25
Eine Stimme drang in die Traumvision vor: angespannt und von Ferne, ein gedämpftes Knurren aus tausend Meilen Entfernung. Langsam und benommen begriff Robin, dass hinter ihrem Kopf Bretter waren, nicht mehr die Vertäfelung der Wand, sondern Bodendielen, und sie lag auf dem Rücken, hatte die Zähne zusammengebissen und die Beine schmerzhaft unter sich verschränkt, als wäre sie mitten in einem Gitarrensolo-Knie-Rutscher ohnmächtig geworden. Den silbernen Osdathregar-Dolch umklammerte sie mit einer Hand, ihre Finger schmerzten.
»Ich hab dich«, wiederholte die Stimme.
Hände packten ihre Handgelenke. Der Boden glitt unter ihr dahin. Jemand zog sie durch die Dunkelheit. Ein Zittern durchfuhr sie, als würden ihre Knochen vibrieren, und der bittere Geschmack von Stahl breitete sich in ihrem Mund aus, während ihr der beißende Geruch von brennendem Gummi in die Nase stieg.
Ihre Zähne klapperten. Die Welt verabschiedete sich wieder.
Gestalten umrundeten sie, ein bedrohliches Tribunal unheilvoller Schemen. Robin erwachte, schnappte nach Luft und schob sich zurück. Ihr Herz pochte gegen die Rippen.
Noch mehr Dämonen.
Instinktiv reckte sie ihnen den Silberdolch entgegen.
»Aber hallo, Stecherin«, sagte eine der Gestalten.
Sie lag auf einer Bettdecke in einem kalten Raum, in dem graublaues Morgenlicht durch Gardinen lugte. Das große Schlafzimmer, das Schlafzimmer ihrer Eltern – nein, jetzt gehörte das Zimmer dem Mann, dem Vater des Jungen. Leon? Genau, so hieß er.
»Guten Morgen.« Mr. Parkin persönlich stand vor ihr, neben ihr Kenway. Der Digitalwecker auf dem Nachttisch stand auf Viertel vor acht. Robin drehte sich um, hielt sich den schmerzenden Kopf und krümmte sich zusammen. Eine bizarre Sekunde lang fühlte sich die raue Decke unter ihr an wie ein Erdboden, und der feuchte, muffige Geruch des kerkerhaften Kellers saß ihr noch in der Nase. Ihr Rücken, ihr Kopf und ihre Ellbogen fühlten sich an, als hätte sie unerwünschten Körperkontakt mit einem fahrenden Cadillac gehabt.
Joel saß auf einem Stuhl neben dem Bett. Er rieb sich das Gesicht und verschränkte die Arme. »Du hast mir eine Heidenangst eingejagt, Mädchen.«
»Sie hat dir Angst eingejagt?« Kenway setzte sich auf die Matratze neben sie, und in seinem Gesicht standen Entsetzen und Sorge. Mit einer Hand umklammerte er etwas so fest, dass sie glaubte, er werde es zerbrechen.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Du hast auf es eingestochen«, sagte Leon, »auf das Monster. Nachdem es weg war, habe ich dich dort rausgeschleppt, und ich glaube, dann hattest du einen Anfall.«
»Einen schweren.« Joel beugte sich vor. »Du bist völlig abgedreht, Schatz, du hast dich übergeben und hast heftig gezittert.« Er ahmte ihren Anfall nach, machte einen steifen Rücken, presste die Arme an die Seiten und verdrehte die Augen nach hinten. Es sah aus wie Frankensteins Monster auf dem elektrischen Stuhl.
Musste ein Grand Mal gewesen sein. Ihr erster. In den letzten Jahren hatte sie mehrfach einen Petit Mal gehabt – ein paar Minuten verlorener Zeit, in denen sie komplett abgemeldet war. Eine Absenz hatte sie sogar auf Video mitgeschnitten. Da konnte man unheimliche zwanzig Minuten lang zuschauen, wie sie ins Leere starrte. Aber eine dieser zitternden, krampfenden, schüttelnden Episoden hatte sie noch nie gehabt.
Natürlich hatte sie auch noch nie die achtfache Dosis Aripiprazol eingeworfen. Aber zumindest wusste sie jetzt, dass der Rote Lord keine Ausgeburt ihrer Fantasie und keine Illusionsmagie von Karen Weaver war.
»Gruselig«, meinte sie.
»Verdammt, Robin …« Kenway beugte sich zu ihr vor.
Eine kräftige Hand tauchte vor ihr auf und hielt das leere Tablettenfläschchen.
»Der Junge sagt, du hast alles auf einmal geschluckt«, sagte er grimmig, hart, tief. »Was hast du dir dabei gedacht, Robin? Was wolltest du damit erreichen?«
»Wenn ich eine Überdosis davon nehme, kann ich Hexenillusionen durchschauen«, erklärte Robin ihm defensiv und knetete die Bettdecke in den Fäusten. »Das ist eine Notfalltaktik. Antipsychotika versus Psychose auslösende Magie. Für mich ist das sinnvoll, und es hat schon mehrmals funktioniert.«
»Unfug«, sagte Kenway. Er stand auf und warf das Fläschchen über die Schulter in den Raum. Es prallte von der Wand ab und rollte unter das Bett. »Weißt du, wenn du das nächste Mal entscheidest, eine Überdosis zu nehmen, sag vorher Bescheid. Dann kann ich mich verkrümeln und muss dich nicht am nächsten Morgen tot auffinden.«
Mit diesen Worten verließ er den Raum.
Robins Gesicht brannte vor Scham. Weder Leon noch Joel sagten etwas, doch die Art, wie sie auf ihre Schuhe starrten, verriet ihr, dass sie großen Mist gebaut hatte.
Ihre GoPro-Kamera mitsamt Gurt lag auf dem Nachttisch. Das Aufnahmelicht brannte nicht. Sie nahm sie hoch und wollte sich danach erkundigen, doch Joel fing schon an zu sprechen. »Keine Sorge, sie hat noch aufgenommen, als wir dich rausgeholt haben. Ist erst vor einer halben Stunde ausgegangen. Ich schätze, es ist alles drauf, was du drauf haben wolltest.«
Erleichterung rang mit Scham und Niederlage.
Ein scharfer Schmerz neben ihrem rechten Ohr ließ sie zusammenzucken. »Dort unten, im Keller. Meine Mutter hat dort ein Ritual durchgeführt, als sie jung war, und damit hat sie dieses Monster beschworen, diesen Dämon. Sie hat ihn mit einem Zauberspruch der deutschen jüdisch-christlichen Hexenkunst oder mit einem Exorzismus-Hokuspokus oder mit irgendetwas Ähnlichem gefangen gesetzt. Ich weiß nicht, wie, ein paar Wörter klangen ein wenig wie Deutsch. Es hörte sich an wie ein Céline-Dion-Cover von ›Du hast‹.«
Leon runzelte die Stirn. »Das war also dieses Looney-Tunes-Haarmonster? Ein Dämon? Klar. Es gibt einen Dämon. In meinem Haus.«
Sie setzte sich auf und lehnte sich ans Kopfteil des Bettes. »Ich habe alles gesehen. In meinem Kopf. Wie ein Brief aus der Vergangenheit. Als hätte ich ein altes Video gesehen, nur das Ganze … lief in meinem Kopf ab, und das Tape war verschmutzt und zerkratzt, aber man konnte noch alles erkennen. Mom hat versucht, die anderen Hexen aufzuhalten, hat die Türen verbarrikadiert, hat sie daran gehindert, ins Haus zu kommen, um sie zu töten. Sie wollte einen Dämon beschwören, doch anstatt ihn hier zu manifestieren, hat sie versehentlich ein anderes Haus erschaffen – keine Ahnung, als hätte sie eine Kopie von diesem angelegt. Eine dunkle Kopie oder eine Art Spiegelung. Oder vielleicht hat auch nicht sie es erschaffen, sondern der Dämon. Aber dort hat sich der Dämon manifestiert, und dort saß er in der Falle. Dort hat sie ihn eingesperrt.«
Im Schlafzimmer herrschte Schweigen, weil allen der Kopf rauchte, als sie diese neue Information verarbeiteten.
Ein halber Becher Kaffee auf dem Nachttisch neben dem Wecker sandte sein kräftiges Aroma in die Luft, und Robin konnte dem nicht widerstehen. Sie rieb sich die Schläfen und warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Becher wie ein Junkie auf Entzug. »Ich brauche einen Becher davon, und zwar so schnell wie möglich.«
Sie beruhigte sich mit dem vertrauten Ritual, zunächst den Kaffeerest auszuspülen und dann eine neue Kanne zu machen, und ging dabei methodisch vor: eine Tüte mit gekühlten Dunkin Donuts aus dem Kühlschrank holen (so halten sie länger frisch), die richtige Menge Kaffeepulver abmessen (drei Kaffeelöffel für einen Kessel Wasser), Wasser in den Wasserbehälter der Mr.-Coffee-Maschine füllen.
Klick. Sie drückte auf den Schalter, stand am Küchentresen und starrte die Maschine an, bis sie zu schnaufen begann. Dampf kroch unter dem Deckel hervor.
»Hey«, sagte Joel und rief damit ein Zucken hervor.
Zuerst bewegten sich ihre Augen, dann ihr Kopf. Sie blinzelte – langsam, böse, wie eine Eidechse, fand sie – und sagte: »Was geht?«, und klang vielleicht ein bisschen entspannter, als sie sich eigentlich fühlte. Vielleicht hatte sie noch ein bisschen Abilify im Kreislauf; sie spürte, wie sich der Boden hart gegen ihre Fußsohlen drückte, und der Raum war kühler, als er es eigentlich sein sollte, es herrschte eine feuchte Morgenkälte, in der man sich klein und dünn und verletzlich fühlte, wie ein gerade geschlüpftes Küken, das zu weit von seinem Nest entfernt ist. Sie war ein nackter Draht, der vor Elektrizität summte.
»Alles gut?« Joel beugte sich vor. Dampf stieg beiden ins Gesicht. »Du bist übel gestürzt, wenn man dem Profi drüben glauben darf. Und dieser Anfall. Habe es echt mit der Angst zu tun bekommen, wirklich.«
Leon – der Profi, dachte Robin. Für einen guten Filmgag war sie immer zu haben. Einer von Heinrichs Lieblingsfilmen. Als sie sich auf die Straße der Rache begeben hatte, stellte sie sich selbst als Natalie Portman und Heinrich als Jean Reno vor – sie war sein Protegé, sein Schatten, sa fille de substitution. »Ja«, sagte sie und sah nicht von der sich langsam füllenden Kaffeekanne auf. »Alles gut. Ich meine, ich habe geschlafen. Zumindest ein bisschen. Ich brauche nur einen Becher Kaffee, und dann kann’s von mir aus losgehen.«
»Du hast eine Überdosis genommen und einen Anfall gehabt. Willst du nicht lieber mal im Krankenhaus vorbeischauen?«
»Nein. Ich habe das schon einmal gemacht.«
»Oh, okay. Und was ist da passiert?«
»Es hat mich nicht umgehauen, aber ich bin eine Stunde lang im Wald rumgerannt und habe den Boden aufgefordert, nicht mehr unter meinen Füßen zu atmen.«
Joel lehnte sich zurück, und offene Missbilligung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
»Pass auf, das meiste, was gestern Nacht passiert ist, war übernatürlich«, erklärte Robin und betonte jedes Wort mit den Händen, als brauchte es Hilfe, um aus ihrem Kopf zu kommen. »Dieser Dämon hat mich fertiger gemacht als die Pillen. Er hat in meinem Kopf ein Fenster in die Vergangenheit geöffnet. Na ja, ich sage geöffnet, aber es war eher so, als hätte er eine Vision an einen Ziegelstein gebunden und mir den durchs Wohnzimmerfenster meines Hirns geworfen. Er zeigte mir gestohlene Erinnerungen von meiner Mom. So was kriegst du nicht umsonst, ja? Du kannst nicht einfach … Erinnerungen in einen Kopf injizieren und erwarten, dass es kein … kein Hirntrauma gibt.«
»Willst du sagen, er hat dir einen Hirnschaden zugefügt?«
Robin leckte sich den Finger und zog einen Haken in die Luft. »Dämonischer Hirnschaden. Wieder ein Punkt auf meiner Liste abgehakt.«
»Oh, gut. Ist da noch etwas, was ich darüber wissen sollte? Verstümmelung? Fenstersturz? Diese Sache, die sie bei Game of Thrones gemacht haben, wo der große Kerl seine Daumen dem kleinen in die Augen drückte, bis der Schädel explodiert? Gibt es dafür ein Fremdwort?«
»Wenn das passiert, brauche ich wenigstens nichts mehr abzuhaken.«
Joel beugte sich dicht zu ihr vor, sah sie gespielt streng an und kniff die Augen zusammen. »Trink einfach deinen Kaffee, Prinzessin.« Kopfschüttelnd ging er davon.
Kenway war auf die hintere Veranda geflohen, um eine Zigarette zu rauchen und in den tiefen Wald zu starren, der Slade umgab und in dem feuchter, düsterer Oktobermorgennebel hing. Dicke Quellwolken zogen darüber hinweg.
In Georgia gibt es keine Forste, dachte Robin. Der Forst ist eine europäische Angelegenheit, gehört zu Dungeons & Dragons, ins Bilderbuch, in dem Ritter durch Täler reiten, wo sich Banditen verkriechen und Feen wandeln. Der Forst ist der Ort, an dem Geschichten beginnen. Nein, hier zwischen den Kiefern der Appalachen, wo Meth-Süchtige sich wegen gestohlener Elektrowerkzeuge gegenseitig abstechen, wo Mutanten mit Banjo dich dazu bringen, wie ein Schwein zu quieken, wo du einen Haufen gelbes Laub beiseiteschiebst und darunter die Gebeine von jemandes Bruder oder Vater findest, da gibt es Wälder, und die Wälder sind der Ort, an dem Geschichten enden.
Mann, dachte Robin und löffelte Zucker in den Becher. Mit einem Aripiprazol-Kater wird man ja krass verkitscht.
Ihr Kopf dröhnte. Übelkeit brannte in ihrem Kiefer, als wäre Gift in ihren Speicheldrüsen, das darauf wartete, jemandes Blut zu vergiften. Sie sah von ihrer Koffein-Alchemie auf und bemerkte, dass Joel am Tisch saß und sie anstarrte. Sie waren allein in der Küche.
»Was denn?«, fragte sie, den Löffel mitten in der Luft.
Er zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück. Nichts, sagte seine Miene. Überhaupt nichts. Trotzdem starrte er sie weiter an.
»Wenn du etwas zu sagen hast, raus damit.«
»Du weißt, er ist stinkwütend auf dich.« Joel verschränkte die Arme. »Wegen dir ist er total am Arsch.«
Robin gab Kaffeeweißer in den Becher und goss Kaffee obendrauf. Sie breitete die Hände aus, als wollte sie sagen: Was soll ich machen? »Früher oder später musste es passieren. Ich wundere mich eher, wie lange es gedauert hat. Normalerweise wollen die Typen mich flachlegen und sich vom Acker machen, und sobald die Sache mit den Medikamenten ans Licht kommt, wird der Teil mit dem Vom-Acker-Machen vorgezogen.« Sie rührte den Kaffee um und lachte kalt.
»Nein«, sagte Joel und hob den Zeigefinger. »Hör mal zu. Du kannst nicht jemanden in dein Leben lassen, dir seine Geheimnisse anhören und dann auf seine Gefühle scheißen. Der Mann da draußen ist ein guter Mann. Er ist eben nicht der Typ, der sich vom Acker macht. Du solltest langsam aufhören, dein eigenes Glück zu sabotieren. Weißt du, ich sehe es in deinen Augen. Du glaubst, du bist gebrochen, du glaubst, du verdienst niemanden, der gut ist, und wenn dir mal was Gutes begegnet, gibst du dir keinerlei Mühe, denn wen interessiert es schon, ja? Es geht ja sowieso alles den Bach runter. Hör einfach auf damit.«
»Danke, Mom.«
Joel schnaubte. »Hey, wenn du meinst.«
Sie blieben in der Küche, Joel am Tisch wie ein Personaler, der ein Vorstellungsgespräch führt, Robin an der Arbeitsfläche lehnend, den Kaffee unter der Nase, Saunadampf um Lippen und Kinn.
»Weißt du, was mit diesem Armeefreund passiert ist?«
»Ja.«
»Wie kannst du ihm das dann antun?«
»Ich habe überhaupt nicht daran gedacht.«
»Nein, hast du nicht.« Joel stand auf und goss sich einen Kaffee ein. Leons Kaffeemaschine war groß und bürotauglich, hatte einen Wasserbehälter für zwölf Tassen. Wahrscheinlich gebraucht abgestaubt aus einem Lehrerzimmer, als die Maschine durch eine neue ersetzt wurde.
»Ich habe es nicht darauf angelegt, weißt du. Du wolltest mich mit ihm verkuppeln.«
»Ich kenne ihn lange genug, um zu beurteilen, dass er genauso verkorkst ist wie du. Ihr habt beide diesen stechenden Blick. Ihr passt zusammen wie Schokolade und …«
(Die Scheiße, der Mist, die Kämpfe, das hat uns verändert. Zu wilden Tieren gemacht.)
»Erdnussbutter.«
»Ich wollte sagen, Sojasoße, aber klar, Erdnussbutter passt auch.«
Ihr Geplänkel wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen.
Joels grimmiges Lächeln verschwand, und er zog den Kopf ein. »Erwartest du Besuch?«, fragte er und schaute zum Fenster über dem Waschbecken.
»Nein.« Robin schaute zum Flur, der zum Eingang führte. Katie Fryhover trat in den Durchgang.
»Die Hexenfrau ist draußen.« Das kleine Mädchen rieb sich verschlafen ein Auge. »Warum trägt sie Lumpen?«, fragte Katie und schaute zu, wie Robin durch den Flur in die Gästetoilette verschwand, ein enges Räumchen mit Klo und Waschbecken. Die Kacheln an den Wänden zeigten ein betörendes Muster aus hornissengelben Sonnenblumen.
»Schauen Sie nach, was sie will, Mr. Parkin«, sagte Robin durch die halboffene Tür und fand es seltsam, einen Kaffeebecher in die Toilette zu tragen. Sie stellte ihn auf den Wäschekorb. »Sagen Sie ihr nicht, dass wir hier sind.«
Joel drängte sich mit hinein. Robin stand in der Ecke hinter dem Waschbecken und schob den Abfalleimer zur Seite. »Wenn sie mich sieht, weiß sie, dass du hier bist«, sagte er, machte den Toilettendeckel zu und setzte sich drauf. Joel wollte die Tür zumachen, als es leise klopfte. Er machte die Tür einen Spalt auf.
»Ich muss aufs Klo«, flüsterte Katie durch die Lücke.
Der Pizzabäcker legte ihr die Hand auf den Kopf, zog sie herein und machte hinter ihr die Tür zu. Robin nahm das kleine Mädchen zwischen die Knie. »Pst«, murmelte sie, sah Katie an und legte den Finger auf die Lippen. »Du musst leise sein, okay? Die Hexe darf nicht wissen, dass wir hier sind, sonst verwandelt sie uns in Käfer.«
»Ich will kein Käfer sein«, murmelte Katie und schüttelte langsam den Kopf.
»Dann sei so still, wie du kannst.«
In perfektem Gleichklang schaltete Joel das Licht aus, während Leon die Tür öffnete.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen vom Empfangskomitee!«, flötete Karen Weaver. »Ich war unterwegs, da dachte ich, ich schaue mal nach, wie es Ihrem Jungen geht.«
»Ach, wie schön, dass Sie vorbeischauen. Ich wollte mich heute sowieso bei Ihnen melden.«
»Ach, ja?«
»Kommen Sie rein, Ma’am … ist ein bisschen feucht draußen. Nicht dass Sie sich noch den Tod holen.«
»Richtig, richtig.« Weavers Schritte trabten erst über den Läufer und dann über den Holzfußboden. Die Haustür fiel mit leisem Klicken ins Schloss, und die beiden gingen ins Wohnzimmer, wo man sie schlechter verstehen konnte.
Im Badezimmer war Robin totenstill, rührte sich nicht und lauschte angestrengt. Sie bemühte sich heftig, nicht zu husten.
»Hallo, Kinder! Ach, habt ihr hier alle geschlafen? Wie wunderbar!«
»Was ist das?«, fragte Leon.
»Oh, das ist ein Icebox-Cake. Ich dachte, dem Jungen würde etwas Süßes gut schmecken, damit er sich erholt.« Papier raschelte. »Sehen Sie durch die Glasschüssel – das Marmormuster? Man bäckt den Kuchen, und dann gießt man Götterspeise drüber und lässt es im Kühlschrank durchziehen, bis die Götterspeise fest wird.«
Ein eigenartiges Hungergefühl kroch Robin durch die Knochen, drang aus der Tiefe in die Mitte des Hauses, als ob das knarrende viktorianische Haus seine Nägel und Mäuse leid sei und sich etwas Frisches wünschte. Da draußen lauerte eine Halbpräsenz, das gleiche unheimliche Gefühl, wie wenn man weiß, dass man zu Hause nicht allein ist, aber noch niemanden gesehen hat.
Eulenkopf, dachte sie. Du kannst die Hexe riechen, was?
Als sie die Augen schloss, hörte sie fast den löwenartigen Atem. Und Eulenkopf gierte nicht nach dem Kuchen.
»Ach, das ist aber nett von Ihnen. Klingt wirklich lecker. Vielleicht nach dem Frühstück.«
»Ja, ja, natürlich nach dem Frühstück. Ich verstaue ihn in Ihrem Kühlschrank.«
Man hörte Weavers Schritte im Flur, als sie am Bad vorbei zur Küche ging. Robin hatte das T-Shirt des kleinen Mädchens umklammert, bemerkte dies und ließ los. Weaver ging weiter, bog in die Küche ein und blieb stehen.
Die Frau schnupperte. »Nach was riecht es hier?«
»Ich habe Weihrauch angezündet«, sagte Leon. »Teures Zeug aus dem Kifferladen unten beim Schuhgeschäft. Weih-Rauch zur Ein-Weih-ung, sozusagen.«
»Gute Idee, gute Idee. Ich brenne selbst oft Weihrauch ab.« Sie öffnete den Kühlschrank und pfiff. »Mannomann. Da sieht man aber, dass Sie Junggeselle sind. Himmel. Nur Fertiggerichte, Reste und Soßen! Kalte Pizza, nein! Na, ich muss mich wohl ein bisschen um Sie kümmern.« Die schwere Glasform klapperte auf dem Metallboden des Kühlschranks, der daraufhin geschlossen wurde.
»Eigentlich wollte ich darüber mit Ihnen reden«, sagte Leon direkt auf der anderen Seite der Badezimmertür.
»Oh, wir haben alle Zeit der Welt für ein kleines Schwätzchen.« Weaver kam wieder in den Flur und blieb stehen. Ihre fröhliche Präsenz war durch die Tür fast zu spüren, wie ein Winterwind durch ein herbstliches Fenster. Auf ein schwaches Knarren folgte ein warmer Luftstrom aus dem Türspalt neben Robins Zehen. »Das alte Haus ist sehr zugig, nicht?«, fragte Weaver. »Kommen Sie, wärmen wir es ein bisschen auf. Der Junge soll sich ja zusätzlich zu dem Schlangenbiss nicht auch noch erkälten.«
Die Hexe ging ins Wohnzimmer, klatschte einmal und rieb sich die trockenen alten Hände. Vor ihrem inneren Auge sah Robin eine Stubenfliege, die ihre Vorderfüße aneinanderreibt. Sie schauderte.
»Wie fühlst du dich denn, mein Lieber? Wie geht es deinem Bein?«
Wayne murmelte etwas Unverständliches.
»Sehr gut, sehr gut. Der Wickel hat dann wohl gewirkt, hm? Hat das Gift herausgezogen wie … wie Schmutz aus einem Teppich! Es ist das Salz, weißt du, das ist der Trick. Du vermischt es mit ein paar geheimen Zutaten, und es zieht das Gift direkt aus dem Biss.«
(b e i ß e n, i c h w i l l d i c h b e i ß e n)
Ein Bärenhunger flutete in Robins Brust und wanderte in den Bauch. Einen schrecklichen Moment lang fürchtete sie, ihr Magen würde knurren. Eulenkopf wollte die alte Frau, und zwar unbedingt. Sie spürte es. Doch solange sich Weaver nicht durch Anwendung ihrer Magie zu erkennen gab, konnte der Dämon sie nicht finden.
»Die Leute reden oft schlecht über unsere Hausmittel und die Methoden alter Frauen«, sagte Weaver, »doch wenn sie helfen – und sie helfen fast immer – , oh, dann fällt den Leuten nichts mehr ein, und sie halten den Mund.«
Leon sah die Gelegenheit, hier einzuhaken. »Mrs. Weaver …«
»Ach, nennen Sie mich doch Karen.«
»Karen also … ich wollte nur …«
»Oder nennen Sie mich Großmutter. Oder Oma, Omi, Mee-Maw. Ich komme angelaufen, egal wie Sie mich rufen.«
»›Mee-Maw?‹ Ich wollte Ihnen danken dafür, was Sie im Krankenhaus getan haben. Für … weil Sie Waynes Krankenhausrechnung bezahlt haben. Ich … ich weiß nicht mal, wie ich meinen Dank richtig zum Ausdruck bringen soll. Sie haben keine Ahnung, aus was für einer Patsche Sie mich da geholt haben. Ich meine, knapp dreißigtausend Dollar? Für mich als Highschool-Lehrer ist das fast ein Jahresgehalt.«
Die Hexe kicherte. »Ach, das ist doch nicht der Rede wert. Wenn man mit zwei anderen alten Zicken irgendwo im Nirgendwo wohnt, gibt man nicht viel Geld aus und spart eine Menge. Hühnerställe sind billig, und in dieser Hinsicht sind wir alle Hennen.«
»Verstehe.« Leon lachte höflich. »Jedenfalls kann ich Ihnen nicht viel zurückzahlen, jedenfalls im Augenblick nicht. Aber, äh, ich wollte Sie wenigstens zum Abendessen einladen. Hier bei uns. Das ist das Mindeste, was ich der Frau anbieten kann, die meinem Sohn das Leben gerettet und mir eine Menge Kummer erspart hatte.«
»Wie nett von Ihnen. Das wäre sehr schön. Aber Ihre Küche ist ja so klein … und nicht gerade gut ausgerüstet, nicht? Nun, unsere Küche ist dagegen komplett. Wir könnten bei uns einen Büffel braten, mitsamt Hufen und Hörnern, und ihn anrichten wie Wolfgang Puck. Außerdem hatten wir bei uns oben schon lange keinen Besuch mehr. Ja, Sir?«
Es entspann sich ein Schweigen, das einige Sekunden anhielt, ehe Weaver weitersprach.
»Ich schlage Ihnen was vor, Mr. Parkin. Sie stellen zusammen, was Sie gern essen möchten – Steaks, Hähnchen, Lamm, was auch immer. Sie bringen es zu uns rüber. Und wir braten es und machen noch etwas Gemüse, gebackene Knollen und Brötchen dazu, hm?«
»Ja, okay. Klingt wirklich prima.«
Die Unsicherheit in Leons Stimme strafte seine Worte Lügen, und Weaver hätte eine Idiotin sein müssen, um das nicht zu bemerken.
»Sie wirken zögerlich, mein Lieber. Was ist denn los?«
»Es ist mir wirklich sehr unangenehm.«
»Sind es die Geschichten? Die Märchen darüber, dass wir ein Haufen Hexen sind? ›Blubbert, plagt euch, mengt und mischt! Kessel brodelt, Feuer zischt.‹ Wahrscheinlich haben die Leute dort drüben aus dem Wohnwagenpark Ihnen diese Märchen erzählt.« Weaver lachte sorglos. »Riskieren Sie doch mal einen Blick in mein Gesicht. Welche Farbe hat meine Haut? Grün … Nein? Und wo ist die Warze auf meiner Nase? Mein Hexenhut und meine Schnallenschuhe? Mein Besen und meine schwarze Katze?«
Wieder herrschte einen Augenblick lang Schweigen, ehe Leon leise lachte und sagte: »Okay, klar. Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Manchmal lasse ich mir schon etwas einreden. Ich bin nicht gerade leichtgläubig, aber ein bisschen …«
»Vertrauensselig?«
»Ja. Ja, so könnte man es ausdrücken.«
Pete warf ein: »Was ist eigentlich eine Knolle?«
»Eine Kartoffel, kleiner Mann«, sagte Weaver. »Ein altmodisches Wort für Kartoffel von einer altmodischen Frau.«
Niemand lachte. Weaver fuhr unbeeindruckt fort. »Vertrauen ist eine gute Sache, Mr. Parkin. Eine sehr gute Sache. Ich glaube, unsere Welt könnte davon mehr gebrauchen. Wo wären wir denn ohne Vertrauen? Heutzutage gehen die Kinder kaum noch raus, um zu spielen, nicht? Sie sitzen in ihren Zimmern mit Internet und Videospielen, weil die Welt draußen ihnen so viel Angst macht. Wir vertrauen Fremden nicht mehr. Wir vertrauen Halloween-Süßigkeiten nicht mehr, jedenfalls was Pete angeht, und als angebliche Hexe kann ich Ihnen sagen, dass es eine Schande ist, die zum Himmel schreit.«
Robin musste unwillkürlich an ihre Mutter denken, die Weavers Mann vor zwei Jahrzehnten im Keller am Boden gefesselt hatte. Edgar, der in seinem Vergnügungspark hatte Kinder verschwinden lassen. Ohne Zweifel war Weaver seine Komplizin gewesen. Scheinheilige Hexe, dachte sie und drückte Katies Schultern. Das Mädchen wand sich. Robin legte ihr die Hand über den Mund, ehe sie sich beschweren konnte. Tut mir leid, tut mir leid, nur heul nicht! Wir sind voll im Arsch, wenn die uns hier findet!
»Jedenfalls werde ich jetzt mal zur Ranch zurückgehen«, sagte Weaver. »Ich arbeite seit einem Monat an einem Kleid, und so langsam muss es mal fertig werden. Die jungen Frauen heutzutage haben ja keine Geduld mehr für gute Handwerksarbeit.«
»Ein Kleid?«
»Oh, ja. Ich entwerfe und nähe Brautkleider und verkaufe sie über das Internet. In Heimarbeit, ich mache alles selbst. Können Sie sich das vorstellen? Ich mokiere mich übers Internet wie über ein Spielzeug für faule Leute, dabei ist es für eine alte Lady wie mich ein Geschenk des Himmels. Na, ich kann aus meiner Küche sogar die Chinesische Mauer besuchen.«
Die beiden gingen zur Haustür, Leon in seinem langsamen Cowboygang, Weaver in einem Rascheln von Stoff und einem Absatz-Trommelsolo.
»Wie hört sich Steak an?«, fragte Leon und öffnete die Tür.
»Ungefähr so: Muh.«
Die Kinder im Wohnzimmer lachten.
»Steak klingt sehr gut, Mr. Parkin«, sagte Weaver.
»Sagen Sie doch Leon, bitte.«
»Ach, ein Löwe! Das gefällt mir. Sie scheinen mir ein Mann zu sein, der über das mutige Herz einen Löwen verfügt, Leon. Der Junge hat Glück, so einen Vater zu haben. Ich glaube, er kommt nach Ihnen.«
»Danke.«
»Sieben Uhr? Sechs? Ich will nicht, dass das Löwenjunge zu lange aufbleibt. Er muss ja morgen zur Schule.«
»Sechs wäre schön. Bis dann.«
»Abgemacht.« Weavers Stimme wurde ein wenig klarer und lauter. Sie musste sich ins Haus gelehnt haben und rief: »Allen einen schönen Tag! Esst den Kuchen! Wenn ihr möchtet, gibt es noch mehr!«
Verlegenes Schweigen folgte, weil die Kinder nicht wussten, was sie antworten sollten.
»Danke, Miss Weaver«, rief Amanda.
Pete und Wayne sprachen ihr nach. »Danke, Miss Weaver.«
Inzwischen spürte Robin den Laser der Hexe, der durch die Wand fuhr wie die Augen von Superman. Sie weiß, dass wir hier sind. Sie weiß es, verdammt. Obwohl sie in Chevalier Village geparkt hatten, damit der Sanitär-Wagen nicht vor Leons Einfahrt stand.
»Gern geschehen«, grinste Weaver. »Au revoir.«
Die Haustür schloss sich. Das ganze Haus schien einen Moment lang den Atem anzuhalten, weil alle an Ort und Stelle verharrten und lauschten. Fast so, als würden sie auf etwas warten.
»Das ist echt eine unheimliche alte Schachtel«, meinte Pete. »Warum hat sie schwarzes Zahnfleisch?«
Katie machte sich bemerkbar. »Ich muss Pipi.«
»Gut, gut.« Joel öffnete die Tür einen Spalt weit. Waynes Vater stand an der Haustür und spähte durch das kleine Fenster daneben. »Ist sie weg?«
Leon antwortete über die Schulter. »Ja. Sie ist weg.«
»Richtig weg?«, fragte Joel. »Vom Grundstück?«
»Ja, sie geht gerade über die Straße.« Leon sah sie vielsagend an, als sie aus ihrem Versteck kamen. »Mann, für einen Trupp Hexenjäger haben Sie sich aber ziemlich außer Sicht gehalten.«
Robin kam als zweite aus dem Badezimmer und schloss die Tür, damit Katie allein war. »Erinnern Sie sich an das grünäugige Ding in dem Düsterhaus?« Sie sagte »Düsterhaus« wie »Hochhaus« oder »Parkhaus«, so als hätte sie einen neuen Begriff für das andere Haus gefunden. »Dieses Wesen ist vielleicht das Einzige, das diese Hexen töten kann. So mächtig sind die. Sie würden uns zerfetzen wie nasses Toilettenpapier.«
»Warum glauben Sie dann, dass Sie mit ihnen fertig werden können?«, fragte Leon und ging in die Küche.
Das Wasser lief, während er die Kaffeebecher im Becken ausspülte und aus dem Fenster über der Spüle schaute. Robin stemmte die Fäuste in die Hüften und starrte finster den Teppich im Flur an, als könnte sie die Lösung in den roten und blauen Schnörkeln finden. »Ich dachte, mit dem Osdathregar hätte ich vielleicht eine Chance.«
»Hey, wisst ihr was?«, sagte Kenway und kam durch die Gartentür herein. Er blies den letzten Rauch seiner Zigarette aus und nahm die Wolke mit ins Haus. In der unbehaglichen Stille nach dem Abgang der Hexe klangen seine Boots wie Hammerschläge auf den Kacheln.
»Nein. Was denn?«
»Du hast Besuch.«
Ein großer, schlaksiger Mann schlenderte in die Küche, schob die Hand in die Manteltasche und zog ein Klapphandy heraus. Mit dem Stetson auf dem kahlen braunen Kopf und dem schwarzen Übermantel sah er aus, als wollte er einen Gesetzlosen durch Tombstone jagen. Die Augen des Hexenjägers waren hinter einer silbernen Aviator-Sonnenbrille verborgen, während er den Bildschirm seines Handys präsentierte.
»Ich bin endlich in meine Mailbox gekommen.« Heinrich nahm den Zigarillo aus dem Mund und blies eine Wolke Rauch aus, der nach Kokosnuss roch. »Robin Hood, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst mich nicht anrufen und mich beim Kung-Fu unterbrechen?«