3

Unter viel Schnaufen und Fluchen schleppten die drei das Sofa aus dem Transporter, die Treppe hinauf und ins Wohnzimmer. Um es aus der Eingangshalle durch die Tür zu bekommen, mussten sie es auf die Seite drehen und es schräg hindurchschieben. Wayne quetschte sich einen Finger, und Leon wurde an die Wand gedrückt, doch am Ende hatten sie es geschafft.

Nachdem sie das Sofa im Zimmer hatten, schraubten sie die Füße wieder an und schoben es an die hintere Wand. Die Jungen ließen sich drauffallen und ruhten sich aus. »Und was treibt ihr hier draußen?«, fragte Pete und schaute Wayne zu, wie er sich die Brille mit seinem T-Shirt putzte. »Ich glaube, ich kenne sonst niemanden, der sich schick anzieht, wenn er zur Arbeit geht.«

Leon hatte seine Jacke ausgezogen und seine Krawatte gelockert. »Ich habe eine Stellung als Lehrer an der Blackfield Highschool angenommen.«

»Ach?«

»Ich werde Literatur unterrichten.«

»Cool. Vielleicht komme ich ja mal in Ihre Klasse. Ich lese gern.«

»Vielleicht. Das ist gut. Mehr Kids in deinem Alter sollten lesen. Hast du schon was gegessen?« Leon nahm seine Krawatte ganz ab. »Ich habe Eiscreme gekauft, für nach der Arbeit.«

»Nein«, meinte Pete, »aber ich esse abends meistens nichts.«

Wayne legte den Kopf schief. »Warum nicht?«

»Na ja … ich habe einfach keinen Hunger. Meine Mom sagt, ich esse wie ein Spatz.«

Das konnte er sich kaum vorstellen. »Spatzen fressen jeden Tag so viel wie sie wiegen. Das habe ich jedenfalls gehört.« Petes Hoodie wölbte sich deutlich am Bauch, und er hatte ein Doppelkinn. Der Junge mit den hängenden Schultern war einige Zentimeter größer als der kleine, schlaksige Wayne und um etliche Kilogramm schwerer.

Das Eis bildete sich von neuem.

Wayne brach es. »Magst du Call of Duty

Pete rieb sich die Stirn. »Weiß nicht. Hängt davon ab, welches du meinst. Ich habe eigentlich nur das erste für die Xbox. Von den neuen habe ich noch keins gespielt.«

»Sieht so aus, als hättet ihr ein Programm für den Abend«, meinte Leon und stand auf. »Pete, weiß deine Mom, dass du hier drüben bist?«

»Oh, ja. Ja, ja, ist alles okay.«

Leon wickelte seine Krawatte auf wie eine riesige Zunge und blickte Pete lehrerhaft von oben herab an. »Das klingt verdächtig nach einem Nein.«

»Sie weiß, dass ich hier bin. Eigentlich ist es ihr egal, wann ich nach Hause komme, solange sie weiß, wo ich bin und dass ich mich aus Ärger raushalte.« Pete klang unverbindlich, locker. Wayne hatte das Gefühl, er war daran gewöhnt, selbstständig zu entscheiden. »Und ich bin ja nicht wie mein Dad. Ich halte mich aus Ärger raus.« Plötzlich fuhr er hoch und hob die Hände, als wollte er einen Schlag abwehren. »Aber ich kann natürlich gehen, wenn ich …«

»Oh, nein, nein, nein, alles gut, Mann.« Leon nahm sein Jackett, klopfte den Staub ab und legte es sich über den Arm wie ein Sommelier sein weißes Tuch. »Du siehst aus wie ein guter Junge. Und Wayne braucht Freunde. Schließlich ist er der Neue.«

Pete grinste, aber Wayne verdrehte nur die Augen.

»Also, ja, Gott. Bleib gern noch hier, dieses Geisterhaus kann ein bisschen Aufmunterung gebrauchen. Wayne und ich ebenfalls. Wir sind aus Chicago und nicht an diese Stille gewöhnt.«

»Okay«, sagte Pete, offensichtlich dankbar.

Leon sah Wayne an. »Geh doch rauf, pack deine Anziehsachen aus und mach schon mal dein Bett. Wenn du damit fertig bist, kannst du so lange spielen, wie du möchtest. Sobald die Schule wieder losgeht und du Hausarbeiten erledigen musst, hast du sowieso kaum noch Freizeit.«

Wayne maulte: »Muss ich echt?«

»Wie willst du oben schlafen, wenn dein Bett nicht gemacht ist? Das ist das Mindeste. Um alles andere können wir uns kümmern, nachdem das erledigt ist.«

Die beiden Jungen standen auf und stiegen die Treppe rauf, die knarrte und ächzte. Es klang, als würden zwei Rotröcke aus der Kolonialzeit über Noppenfolie stampfen. »Ich kann ja den Fernseher und die Playstation schon anschließen, während du das Bett machst, wenn du willst«, bot Pete an.

»Okay, abgemacht.«

Wayne führte seinen neuen Freund weiter zur steilen Stiege hinter der Wandschranktür. Pete wirkte beeindruckt, ja, sogar verwirrt. »Augenblick, dein Dad hat dir den Turm überlassen?«

»Ja, das war das einzige Zimmer, das noch frei war. Wenn man es als Zimmer bezeichnen kann.« Sie stiegen die Treppe hoch, die fast einer Leiter nahekam. »Warum? Stimmt was damit nicht?«

»Nee, Mann, nichts. Ist nur echt irre. Ich bin bloß überrascht.«

Mit der Kommode und dem Bett darin war die Kuppel längst nicht mehr so geräumig. Wayne und Pete konnten gerade so zwischen Bett und Fernseher – einem bescheidenen Flachbildschirm auf einer der Fensterbänke – auf dem Boden sitzen. In der Kuppel gab es keine Steckdosen, daher hatte sein Vater ein Verlängerungskabel gekauft, als sie das Abendbrot geholt hatten, und es im Flur unten im ersten Stock angeschlossen. Im Augenblick baumelte das Kabel neben der Treppe, doch irgendwann würden sie es mit Nägeln befestigen.

Dort war auch eine Lampe angeschlossen. Wayne schaltete sie an.

Damit seine Poster nicht im Weg herumlagen, hatte er sie bereits an die schmalen Wandstücke zwischen den Fenstern der Kuppel geklebt.

Eins davon war ein Filmplakat von Freitag der 13. mit einer Aufnahme von Jason Voorhees in Hockeymaske, der mit einer Machete auf den Betrachter zugeht. Ein anderes zeigte den Cast der TV-Serie The Walking Dead, wobei die Figur Rick auf einem Schulbus stand und mit seinem riesigen Revolver auf ein Ziel anlegte. Das Originalplakat von Romeros Nacht der lebenden Toten in Schwarzweiß. Das beliebte Zombie-Spiel Left 4 Dead 2.

Die Matratze war nicht bezogen, und vier Kartons standen darauf. Wayne machte einen auf und fand Kleidung darin. Im nächsten waren die Videospiele: eine Playstation 3, ein Wirrwarr an Kabeln und eine Handvoll CD-Hüllen. »Na, also.«

Pete ging mit dem Karton zum Fernseher und begann, die Strom- und Verbindungskabel zu entwirren. Wayne öffnete einen weiteren Karton und entdeckte seine Bettwäsche.

Er hockte auf Händen und Knien und versuchte gerade, das Laken über die Ecke der Matratze zu ziehen, als ihm etwas einfiel. »Sag mal«, fragte er über die Schulter. Pete sah auf. »Äh. Weißt du eigentlich, ob dieses Haus … ob es in diesem Haus spukt?«

Pete starrte Wayne an, als hätte der nichts gesagt. Im geheimnisvollen Bernsteinschein der Lampe wirkten seine Augen leer, doch langsam hob er die Hand und rieb sich die Wange, als habe er Zahnschmerzen. Die Geste hatte etwas Tröstendes, als würde er sein Gesicht streicheln.

Bis zu einer Antwort brauchte er sieben Sekunden. »Keine Ahnung. Bin noch nie hier drin gewesen. Aber manche Leute behaupten es.«

»Warum?«

»Tja.« Pete stand auf, drehte den Fernseher herum und betrachtete die Anschlüsse auf der Rückseite. »Willst du das wirklich wissen?«

Waynes Neugier loderte in ihm auf und sehnte sich nach Geheimnissen. »Machst du Scherze? Natürlich will ich es wissen.« Er drehte sich um und setzte sich auf die Bettkante, das Laken war vergessen. »Lass mich raten – unter dem Haus liegt ein indianischer Friedhof? ›Man hat die Leichen nicht umgebettet! Man hat die Leichen nie verlegt!‹«

»Nein, es …«

»Hier hat ein Serienkiller gewohnt?« Je länger er redete, desto aufgeregter wurde er. Vor Anspannung ballte er die Hände zu Fäusten. »Und der hat seine Opfer im Keller vergraben?« Dabei fragte er sich, ob das Haus überhaupt einen Keller hatte, und wie der wohl aussah. Er nahm sich vor, der Sache am Morgen auf den Grund zu gehen.

»Nein, Alter, in diesem Haus ist jemand gestorben.«

»Mehr nicht? Mann, puh … überall sterben Leute in Häusern. In der Wohnung neben unserer in Chicago ist auch jemand gestorben. Wenn es überall spuken würde, wo jemand stirbt, könnte niemand mehr ein Krankenhaus betreten bei den vielen Geistern.«

Pete grinste unheimlich. »Warum glaubst du, haben die Leute so viel Angst vor Krankenhäusern?«

Wayne sah ihn ausdruckslos an und beschäftigte sich wieder mit dem Laken.

»Egal, in diesem Fall soll es eine Hexe gewesen sein.«

»Eine Hexe.« Wayne war fassungslos. »Du verarschst mich.«

Die beiden Jungen blickten die Treppe nach unten und lauschten, ob sie Mr. Parkin hören konnten, dann fuhr Pete fort: »Keine Verarsche.« Er setzte sich auf einen der dünn gepolsterten Sitze der Fensterbank. »Die Bullen und die Zeitung haben damals gesagt, es war ein Unfall, aber ich habe gehört, sie wurde von ihrem Mann die Treppe runtergestoßen.«

»Eine Hexe, die verheiratet ist?«

Pete zuckte mit den Schultern.

Wayne verzog das Gesicht. »Ich wusste nicht mal, dass Hexen heiraten. Egal, vielleicht war es ein Unfall. Vielleicht wollte er sie nicht stoßen. Ich kann nicht fassen, dass Dad mir nichts davon erzählt hat.«

»Keine Ahnung«, meinte Pete und entknotete weiter die Kabel. »Meine Mom sagt, er habe sie und die Tochter immer verprügelt.«

»Und was ist mit dem Mann passiert?«

»Er ist ein paar Monate später im Gefängnis gestorben.«

»Woran?«

»Weiß niemand. Ich habe gehört, es war wahrscheinlich Tubel … Tubbelko …«

»Tuberkulose?«, half Wayne aus.

»Genau. Aber sie haben eigentlich nichts finden können. Was ist das?« Pete zog verwickelte Kabel aus dem Karton in die Höhe und schaute darunter. Er legte die Kabel auf den Boden, griff in den Karton und holte eine Nike-Schuhschachtel heraus. Wayne ließ das Laken los, nahm ihm die Schuhschachtel ab und stellte sie aufs Bett.

»Ach, äh … nur so alter Kram.«

In der Schachtel befanden sich ein Stapel Fotos, ein Fläschchen Parfüm und ein goldener Ring, durch den eine schlichte Kugelkette gezogen war. Die Art Kette, an der sonst Hundemarken befestigt sind. Wayne nahm den Ring heraus, hängte sich die Kette um und ließ den Ehering auf seiner Brust ruhen.

»Hübscher Ring, Frodo.«

Wayne sah auf. »Der hat meiner Mom gehört.« Er nahm die Fotos und blätterte sie vorsichtig durch.

Die Fotos zeigten verschiedene Ereignisse und Orte – einmal feierte Wayne, noch sehr jung, Geburtstag in einer dunklen Küche, völlig überbelichtet vom Blitz, das Gesicht allerdings unterbelichtet nur vom fiebrigen Schein der Kerzen auf dem Geburtstagskuchen; auf einem anderen war er älter, mit seinem Vater und einer hübschen, asiatisch aussehenden kleinen Frau. Sie war auf allen Fotos zu sehen, lächelte immer und berührte, umarmte oder drückte ihren Sohn.

Pete machte sich wieder am Kabelsalat zu schaffen. »Was ist denn passiert, wenn ich fragen darf?«

»Sie ist vor ein paar Jahren gestorben. In Chicago. Krebs. Kehlkopfkrebs, glaube ich. Oder Lungenkrebs? Aber eigentlich war es gar nicht der Krebs. Dad hat irgendwas von ›Komplikationen‹ gesagt. Ich habe keine Ahnung, was das heißt. Irgendeine Infektion.« Wayne hob den Ring wie ein Monokel vor das Auge und linste hindurch. Es klickte, als er damit an sein rechtes Brillenglas stieß. »Vor zwei Monaten konnte Dad nicht mehr. ›Verdammte Scheiße, ich ertrage das nicht mehr, zu viele Erinnerungen, ich brauch einen Tapetenwechsel.‹ Also hat er sich hier eine Stelle gesucht, und wir haben zusammengepackt.«

»Kacke, Alter, tut mir voll leid.«

Das Auge im Ring richtete sich auf Pete. Plötzlich wirkte es eine Dekade älter. »Wenn ich sie vermisse, sehe ich durch diesen Ring wie durch das Guckloch in einer Tür. Ich rede mir ein, wenn ich da durchschaue, blicke ich in eine andere … äh …«

»Zeit? Welt? Dimension?«

Eine merkwürdige Tür, zwölf Fuß hoch, an der Speisesaalwand?

»Eine andere Welt, ja.« Wayne pustete auf den Ring und polierte einen Fleck mit seinem T-Shirt weg. Die Emotionen trafen ihn wie ein Stich in den Nacken. »Dann fühle ich mich, als könnte ich in eine andere Welt sehen, in der sie noch lebt. Weißt du, wie bei Alice im Wunderland, hinter den Spiegeln.«

Pete wollte etwas sagen, er machte jedenfalls den Eindruck, aber er biss sich auf die Zunge, ehe es herauskam. Wayne konnte sich vorstellen, was er hätte sagen wollen. Er hatte es selbst schon hundert Mal gedacht. Und wenn du eines Tages durch das Ding guckst, und sie ist tatsächlich da?, dachte er und betrachtete die winzige Reflektion im Gold. Was dann, Schlauberger?

Leuchtendes Rot bewegte sich über die Rundung des Rings in seinen Fingern.

Dreihundertundsechs.

Wayne sah über die Schulter und erwartete, seinen Vater zu sehen, doch niemand stand hinter ihm.

»Was hast du denn?«, fragte Pete.

»Hm?« Wayne blinzelte, reckte den Hals und spähte die Treppe hinunter. »Ich dachte – ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«

Zwischen den beiden herrschte kurz angespanntes Schweigen, dann verzog Pete das Gesicht. »Lass es einfach lieber, Mann«, sagte er und machte sich wieder daran, die Kartons zu durchsuchen, vorsichtig diesmal, als hätte er Angst, sich in der staubigen Einsamkeit zu schnell zu bewegen, und immer wieder warf er dem anderen Jungen unschlüssige Blicke zu.