11
Marilyn fand Roy draußen im Garten, wo er den Bretterzaun mit der Motorsense bearbeitete, während seine Augen von der billigen Rundum-Hinterwäldler-Sonnenbrille verborgen wurden. BRUUUUMMMM, BRUUUUMMMM. Die Trimmerschnur schnitt durch Fingerhirse und Glöckchenlauch und verbreitete bitteren grünen Duft.
Der abgeschiedene Garten war riesig und fraß sich tief in den sich unkontrolliert ausbreitenden Wald. Der Großteil war makellos gestaltet, ein Feld aus fünf Drahtgestellen, jedes dreißig Meter lang und von Weinreben überwuchert. Den Weingarten flankierten flache Hochbeete mit purpurnen Dahlien und Lavendel, im Schutz von Bäumen, von denen Meskalbohnen hingen. Die Frauen machten keinen eigenen Wein mehr, das war zu viel Arbeit; in diesen Zeiten konnte man viel besseren Wein aus älteren Beständen im Internet kaufen, und um ehrlich zu sein, war Roy ein Idiot, dem man den heiklen Prozess, einen guten Roten zu keltern, nicht anvertrauen konnte.
Der gerade erwähnte Idiot stand ganz hinten in der Nähe der Dryade, und die helle Nachmittagssonne schien ihm auf das fahle rote Haar. Er schaltete die Motorsense aus, als sie näher kam, und zog die Stöpsel aus seinen Ohren. »Du siehst aus, als hättest du die Woche hart geschuftet, mein Lieber«, sagte sie zu ihm und faltete die Hände über dem Bauch wie ein ehrwürdiger Vikar. »Warum nimmst du dir nicht den Rest des Tages frei? Und startest ein bisschen früher ins Wochenende.«
»Es war schon eine weite Fahrt von Virginia hier runter. Ich muss zugeben, ich bin ein bisschen kaputt heute.« Roy schob die schimmernde NASCAR-Sonnenbrille hoch und enthüllte seine hellen, meerblauen Augen. Er legte den Trimmer hin und klopfte sich das Gras mit den Handschuhen von der Jeans.
Wie immer schweifte sein Blick zu dem Baum. Dem Baum, dem größten auf dem Anwesen.
Marilyn genoss den Hauch Angst, der in diesem besorgten Blick lag. Sie lächelte liebenswürdig. »Allerdings möchte ich dich noch um einen Gefallen bitten, bevor du gehst.«
»Was denn?«
»Mutter hat mir gesagt … also anscheinend haben unsere neuen Nachbarn etwas in Annies Haus … aufgestört. Ich würde mir das gern mit eigenen Augen ansehen, solange sie tagsüber unterwegs sind, doch dazu möchte ich einen Aufpasser mitnehmen. Karen und Theresa sind im Wald und suchen Pilze, daher würde ich mich über deine Begleitung freuen.«
Auch wenn es nur du bist, dachte sie.
Roy zog unbehaglich die Schultern hoch, und sein Kopf nickte, als könnte er sich vor der Bitte wegducken. Er zupfte an seinem verschwitzten T-Shirt, um seine Brust zu lüften, und Marilyn wehte sein Geruch entgegen. Besoffenes Arschloch.
»… ja, sicher.«
»Wenn du dein Werkzeug weggeräumt hast, findest du mich in der Küche. Ich richte etwas zu trinken für dich her – es ist doch überraschend warm für Oktober, nicht?«
»Das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen.« Roy hob die Motorsense hoch und machte sich zur Garage auf. »Wie war das noch mit der globalen Erwärmung, ja?« Marilyn schaute ihm zu, wie er über den Rasen ging und zwischen zwei Gestellen mit Wein verschwand.
Im hintersten Bereich des Grundstücks, einen Steinwurf vom Zaun entfernt, stand der Apfelbaum, der Roy so nervös gemacht hatte.
Unter dem üppigen, leuchtend grünen Laubdach zeichnete sich ein kurvenreicher Stamm ab, der an eine Sanduhr erinnerte, als sei sein Wachstum in der Mitte durch einen Ring gehemmt worden. Zwei Hauptäste reckten sich aus dem Stamm wie ein großes Y in die Höhe, von denen sich kleinere Zweige verästelten. An deren Enden hingen Äpfel und leuchteten rot gegen den indigofarbenen Himmel. Der Stamm schien fast zu knien, wie Atlas unter dem Globus, als wären das Geäst und das Blätterwerk ein unerträgliches Gewicht, und er war so verdreht und gebeugt wie ein Bonsai.
Ein Astloch in einer tiefen Falte der Rinde erinnerte an ein Auge, das zuschaute, während Marilyn beide Arme ausstreckte und einen der Äpfel packte – riesig, dick, wie eine alte Tomatensorte. Sie pflückte ihn.
Der Ast wollte die Frucht nicht hergeben und ließ sich bis zu Marilyns Hüfte herunterziehen, ehe der Apfel sich schließlich löste. Marilyn polierte ihn an ihrem Ärmel und hielt ihn der Dryade dankbar entgegen.
»Danke, Annabelle«, sagte die Hexe und ging in Richtung Haus davon.
Er hatte in der Garage ein frisches Hemd angezogen, was seinen Körpergeruch deutlich verringerte. Marilyn war froh. Sie reichte Roy ein Glas mit Eistee, und beide gingen durch die Gartentür hinaus zur Einfahrt.
Auf dem Weg den Hügel hinunter sprach keiner. Beide hielten nicht viel von Smalltalk, und außerdem hatten sie Roy vor langer Zeit, als sie ihn im ländlichen New York aufgetrieben hatten, wo er auf der Straße lebte, längst alles gesagt, was zu sagen war.
Sie dachte über New York City nach, während sie auf verhornten nackten Füßen über Kies und Erde schritt. Ihr Rock wallte im Wind um ihre Knöchel.
Die Stadt war schön – die Gebäude waren seit ihrem letzten Besuch enorm in die Höhe geschossen und boten einen sehenswerten Anblick. Aber die hässlichen neuen Autos waren laut und abscheulich, die Luft stank, und es gab so viele neue Hexen mit ihren unterentwickelten, zweitklassigen Dryaden. Wie Ferkel saugten sie an den Zitzen des Big Apple, saugten ihn trocken, bis der Kern von Schwindsucht, Apathie und Dunkelheit verrottet war.
Das fand sie abscheulich. Die Armut und der großflächige Aderlass machen die Menschen böse und dreist, sie ließen sich nicht mehr so einfach beeinflussen. Damit ließ sich nur schwer leben. Das war schwierig zu kontrollieren. Kühe, die von Fliegen zur Raserei getrieben werden. Marilyn bevorzugte kleine Hexenzirkel in kleinen Städten wie Blackfield, einem Ort mit nicht einmal zehntausend Einwohnern.
Eigentlich brauchte man nur einen Baum, und solange man genug Katzen hatte, war man immer geschützt. Mit nur einem Baum begrenzte man die Abnahme, ganz anders als bei diesem unkontrollierten Absaugen. Deshalb waren Annies Äpfel so prall und groß – in Blackfield gedieh das Leben, das Leben dummer amerikanischer Hillbillys mit rotem Blut, und Marilyn saugte es gierig auf wie eine Zecke am Bauch eines Hundes, unsichtbar, unbemerkt. Es war fast wie ein Angelteich, den außer einem selbst niemand kannte.
Sie hatten Chevalier Village halb durchquert, als Roy anfing, einen Countrysong vor sich hin zu singen.
»Sei still«, krächzte die alte Frau.
»Ja, Ma’am.«
Eine schiefergraue Katze sprang unter einem der Wohnwagen hervor, und ein kleiner Hund sprang auf und setzte ihr hinterher.
Marilyn streckte die Hand aus. Die Katze rannte zu ihr, kletterte an ihrem Arm nach oben und hockte sich auf ihre Schulter. Sobald der Terrier die Grenze des Chevalier-Grundstücks überquerte, blieb er vor dem Mann und der alten Frau stehen, winselte und lief zurück in sein sicheres Territorium.
Ganz bestimmt wusste Roy, was sie waren, selbst wenn er es nicht genau benennen konnte. Roy hatte nie viele Fragen gestellt; er war eine Arbeitsameise, eine Drohne, und sie waren seine Königinnen. Aber er war auch nicht dumm genug, um ihre Verschrobenheit zu übersehen, den unheimlichen Baum im Garten, ihre übermäßig vertrauliche Beziehung untereinander. Und dann war da auch noch der verbotene oberste Stock, wo Mutter wohnte.
Schaust du dir die Störung mal an, Cookie? Der samtige graue Kater rieb die feuchte Nase an ihrem Gesicht. Sein gedämpftes Schnurren vibrierte in ihrem Ohr.
Ja, Mutter. Ich habe doch gesagt, dass ich mich darum kümmern wollte. Marilyn langte nach oben und streichelte der Katze den Rücken. Was hast du eigentlich gesehen?
Dort hat etwas geschlafen. Sie haben es aufgeweckt.
Marilyn schob die Lippen vor. Wieso hast du Sling Blade dabei? Er ist ein Verrückter, heimtückisch und voller ordinärer Gedanken. Ständig schaut er hier rauf zu den Fenstern. Dem traue ich nicht.
Ja, Mutter, ich weiß.
Vergiss nicht, den Baum zu gießen.
Nein.
Die beiden überquerten die Underwood Road und gingen die Einfahrt zu dem alten viktorianischen Haus hinauf. Die Katze hockte auf Marilyns Schulter wie der Papagei eines Piraten. Tief in den Falten ihres weiten Pullovers summte der Apfel der Dryade und regte sich warm.
»Niemand zu Hause«, sagte Roy.
Marilyn biss sich auf die Zunge. »Das war ja der Grund, weshalb wir gekommen sind, solange sie unterwegs sind.«
»Ach ja, richtig.«
Sie tappte über den Weg zum Haus, und ihre nackten Füße patschten über die Trittsteine. Dann stieg sie die Treppe zur Veranda hoch. Sie atmete tief ein, prüfte die Luft – nur ihr eigener Lavendelduft und Roys salzige Ausdünstungen – und packte den Türknauf.
Eine berauschende, elektrische Wärme wogte von dem Knauf in ihrer Hand hoch, als würde sie einen Elektrozaun mit einem Topfhandschuh berühren.
Marilyn ließ los. »Mutter hat recht. Da drin ist etwas.« Sie legte die Hände seitlich an die Scheibe, drückte das Gesicht dagegen und spähte durch das Fenster in der Tür.
Der Flur, in Dunkelheit getaucht. Sonst nichts.
Es war die ganze Zeit hier. Auch die Katze schaute durch das Fenster, der kleine graue Kopf fuhr hin und her, die grünen Augen leuchteten. Vielleicht waren es gar nicht die Neuen, die es aufgeweckt haben. Es hat sich versteckt und auf etwas gewartet.
Roy beugte sich vor und drehte den Knauf. Abgeschlossen.
Die graue Katze mit den Honigaugen machte einen Buckel und zischte. Oh, Cookie, ich kann es von hier aus spüren!
Marilyn streichelte der Katze den Nacken und dachte nach.
Sie ging zur Ecke der Veranda und dann weiter an der Seite entlang, wo sie durch alle Fenster ins Haus sah, doch die waren mit Spitzengardinen verhängt und erlaubten nur Blicke auf Ecken, Formen und reflektiertes Sonnenlicht. Sie ging ganz ums Haus und die hinteren Stufen hinauf, drückte dort erneut die Hände ans Fenster in der Tür und spähte in die Küche.
Auch auf dieser Seite strahlte vom Türknauf wieder diese Energie aus. Sogar das Glas summte an ihren Handkanten, so leicht, dass sie fast daran zweifelte, so zart wie die Flügelschläge eines gefangenen Schmetterlings.
Küchentisch. Magazine, Salzstreuer, Pfeffer, Briefumschlag.
Der Kühlschrank war neu, den hatten wohl die neuen Bewohner mitgebracht. Annies Kühlschrank war ein avocadofarbener Frigidaire gewesen, an dem überall Magnetbuchstaben geklebt hatten; dieser war ein großer schwarzer Monolith mit Wasser- und Eisspender in der Tür.
Sonst war nichts in der Küche.
Der Flur auf der anderen Seite der Küchentür war allerdings eine ganz andere Geschichte.
Marilyn konnte dort eigentlich nichts sehen, aber sie spürte etwas Großes und Schweres. Irgendetwas Riesiges befand sich im Haus, groß und massig. Der Boden und die Wände ächzten beinahe unter der Last. Das Haus war ein Käfig, in dem ein uralter Bär gerade nach einem zehnjährigen Schlummer erwacht war, und obwohl sie schon seit dem Louisiana Purchase Anfang des 19. Jahrhunderts kein Kind mehr war, fühlte sie sich plötzlich wie ein kleines Mädchen.
Was auch immer es war, es wandte sich ihr zu, sah sie geradewegs an und jagte ihr einen Schauer über den verschrumpelten Rücken.
Das war eine alte Macht, eine widerwärtige Macht, eine niederträchtige, betrügerische Macht, ein Ass im Ärmel, eine Gewalt aus der Vergangenheit. Marilyn hatte gestohlen und getötet, sie hatte schreckliche Dinge ersonnen und getan, schwarze, unaussprechliche Dinge, aber diese Bestie war … intensiv. Das war das beste Wort, das ihr dazu einfiel. Intensiv.
Stammte es von Annie? Hatte sie es hinterlassen?
Die Katze leckte sich eine Pfote und fuhr sich damit über die Ohren. So muss es wohl gewesen sein.
Was ist …
Ehe sie den Gedanken zu Ende bringen konnte, bewegte sich die Präsenz im Haus durch den Flur und durch die Küche auf die Gartentür zu. Als sie von einem Sonnenstrahl erhascht wurde, erahnte Marilyn deformierte, muskulöse Arme.
»Mist!«, keuchte sie und lehnte sich zurück. Das unsichtbare Monster krachte gegen die versperrte Tür, deren Rahmen klapperte. BÄNG!
Roy zuckte zusammen. »Scheiße!«
Die Fensterscheiben klirrten, hielten aber Stand. Von der anderen Seite der Schwelle ertönte ein tiefes Knurren, so tief, dass das Glas vibrierte. Marilyn fühlte sich angelockt, regelrecht hingezogen zur Tür, als würde eine Kraft sie ins Haus ziehen. Sie stemmte sich mit einer Hand gegen den Türrahmen, dann auch mit der anderen, und es war, als würde ein Staubsauger von drinnen an ihr zerren und sie aus dem Gleichgewicht werfen.
Was immer dort drin hauste, es wollte ihren verrotteten Leib fressen wie ein Bussard, und ihre wurmstichigen Knochen abnagen, bis nichts mehr blieb als ein Grinsen und zwei tiefe Augenhöhlen.
»Was zum Teufel haben die da drin?«, fragte Roy. »Einen Mastiff?«
Sie trat zurück, stellte sich neben ihn und krallte voller Überraschung und Verärgerung die Zehen ins Gras. »Hast du ein Bellen gehört?«
»Nein?«
»Warum denkst du dann …? Ach, vergiss es.« Marilyn machte verzweifelt eine wegwerfende Geste in seine Richtung und ging weiter ums Haus, die Katze im Schlepptau. In all den Jahren habe ich so etwas noch nicht erlebt, dachte sie. Was ist das? Wie konnte Annie, die kleine neugeborene Hexe Annie, die doch noch ein Baby war, wie konnte sie so etwas beschwören?
Die Katze überholte sie und trottete durchs trockene Herbstgras voraus. Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio. – Shakespeare, weißt du. Ich habe ihm das damals vorgesagt.
»Mutter, du hast nur Unfug im Kopf«, sagte Marilyn zu der Katze.
Spotte nur über mich, aber auf eigene Gefahr, liebe Tochter. Ohne Zweifel hat Annie es beschworen, damit es dich tötet, ehe du die Dryade erschaffen konntest. Sie wusste, dass du ein Auge auf sie geworfen hattest. Die Frage ist, wodurch ist es erwacht? Dieser Neue war es auf jeden Fall nicht. Das Ding dort drin interessiert sich nicht die Bohne für diesen Yankee-Neger. Nein, es reagiert auf etwas anderes. Da ist jemand anderes. Jemand, der direkt mit Annie Verbindung hat.
Wen kennst du, auf den das zutrifft?
Marilyn blieb so überraschend stehen, dass Roy mit ihr zusammenstieß. »Ich weiß, wer hier ist«, sagte sie und starrte nachdenklich in den Wald.
»Was?«, fragte er. »Das Ding im Haus?«
Sie sah ihn finster an. »Nein, nein, das nicht, aber ich weiß, warum es auf den Beinen ist und Witterung aufgenommen hat. Ich weiß, wer es geweckt hat.«
Die große Katze sah erwartungsvoll zu ihr auf.
»Annies Tochter«, sagte Marilyn. Ein Lächeln zog langsam unter ihre Habichtnase. »Das ist es, das ist es … Ihr kleines Mädchen ist zurück in der Stadt. Mein kleiner Vogel. Sie ist in ihre alten Jagdgründe zurückgekehrt. Was Annie auch immer beschworen hat, es weiß, dass sie hier ist, denn in ihren Adern fließt Annies Blut. Es kann sie riechen.« Ihre Hände fanden einander und rieben sich. »Wir sollten eine Willkommensparty für sie veranstalten.«
Roy grinste. »Ich mag Partys.«
Nachdem sie Roy nach Hause geschickt hatte, kehrte Marilyn zum Lazenbury-Haus zurück und machte sich sofort zur Speisekammer auf, in der auf einem Regal eine Glaskaraffe mit Korkdeckel stand. In dem Glas befanden sich sonnengetrocknete Baumfrösche, die ein Wirrwarr bildeten wie verknüllte Elektrokabel. Sie zog einen Frosch heraus, warf ihn in die Küchenmaschine und zermahlte ihn zu einem groben Pulver, das an Koriander erinnerte. Dann gab sie es mit zwei Teebeuteln Earl Grey sowie etwas Wasser in einen Kessel und stellte ihn auf den Herd.
Während sie wartete, dass der Tee zu kochen begann, lief Marilyn in ihr Arbeitszimmer, holte sich ein kleines Heftchen, ging zurück in die Küche und nahm eine Dose Kitekat aus der Speisekammer.
Die graue Katze mit den Honigaugen war ihr ins Haus gefolgt.
Marilyn riss ein briefmarkenförmiges Stück Papier aus dem Heftchen. Die Katze schlenderte zu der Katzenfutterdose und schnupperte daran. Jetzt bohrte sich eine krächzende Stimme wie ein wabernder Nebel in Marilyns Kopf; Mutter hatte sich aus dem Tier zurückgezogen. Schlief wahrscheinlich. In letzter Zeit schlief sie viel.
»Habe ich gesagt, das ist für dich? Los, beweg deinen Arsch vom Tisch«, sagte sie und scheuchte die Katze auf den Boden.
Marilyn legte sich die LSD-Pappe auf die Zunge und machte das Kitekat mit einem manuellen Dosenöffner auf, dann setzte sie sich an den Tresen und aß aus der Dose, mit einem Silberlöffel, der aus Adolf Hitlers Teebesteck gestohlen war. Das Hakenkreuz auf dem Griff glitzerte im Licht der Deckenlampe, aber der edle Löffel verminderte nicht den fauligen Geschmack des Katzenfutterbreis.
Das Acid hatte gerade zu wirken begonnen, als der Teekessel pfiff. Sie goss sich einen Becher ein und setzte sich, um ihn zu trinken (schwarz natürlich – Zucker verdarb die alchemistische Zusammensetzung der Mixtur), starrte mit leerem Blick aus dem Fenster in die dunkler werdenden Farben und lauschte den zunehmend intensiveren Geräuschen.
Dem hauchigen Brmmmmmm des Kühlschranks.
Dem regelmäßigen Ticktack Ticktack der Felix-Uhr an der Küchenwand mit dem schwingenden Katzenschwanz und den Tennis-Zuschauer-Augen, die gegen den Rhythmus der Standuhr im Wohnzimmer tickte (nicht vergessen, sie aufzuziehen).
Ein Holzlaster tuckerte auf der Underwood Road vorbei.
Dünner Vogelgesang aus den Oktoberbäumen. Sie trank einen Schluck Tee und schloss die Augen.
Auf der Leinwand hinter ihren Lidern zeichnete sich ein Haus irgendwo in Blackfield ab … nicht das Lazenbury, sondern eine hellere, fröhlichere Unterkunft, näher am Stadtzentrum, mit perlfarbener Tapete und Kirschholzmöbeln. Heftiger Verkehr donnerte vor diesem Haus hin und her. Sie ging herum und sah in jedes Zimmer, bis sie sicher war, dass sich niemand dort aufhielt. Nun schlug sie die Augen auf. Schloss sie wieder.
Diesmal ging sie eine Straße entlang. Eine Seitenstraße, die von der Hauptstraße abzweigte. Eine kleine Gruppe Kinder schlenderte vorbei, drei Jungen und ein Mädchen. Einer der Jungen war schwarz. Marilyn erkannte den Sohn des Nachbarn, der seit Kurzem in Annies Haus wohnte.
Die Kinder blieben stehen, und sie ging zu ihnen. Das Mädchen bückte sich und streichelte Marilyn. »Oh, was für ein hübsches Kätzchen. Hallo, süßes Kätzchen«, gurrte sie.
Miau, sagte die alte Frau. Sie schnupperte an der Hand des Mädchens: Cracker, Süßigkeiten, Filzstifte.
»Miau«, sagte das Mädchen, das, wie Marilyn wusste, Amanda hieß.
»Kannst du jetzt schon Katzisch sprechen?«, fragte der aggressiv wirkende fette Junge.
Marilyn kannte ihn aus dem Wohnwagenpark unten am Hügel. Amanda starrte ihn über die Schulter an und streichelte Marilyn noch ein bisschen. »Hübsches Kätzchen.«
Sie öffnete wieder die Augen, trank einen Schluck Tee und kniff die Lider zu. Jetzt war sie in einer Art Geschäft, einem dieser eigentümlichen Billig-Läden vielleicht. Lustige Bücher, Plastikspielzeug, Brettspiele und Halloweenmasken. Sie saß auf einem Glastresen neben einem farbigen Mann, der vor einem schnittigen weißen Laptop saß und tippte.
»Ist noch nicht Zeit fürs Füttern, Selina«, sagte der Mann und kraulte Marilyn hinter den Ohren. »Du bekommst was, wenn es so weit ist, versprochen.« Ein wohliges Gefühl kroch ihren Rücken hinunter, trotz der Hand auf ihrem Fell. Prrrauuu, sagte sie und öffnete wieder die Augen.
Schon was gefunden?, fragte Mutter.
Die graue Katze mit den Honigaugen war wieder auf den Küchentresen geklettert und leckte die letzten Brocken aus der Dose in Marilyns Hand. Der Geist ihrer Mutter war in der Katze und lauschte. Sie spähten gemeinsam. Mutter war alt genug und vor allem mächtig genug, um dabei ohne die Hilfe von LSD und Katzennassfutter auszukommen.
Noch nicht. Aber ich finde sie, da zerbrich dir nur nicht dein hübsches Köpfchen. Marilyn schob das Kitekat von sich und kämmte sich mit den Fingern das Silberhaar. Dabei genoss sie das vom Acid veränderte Gefühl, als ihre Nägel über ihre Kopfhaut strichen.
Nachdem Marilyn über fast vierzig Jahre Acid und davor reines Peyote eingenommen hatte, war sie gegen die meisten üblen Nebenwirkungen abgehärtet; wie viele Praktizierende ihrer Art von Zauberkunst hatte sie festgestellt, dass die Wirkung von LSD wie ein Traum kontrolliert, genutzt und kanalisiert werden konnte. In einem Traum passiert etwas, wenn man es erwartet. Wenn man von einer Kiste träumt und erwartet, dass man einen abgeschlagenen Kopf darin findet, wird man genau das darin entdecken, wenn man sie aufmacht.
In dieser Weise ist es eine großartige Methode, das eigene Unterbewusstsein zu destillieren und die eigenen Nervenbahnen zu defragmentieren. Großreinemachen, wenn man so will. Auf die Suche gehen nach tiefliegenden Bedürfnissen und Persönlichkeitsfehlern und sie nach Möglichkeit ausmerzen.
Lysergsäurediethylamid funktionierte ziemlich ähnlich – wenn man eine Halluzination erwartete, stellte sich die Halluzination ein. Für eine Hexe von Marilyns Kaliber bekamen Halluzinationen ein wenig mehr … sagen wir mal Substanz, wenn die Chemie durch weitere Zutaten variiert wurde. Das Katzenfutter half ihr, die Halluzinationen zu kanalisieren und sich mit den vagabundierenden Katzen von Blackfield zu »verbinden«, anstatt einen seligen Abflug mit Pink Floyd zu machen. Ohne den Nachgeschmack auf der Zunge jedoch konnte sie leicht vergessen, warum sie in diesem Bewusstseinszustand war und was sie eigentlich vorhatte.
Sie verband sich mit der nächsten Katze und hockte plötzlich in den Ästen einer Eiche irgendwo in der Stadt, wo ein schwarzer Labrador sie anbellte. Katze Nummer fünf lag unter einem Wagen und verschlang die kalten Reste aus der weggeworfenen Styroporschachtel eines China-Imbisses. Zum x-ten Mal dachte Marilyn, wie sehr Hähnchen süß-sauer doch optisch einer zerquetschten und gebratenen Maus ähnelte. Beim nächsten Anlauf erwischte sie eine gefleckte Katze, mitten im Paarungsakt hinter dem Krankenhaus an der Neunten Ecke Thompson.
Der stachelige Penis des Katers ragte in ihre verrottete, seit langer Zeit unfruchtbare Gebärmutter, und sofort war sie zurück in der Lazenbury-Küche und beinahe dazu noch vom Hocker gefallen.
Probleme?, fragte Mutter.
Die graue Katze leckte sich die Lippen, drehte sich auf den Rücken und starrte Marilyn kopfüber an.
»Nein … nein. Mach dir meinetwegen keine Sorgen.« Zitternd kam Marilyn wieder zu Atem und trank einen großen Schluck von dem bitteren Baumfroschtee. »Während ich nach Annies Tochter suche, könntest du doch einen Blick auf das Ding in Annies Haus werfen. Finde heraus, was es ist und wie wir es loswerden.«
Was glaubst du eigentlich, wem du Befehle erteilen kannst? Die Katze langte herüber, packte Marilyns Ärmel mit einer Kralle und zog eine Masche des Garns aus dem Pullover. Ich war eine von Rasputins Geliebten und Schülerinnen, ja! Ich habe Pigmente für Michelangelo gemischt! Ich habe …
»Ich bin nicht in der Stimmung für deine alten Geschichten, Mutter. Oder deine historischen Lektionen.«
Alte Geschichten? Ich werde dir zeigen, was alte Geschichten sind, Cookie.
»Ja, sicherlich. Aber bitte, tu mir den Gefallen und schau dir vorher dieses haarige Ungeheuer im viktorianischen Haus an. Ich bringe dir dafür nach dem Abendessen eine Schale Eiscreme hoch.«
Versprochen?
»Ja, ja, natürlich.«
Mit Tiramisu-Geschmack? Das erinnert mich so an Giuseppe und seine Schwester damals in Sizilien. Ach, wie ich deren Haus geliebt habe, mit den Rosenspalieren und der Statue des Fischers, der in den Ozean pinkelt …
»Ja, Tiramisu. Jetzt lass mich in Ruhe, Mutter. Ich habe zu tun.« Die Katze erhob sich, sprang vom Tresen und trottete davon.
Marilyn zeigte auf den Herd und gestikulierte. Der Teekessel schwebte in der Luft hinüber zu ihrem Teebecher und schenkte nach, ehe er ihrem knorrigen Finger zurück zu der abkühlenden Platte folgte.
Marilyn beugte den Kopf vor, legte die Hände wie ein Fernglas an die Augen und setzte das Spähen fort.