. Sie machten eine Pause, fuhren in die Stadt und holten sich Hamburger bei Wendys. Bei ihrer Rückkehr wurde es bereits Abend, und das Licht im Osten über den Bäumen schwand langsam.
»Verdammt, ich habe echt keine Lust, irgendwo so spät zu stören. Diese Hinterwäldler gucken mich so seltsam an«, sagte Leon, schloss den Leihwagen auf und öffnete ihn. »Aber ich würde den Wagen gern so schnell wie möglich zurückgeben. Ich denke, wir machen morgen Nachmittag weiter.«
»Hey«, sagte eine heisere Stimme von hinten.
Ein pummeliger weißer Junge mit Bürstenhaarschnitt kam die Einfahrt hoch, die Hände in den Taschen seines Hoodies vergraben.
Er mochte ungefähr so alt wie Wayne sein, allerdings ein paar Zentimeter größer. Wayne fand, er sah aus wie Pugsley Addams als Normalo oder vielleicht wie der ältere Bruder aus Kevin – Allein zu Haus.
»Hey«, sagte Leon.
Als wäre es das Stichwort für die Katze, sprang diese vom Geländer und trottete durch den Garten in Richtung Wohnwagenplatz auf der anderen Seite der Landstraße.
Pugsleys Stimme klang schrill und heiser wie die von jemandem, der häufig schreit. »Zieht ihr hier ein?«
»Ja.«
»Cool.«
Eigenartiges Schweigen breitete sich aus. »Schön, dich kennenzulernen«, meinte Leon und lächelte. »Können wir irgendetwas für dich tun?«
Pugsley schien aus einer Trance zu erwachen. »Oh! Ich, äh, ich wollte nur guten Tag sagen und … fragen, ob Sie Hilfe brauchen. Aber anscheinend sind Sie schon fast fertig.« Er trat vor und streckte seine rosa Stummelfinger aus. »Ich bin Pete.« Er zeigte über die Straße zum Wohnwagenplatz und fügte hinzu: »Pete Maynard. Ich wohne da drüben. Bei meiner Mom. Ich gehe in Blackfield zur Schule. Fünfte Klasse.«
Leon entspannte sich sichtlich und schüttelte die angebotene Hand. »Schön, dich kennenzulernen, Pete. Leon Parkin. Das ist mein Sohn Wayne.«
Pugsley-Pete schüttelte Wayne die Hand und sagte zu seinem Vater. »Willkommen in Slade.«
Leon steckte die Hände in die Taschen. »Tja. Ich denke, wo du schon mal hier bist, kannst du auch gleich helfen, wenn du willst.«