4
Robin erwachte zu Vogelgezwitscher, das in ihren winzigen Kuppelschlafraum drang. Eine Junibrise wehte durch die offenen Fenster herein. Draußen ließen grüne Bäume die Unterseiten ihrer Blätter aufblitzen, als würden sie mit Dollarscheinen wedeln.
Ein zerknülltes blaues Geschöpf lag am Fußende des Betts. Das kleine Mädchen zog das Stofftier heran. »Hey, Mr. Nosy«, kreischte es, »es ist der erste Tag der Sommerferien!«
Mr. Nosy war ein Filzmoskito in der Machart eines Muppets, und er hatte große weiße Pingpongball-Augen. Hinten im offenen Maul befand sich eine Box, die wie ein Kazoo heulte, wenn man einen der Füße drückte. In ihren winzigen Händen erwachte er zum Leben. Vorsichtig setzte sie ihn auf die Überdecke, rekelte sich aus ihrem Nachthemd und zog sich ein Sommerkleid und Sandalen an. Sie umklammerte den Moskito, stampfte die Wendeltreppe nach unten und öffnete die Tür.
Der Geruch von Speck und Keksen empfing sie und wallte in einer warmen Welle über sie hinweg. Robin tänzelte den Flur im ersten Stock entlang, die Treppe zur Eingangshalle hinunter und lief in die Küche. Ihre Mutter saß am Küchentisch, las Zeitung und nippte an ihrem Kaffee. Robin drapierte ihren Stoffmoskito auf dem Küchentresen vor dem Brotkasten und hüpfte auf ihren Stuhl.
Sie starrte auf die Rückseite der Zeitung und versuchte erneut, sie zu lesen, doch wie immer in diesen Träumen war es nur ein Raster aus schwarzen Schnörkeln.
»Guun Moren«, sagte ihre Mutter.
»Guten Morgen, Mama.«
Annabelle Martine – für Robin Mama, für alle anderen Annie – sprach, als hätte sie den Mund voller Wasser. Sie hatte einen Sprachfehler und war deshalb nicht leicht zu verstehen, aber Robin hatte sich längst daran gewöhnt und verstand sie so gut wie jeden anderen.
Lächelnd löffelte sie Speck und Eier auf den Teller ihrer Tochter. »Gut geschlafen?«
»Yep.«
»Am Ende des Monats hast du Geburtstag.« Annie schnitt ein Brötchen auf und beschmierte es mit Traubenmarmelade. »Weißt du schon, was du dir wünschst?«
»Nein. Vielleicht ein Buch?«, fragte Robin. »Ich mag Bücher.«
»Bücher sind sehr gut. Sogar besser als Spielzeug und Computerspiele, finde ich. Auf jeden Fall wesentlich besser als Videospiele.«
»Ich möchte ein Harry-Potter-Buch.«
Annie verzog spöttisch das Gesicht. »Harry Potter? Weshalb willst du denn etwas über Harry Potter lesen?«
»Harry Potter kann Magie.« Robin verdrehte die Augen. »Ich möchte etwas über Magie lesen. Und über Schwerter und Könige und Drachen und Zauberer.« Sie fuchtelte mit der Gabel herum wie mit einem Zauberstab und berührte dabei ihre Eier, ihren Orangensaft, den Tisch. »Ich liebe Zauberer. Am liebsten würde ich auch Magie können.«
Annie lächelte verbittert, wie immer, wenn ihre Tochter über Magie sprach, als würde das Wort eine uralte Kränkung wiederaufleben lassen. »Nein, würdest du bestimmt nicht, Schatz.«
Tick. Tick. Tick. Die Uhr an der Küchenwand fraß die Morgenzeit. Der kleine Zeiger und der große Zeiger rannten über das Zifferblatt um die Wette; die Realität befand sich im Schnellvorlauf. Die Ziffern waren unlesbare Zeichen.
Annie hatte ihren Kaffee getrunken, als sie wieder sprach und das Dröhnen eines Rasenmähers übertönen musste. »Beeil dich und iss fertig, dann gehen wir in die Stadt zur Buchhandlung. Dort kannst du dir etwas aussuchen.«
Nach dem Frühstück gingen sie zur Hintertür hinaus und stiegen die kleine Holztreppe hinunter. Der Garten war riesig, beherrscht von einer verkümmerten Eiche und einer einsamen grauen Hütte, um die herum Unkraut spross. Eine Schaukel drehte sich baumelnd im Wind. In der Ferne an der Baumlinie rumpelte Robins Vater Jason Martine auf seinem benzinstinkenden, dröhnenden Briggs-and-Stratton-Rasenmäher vor sich hin.
»Wir sagen Jason, dass wir in die Stadt gehen«, meinte Annie und ging über den Rasen. »Wir wollen ja nicht, dass er reinkommt, und wir haben ihm nicht gesagt, dass wir ausgegangen sind.«
Du weißt ja, wie er dann wird.
Der Garten war so groß. Warum war er so groß? Er wurde immer größer, je weiter sie gingen. Die Sonne prallte hart und brüllend heiß vom trockenen, stacheligen Boden zurück, und das Gras wurde immer höher und dicker, bis sie durch ein Dickicht aus Fingerhirse, Klee und Glöckchenlauch wateten.
»Warte mal, Mama«, sagte Robin, blieb stehen und suchte den Boden ab. »Ich möchte ein vierblättriges Kleeblatt finden.«
Annie hielt an, kniete sich hin und fuhr mit der Hand über das Gras wie ein Schatzsucher am Strand mit seinem Metalldetektor. Ohne jede Anstrengung pflückte sie ein vierblättriges Glücksblatt und hielt es ihrer Tochter hin, damit sie die Blätter zählen konnte. Robin war jedes Mal verblüfft, dass ihre Mutter nie Schwierigkeiten hatte, eins zu finden, während sie selbst stundenlang gebückt wie eine alte Frau durch den Garten wandern konnte, ohne eins zu entdecken. »Du hast wirklich Glück. Aber nicht so viel Glück wie ich.« Sie steckte den Stängel des Kleeblatts hinter Robins Ohr wie die Hibiskusblüte eines Hulamädchens. »Du hast nicht so viel Glück wie ich, weil ich dich habe.« Annie grinste. Anstelle des gewohnten Eierschalenweiß waren ihre Zähne aus Holz, braun und dunkel. »Ich bin die glücklichste Mommy der Welt, weißt du?«
Robin starrte ihre Mutter erschrocken an. »Warum sind deine Zähne aus Holz, Mama?«
»Was?« Annie warf den Kopf zurück und lachte. »Du bist ein Dummerchen. Ein richtiges Dummerchen.«
Ihre Füße pflügten über den unendlichen Rasen und rissen mit rhythmischem Schwung Mulch los. Robin blinzelte in die Hitze. Weiter hinten sah sie ihren Vater auf seinem rot-schwarz-grünen fahrbaren Rasenmäher.
Sie blinzelte, und ihr Vater war mitsamt Rasenmäher verschwunden. Jetzt hockte dort etwas anderes im hohen Gras, eine riesige Gestalt, die sie noch nie im Sonnenlicht gesehen hatte. Und jetzt beleuchteten die Sonnenstrahlen dieses Wesen so hell, dass sie gleichzeitig Angst und eine Art Schwindel wegen der grotesken Proportionen empfand.
Sie wollte etwas sagen, konnte aber nicht. Der Wind pfiff durch strohiges Haar. Es war ein Berg aus rotem und grünem und schwarzem Haar, und das Wesen lag bäuchlings im hohen Gras wie ein Löwe, der seine Beute beobachtet. Es sah aus wie ein Maskottchenkostüm, das jemand einfach liegengelassen hatte, ein Baseball-Clown, der von Schimmel und Fäulnis überzogen war. Langsam, unglaublich langsam streckte es die entsetzliche Klaue aus und schob die grünen Halme zur Seite, um sich Robin genau anzuschauen.
Das war zwar vielleicht ein Traum, trotzdem hinderte das die Angst nicht daran, wie Efeu in die Falten ihres Gehirns zu kriechen.
»M-mama«, stieß Robin schließlich hervor.
»Der Rote Lord«, sagte Annie. »Der Rote Lord findet dich.«
Der Mann in Neva Chandlers Haus in Alabama hatte das Gleiche gesagt. »Der Rote Lord findet dich. Du wirst sterben.«
Hatte die Hexe sie verflucht?
Aus unersichtlichem Grund schien Annie langsamer zu werden. Nicht plötzlich, sondern nach und nach, während sie ging, als wäre jeder Schritt einen Zentimeter kürzer als der vorige. Das gemähte Gras sammelte sich wie gefrorenes Wasser am Bug eines Eisbrechers um ihre Zehen.
»Wer ist das?«, fragte Robin.
»Er ist schon immer hier, seit die Tür geöffnet wurde. Er beobachtet. Er wartet. Eine wachsame Bestie.«
Anscheinend war auch nur ihre Mutter von dem weichen Boden betroffen, und wie in einem Torfmoor war sie bald bis zu den Knöcheln im Gras versunken. Jede Bewegung ihrer Beine löste grüne Wellen aus, die sich fortsetzten wie auf der Oberfläche eines veralgten Teichs. »Du willst ja nicht, dass er reinkommt, und wir haben ihm nicht gesagt, wo wir hingegangen sind«, sagte sie, und das Gras wallte bis zu ihren Schienbeinen hoch.
»Mama?«
Jetzt musste sich Annie regelrecht durchs Gras vorankämpfen, während die Sonne auf ihre glänzenden Locken brannte. Sie rang mit jedem Schritt, beugte sich vor, schob sich mit aller Kraft durch den Garten. Robin sah in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und drückte Mr. Nosy an die Brust. Sie strich sich das Haar aus den Augen.
Das Haus hinter ihnen war nur noch ein Kasten aus blauen Schindeln, so weit entfernt wie Weihnachten, der Baum mit der Schaukel und der Holzschuppen wirkten winzig und wie Modelle aus Eisstielen und Rentierflechte.
Der Rasen hatte Annie bis zu den Knien verschluckt. Ihre Fäuste bewegten sich vor und zurück, als würde sie boxen, als würde sie durch Sirup waten. »Er findet dich. Wo du auch bist. Es tut mir so leid.« Ihre Mutter wurde nun so langsam, dass Robin sie überholen konnte.
Polierte Zeder. Annies Augen waren aus Holz. Die Lederhaut war heller Alabaster mit rosa Adern, und ausgefranste schwarze Astlöcher klafften, wo Iriden und Pupillen hätten sein sollen. Ziegenaugen. »Du willst doch nicht, dass er reinkommt und uns findet.«
»Was meinst du?«, fragte Robin, stand vor ihrer Mutter und klammerte sich an Mr. Nosy. Annie bewegte sich nicht mehr vorwärts, sondern war mitten im Schritt erstarrt. Ihre Füße hatten sich fest in der Erde verwurzelt, wie Zaunpfähle, und ihre Arme hingen wie erstarrt in der Luft, der eine steil abgewinkelt nach vorn, der andere nach hinten. Sie war eine Statue, die mitten in der Bewegung eingefroren war.
»Was meinst du?«, wiederholte Robin, diesmal lauter. Sie schrie fast. »Was meinst du? Gottverdammt, warum sagst du nie, was du meinst?«
Mit der Hand einer Sechsjährigen schlug sie ihrer Mutter ins Gesicht.
Annies Wange wabbelte wie eine Blase, der die Luft entwichen war, hing durch wie durchscheinende Kerzenhaut, und der Wind riss ein Stück davon ab und enthüllte darunter etwas Dunkelbraunes. Dann löste sich noch mehr, und Annie Martines Gesicht blätterte ab wie alter Lack und kräuselte sich wie brennendes Papier. Unter der schuppenden Haut kam Rinde zum Vorschein, glatte schwarzbraune Rinde, die mit zackigen Holzzähnen durchsetzt war. Ein ebenmäßiger Holzschädel schaute hervor, prächtig geschnitzt, wunderschön, gruselig.
Das schwergewichtige rote Ding, das immer noch durchs Sauergras kroch, lachte. Grrrrruhuhuhuhuh.
Robins Lunge weigerte sich, Luft aufzunehmen. Sie trat zurück und beobachtete, wie die äußere Schicht ihrer Mutter zerfiel, abbröckelte und verweht wurde.
Gerollte Birkenborke hing von ihren Schultern und brach am Ellbogen; wachsig grüne Blätter mit Wurmlöchern sprossen aus ihrem Haar und aus ihren Fingerspitzen. Annies Arme und Handgelenke wurden länger und streckten sich bis über ihren Kopf, und ihre Beine wurden dicker, dehnten sich, wurden elefantenartig und waren mit zusammengeflicktem Fleisch bedeckt. Unter Annies Rinde wisperte das entsetzliche Reißen von Muskelfasern, sie langte gen Himmel, und dann war sie ein Baum, sie war ein gottverdammter Baum, der über ihrer Tochter aufragte, ein Apfelbaum, malus domestica, ihr geschnitztes Schädelgesicht war in ihrem Stamm vergraben, sodass nur die blinden Augen und das Totenkopfgrinsen zu sehen waren.
Sie war zum Arm eines Titanen geworden, der sich aus Erde und Gras erhob und eine Handvoll Blätter umklammerte. Ihre Augenlider hingen schlaff herab, und das linke Auge bildete mit dem Mund ein klaffendes, c-förmiges Astloch.
Dann loderte der Baum in Flammen auf, all das Laubwerk explodierte in heißem Licht, und das, was ihre Mutter gewesen war, schrie darin vor Schmerz und Entsetzen und
Robin schrie,
und
alte Frauen gackerten und echoten endlos
und …
Jemand hämmerte an die Seite desTransporters, und Robin fuhr aus dem Schlaf hoch.
Wieder dieser verfickte Albtraum. Zum vierten Mal nach der Überquerung des Mississippi. Es reicht. Sie wand sich aus dem Schlafsack und öffnete die Tür.
Draußen stand Joel im Schein der Nachtbeleuchtung der Pizzeria. Er blinzelte in ihre Taschenlampe. »Hey. Hab ich mir doch gedacht, dass diese Karre dir gehört.« Er trug einen leichten Anorak und hatte die Hände tief in die Taschen gesteckt. »Du hast nicht zufällig was Süßes übrig?«
»Nee, fürchte nicht.«
»Schade.« Joels Blick richtete sich auf ihr Gesicht. »Hey, alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Kann schon sein.« Robin massierte sich die Schläfen. »Nein, es war … Ich hatte einen Albtraum. Den gleichen wie immer. In letzter Zeit habe ich ihn häufiger.«
Joels Miene wurde milder. Sie wusste, er wollte gern bei diesem Thema bleiben und sie trösten. Doch so einfach war es nicht. Vor langer Zeit waren sie befreundet gewesen, aber das war eben vor langer Zeit gewesen. In einem anderen Leben. »Ähm«, begann er unsicher. »Ich wollte dir nur sagen, mein Bruder Fish, er hat einen Comicladen in der Stadt. Und einmal die Woche veranstaltet er eine Film-Nacht. Es geht in ungefähr …« Er sah auf sein Handy. »… zwanzig Minuten los. Ich meine, wenn du mal aus deinem Gruselwagen rauskommen willst.«
»Weiß nicht. Ich …«
»Miguel erlaubt mir, einen Stapel Pizzas aus dem Restaurant mitzunehmen. Angestelltenrabatt.«
Robin zögerte. Das Stück mit Sriracha-Soße, Ananas und Peperoni, das sie mittags gegessen hatte, war fantastisch gewesen, und sie konnte sich gut vorstellen, eine zweite Runde zu vertragen. »Gott, warum hast du das nicht gleich gesagt?«, fragte sie, schaltete das Innenlicht ein und suchte ihre Klamotten zusammen.
»Was zum Teufel?«, fragte Joel, der mit Riesenaugen in den hinteren Teil des Lieferwagens starrte. Er holte das Breitschwert aus der Halterung an der Wand und nahm eine Conan-Pose ein. »Was ist das alles? Gehört das zu deinem Hexenjagd-YouTube-Kanal?«
Robin schlängelte sich in die Jeans. »Yep.«
Er legte das Schwert zurück und kippte einen der Plastikbehälter, damit er hineinsehen konnte. Batterien. »Du bist ja voll ausgerüstet. Krasse Karre.«
»Hexenjagd ist ressourcenintensiv.«
Sie zog sich eine Sweatjacke über, stieg aus dem Wagen und schloss ab. In der Hand hielt sie die Videokamera, und während Joel sie zu seinem Wagen führte, drehte sie das Gerät um, richtete es auf ihr Gesicht und hielt es auf Armeslänge vor sich. »Hi zusammen. Ich bin es, Malus. Ich wollte mich gerade mit einem guten Buch und einer Portion Ramen-Nudeln für die Nacht zurückziehen, als mein neuer bester Freund Joel …«
Sie richtete die Kamera auf Joel. »Was geht, Internet.« Er küsste die Luft.
»… vorbeischaute und mich zu einer Film-Nacht einlud. Komplett mit verdammt fantastischer Pizza aus seiner Pizzeria. Zur Abwechslung lächelt mir die Glücksgöttin mal zu.«
Joel fuhr eine Schönheit von pechschwarzem Chevrolet Monte Carlo mit Speichenfelgen und Weißwandreifen. Sie machte die Beifahrertür auf und schob sich auf den mit schwarzem Plüsch bezogenen Sitz. Auf dem Schalthebel saß eine Billardkugel, eine schwarze Acht, und auf die Armlehne war ein Bild von Vonetta McGee in ihrem Blacula-Kostüm gestickt und dazu in Schreibschrift die Worte Black Velvet. Sie erkannte Vonetta sogleich, Blacula war einer von Heinrichs Lieblingsfilmen.
»Alles in Schwarz.« Robin schnallte sich an, als Joel einstieg. »Wenn wir von krassen Karren reden, dann ist dies Ding ja wohl die Karre für den Sommer.«
Beim Anlassen knurrte der Motor und gab dann ein tiefes Grum-grum-grum-grum von sich. »Alter, das ist eine krasse Karre fürs ganze Jahr«, antwortete Joel, legte den Gang ein und fuhr los.
Aus den Boxen im Rückraum heulte »Crazy On You« von Heart, während Joel den Monte Carlo die kurvenreiche Landstraße entlanglenkte und die Scheinwerfer über die Bäume strichen. Auf dem Rücksitz waren flache Schachteln gestapelt, aus denen sich ein angenehmer Duft nach heißer Pizza verbreitete. Als sie Blackfield erreichten, beleuchteten die Scheinwerfer vertraute Anblicke, die eine Woge der Nostalgie in ihr aufwallen ließen.
Die Stadt hatte sich verändert. Es gab einen neuen Walgreen’s, und der Walmart hatte einem ausgedehnten Co-op Platz gemacht. Aber unter der glänzenden Tünche des Wandels fand sie alte Landmarken, die von Erinnerungen nur so troffen.
Da war die Brücke, unter der sie immer gespielt hatte, wenn sie aus der Schule nach Hause ging.
Jim’s Diner, wo sie ihr erstes Stück Käsekuchen gegessen hatte.
Das Beerdigungsunternehmen mit dem riesigen Parkplatz am Hang, wo sie in einem Winter mit dem Schlitten in lagernde Grabsteine gekracht war und sich blaue Flecken am Hintern geholt hatte.
Walker Memorial, wo sie auf Anweisung ihrer Therapeuten während der Highschool ein paarmal zur Kirche gegangen war. Noch immer hörte sie das hallende Echo der Schritte, roch den Lack der Kirchenbänke, den Staubteppich und den schwachen Geruch der alten Gesangbücher mit ihrem steifen Papier.
»Ist schon ein paar Jahre her, was?«, sagte Joel und drehte die Anlage so leise, dass sie sich unterhalten konnten. Er nahm sein iPhone und schrieb mit einem Daumen eine Textnachricht.
»Ja.« Robin sprach zum Fenster, hinter dem die Welt vorbeiflog wie ein Diorama. Sie passierten die Victory Lanes Alley an der Kreuzung 7th und Stuart, und die bewegte Neonreklame zeigte immer und immer wieder eine Bowlingkugel, die zwei Kegel umwirft. »Ich habe nicht geglaubt, dass ich noch einmal hierherkomme. Zu viele miese Erinnerungen. Ich hatte gedacht, ich würde nie zurückkehren.«
»Heute Morgen hast du noch gesagt, du wolltest deiner Mama Respekt erweisen?« Er drückte sein Telefon an eine magnetische Kugel auf dem Armaturenbrett, klick, wo es über dem Radio klebte.
»Ja. Unserem alten Haus könnte ich auch einen Besuch abstatten, wenn ich mich stark genug dafür fühle.«
Black Velvet blieb vor einer Ampel stehen, und die beiden saßen da und lauschten dem Motorengeräusch. Joel schniefte und zupfte an seiner Nase. Er blickte aus dem Fenster und dann Robin an, als wollte er ihr Atomgeheimnisse verraten. »Hey, willst du, dass ich mitkomme?«, fragte er in seinem lakonischen Georgia-Tonfall. Ay, willste, dass ich mitkomm? »Du weißt schon, moralischer Beistand? Ich habe keine Ahnung, wann du hinwillst, aber ich habe bald ein bisschen frei.«
»Ich weiß auch noch nicht. Vielleicht irgendwann diese Woche.«
»Sag Bescheid. Ich bin auf jeden Fall am Start.« Er drehte an der kleinen Discokugel, die am Rückspiegel hing, und Licht tanzte durch den Wagen. »Jingle jangle.« Von der Frau auf dem Beifahrersitz kam keine Reaktion, daher beugte sich Joel vor und sah ihr in die Augen. »Hey, alles in Ordnung? Muss ja ein übler Albtraum gewesen sein. Und du hast ihn dauernd?«
»Als ich nach dem Feuer im Krankenhaus war, war es echt schlimm.« Nach dem Feuer, so nannte sie es bei sich, denn es war leichter, sich das Feuer vorzustellen als den Anblick ihrer sterbenden Mutter, die vom Boden zu ihr aufsah. »Die Medikamente haben geholfen. Nach einer Weile hat es aufgehört … aber dann war ich nur noch eine Holzpuppe, und da hat es auch keine Rolle mehr gespielt.«
Die Ampel wurde grün, der Motor knurrte, und Joel lenkte den Wagen über die Kreuzung. »Ja, diese Antipsychotika und Antidepressiva, die können einen völlig auf den Kopf stellen.«
»Hast du so ein Zeug auch genommen?«
Joel verzog das Gesicht. »Oh, Scheiße, ja, Baby, ich bin ein schwarzer Schwuler, hier im Süden zwischen lauter Hinterwäldlern. Selbst wenn meine Mutter nicht durchgedreht wäre und meinen Bruder verjagt hätte, sodass ich hier allein als verdammter Sonderling zurückblieb, hätte ich hier immer noch total verschissen. An manchen Tagen hätte ich es wohl nicht ausgehalten, wenn nicht irgendwas die Einschläge abgemildert hätte.« Er beugte einen geschmeidigen, muskulösen Arm. »Nimm den Python hier, das ging los, als ich nach der Highschool für Mr. Barnett gearbeitet habe, als Landschaftsgärtner in seiner Scheißfirma. Es ist echte Plackerei, den ganzen Tag Zementsäcke und große Steine herumzuschleppen und Löcher zu buddeln. Nach anderthalb Jahren oder so bekam ich langsam Muckis. Und weißt du was? Seitdem muss ich nicht mehr ganz so viel Dreck fressen. Die Leute sehen meinen Bizeps, und der Mist rutscht ihnen von der Zunge zurück ins Maul.«
»Bist du in Prügeleien geraten?«
»Dann und wann. Deshalb arbeite ich nicht mehr für Barnett.«
»Kämpfst du gern?«
»Nein! Überhaupt nicht. Spinnst du? Guck dir bloß an, was für Klamotten ich trage. Das ist echte Seide. Ich lackiere mir die verfickten Nägel. Ich hasse Kämpfe. Mir gefällt mein Gesicht, mein Bauch ist einfach hübscher, wenn keine Löcher drin sind. Lieber ziehe ich mir ein nettes Tütchen rein und fahr mit dem Wagen rum und spiele Videospiele und kümmere mich um meinen eigenen Kram. Aber manche Leute machen ihren Zirkus zu deinem Zirkus.«
Er fuhr weiter. Ihr fiel auf, dass er immer wieder in den Rückspiegel sah, hineinlugte, als wäre er ein Briefkastenschlitz.
»Und«, fuhr er fort, »wenn sie dann sehen, dass du dich zu wehren weißt, dann schicken sie ein paar mehr Typen vorbei. Deshalb hab ich gelernt, wie man ihnen am besten aus dem Weg geht. Wie man Auto fahren muss. Wie man ihnen ausweicht. Viele von uns kennen das, wir wissen, wie man sich unsichtbar macht, Mann – als ob man für die Weißen gar nicht da wäre. Ich beherrsch den Scheiß echt verdammt gut. Hab’s mir zunutze gemacht. Bin wie ein Ninja, verschwinde einfach. Ali hat gesagt: Schwebe wie ein Schmetterling. Im einen Moment bin ich hier, im nächsten weg. Nicht mehr als der Geruch nach verbranntem Gummi und Forever Red.«
»Tut mir leid«, sagte Robin.
»Was?«
»Dass du dich mit solchem Scheiß rumschlagen musstest – musst.«
»Quatsch. Es hat mich stärker gemacht. Ich habe genug Geld verdient, um mir Black Velvet hier zu leisten. Entweder den Wagen oder eine Kaution für eine Wohnung, und nachdem Fish den Abflug gemacht hat, um reich zu werden, musste ich hierbleiben, in unserem alten Haus wohnen und mich um meine Mom kümmern.« Nach einigen Sekunden fuhr er fort: »Na ja, ich sage musste, aber ich war auch nicht so clever wie Fish. Ich hatte gar keine andere Wahl.« Er zuckte mit den Schultern und sah sie an. »Ich tue was ich kann, aber ich bin eben nicht mein Bruder.« Er klopfte auf das Armaturenbrett. »Aber ich habe meinen Velvet, ich habe Benzin im Tank und etwas zu essen, und das reicht mir.«
Wieder blieben sie an einer Ampel stehen, diesmal vor einem Taco Bell. Jemand hatte das Wir stellen ein: Verkäufer übersprüht, sodass jetzt dastand: Wir stellen ein: Versager.
Joel lehnte sich vor und sah ihr besorgt in die Augen. »Worum geht es in dem Albtraum?«
»Ich bin wieder ein kleines Mädchen, und meine Mom lebt noch.« Sie entschied sich, den Roten Lord nicht zu erwähnen. Das war ihr in einer Nacht wie dieser und an einem so beengten Ort doch ein bisschen zu heftig. »Meine Mom und ich gehen in den Garten und laufen auf meinen Vater zu, während er den Rasen mäht, und dann benimmt sie sich komisch und verwandelt sich in einen Baum. Anschließend geht sie in Flammen auf und fängt an zu brennen, und ich wache auf, ehe ich sie löschen kann.«
»Irre.«
Joel lehnte sich verschwörerisch hinüber und murmelte: »Also, es ist gut, dich wiederzuhaben, auch wenn du Albträume bekommst, weil du hier in der Stadt bist. Du bist immer bei mir willkommen, und dann können wir eine Flasche Cognac köpfen. Ich finde, der Nektar der Götter ist das beste Mittel, um sich so abzuschießen, dass man den traumlosen Schlaf der Gerechten schläft.«
Robin studierte kurz sein glattes, offenes Gesicht. »Weißt du, möglicherweise nehme ich dich beim Wort.«
»Vielleicht spielen wir dann ein bisschen Verkleiden, wie damals, als wir Kinder waren«, sagte Joel. »Wir müssen uns nicht mal die Sachen von deiner Mama leihen, um uns hübsch zu machen.« Er zupfte an einem Ohrring. »Inzwischen kaufe ich mir meine eigenen Klamotten!«