6

Fisher’s Comicladen lag nicht gerade an der Hauptstraße, dafür aber in einer gemütlichen kleinen Straße einen Block weiter, einem schmalen Stück altmodischen Amerikas. Krimskramsläden, Apotheken, ein Zoogeschäft, Boutiquen, Friseure, eine Bar, Rechtsanwaltskanzleien, ein Goodwill, eine Suppenküche. Sie fuhren an einem hohen, grauen Gerichtsgebäude und einem Polizeirevier aus rotem Ziegelstein vorbei.

Der Monte Carlo glitt in eine Parklücke quer zur Straße, neben acht oder neun anderen Fahrzeugen, und Joel stieg aus, nahm den halben Stapel Kartons und überließ Robin die andere Hälfte. »Hast du gesagt, Miguel spendiert diese Pizzas?«, fragte sie, nahm die Kartons und stieß die Wagentür mit der Hüfte zu.

»Er betrachtet es als Werbemaßnahme«, meinte Joel und stellte anzüglich eine Hüfte aus. »Bring sie auf den Geschmack, dann kommen sie und wollen mehr.«

»Klingt eher nach der Dealer-Methode.« Sie tastete mit dem Fuß nach dem Bordstein und trat auf den Bürgersteig. Die Fenster des Comicladens waren mit Bildern von Spider-Man und Batman in dynamischen Posen bemalt, Batman in den blauen und grauen Silver-Age-Comic-Farben. Über ihren Köpfen stand in fließender Schreibschrift. FISHERS HOBBYLADEN.

Ein Mann kam aus dem Laden und hielt ihnen die Tür auf. »Warum tust du mir das an, Mann?«, sagte er zu Joel mit einem Blick auf die Pizza. Er war muskulös, aber schlank, hatte den Körper eines Schwimmers und ein rundes Gesicht.

»Fish, du tust es dir selbst an, also schieb mir nicht die Schuld zu. Ich esse wie ein Mensch. Du isst wie ein Maultier.«

Der Comicladen wurde von trüben Neonröhren beleuchtet. Comics machten nur einen Bruchteil des Warenangebots in den Regalen aus – es gab jede Menge Action-Figuren, seltene, ungewöhnliche und Allerweltsfiguren in Originalverpackung, Tisch- und Kartenspiele, Halloween-Masken aus verschiedenen Horror- oder Superheldenfilmen, Filmrequisiten, Videogame-Schlüsselanhänger, Merchandising-Süßigkeiten. Ein lebensgroßes Xenomorph-Wesen aus den Alien-Filmen lauerte hinter einem Regal und wartete reglos, um sich jeden Kunden zu schnappen, der sich unglücklicherweise seinen Kiefern näherte.

Im hinteren Teil des Ladens war ein Bereich mit Sitzelementen und Klappstühlen vollgestellt. Über die Köpfe von zwei Dutzend Gästen hinweg wurde die Anfangssequenz des Horrorklassikers Evil Dead auf eine Leinwand projiziert.

»Fish ist auf dieser Keto-Diät.« Joel stellte die Pizzaschachteln auf einen Tisch, drückte sich Desinfektionsmittel in die Hände und verrieb es. Die Kids standen sofort auf, kamen zum Tisch und versammelten sich vor ihm wie hungrige Jagdhunde. »Er will mir immer einreden, wie gut die ist, aber sobald ich Pizza anschleppe, sehe ich diesen Blick in seinen Augen.«

»Was ist diese Keto-Diät?«, fragte Robin.

»Null Kohlenhydrate. Kein einziges. Null, Zero, nix.« Joel zog einen imaginären Reißverschluss an seinem Mund zu und verteilte Pizza auf Plastiktellern. »Er isst sogar kaum Obst. Er war ja immer so ein Fitness-Spinner, aber dieses Jahr ist er völlig abgedreht. Ich weiß nicht mal, wie er das anstellt.« Er reichte Robin einen Teller und schob sie auf eine Sitzbank.

»Was isst er denn?«, fragte sie und lehnte die Kamera an die Wand, sodass sie den Tisch mitsamt den daran Sitzenden im Bild hatte. »Einhornfürze und Sonnenstrahlen?«

»Fleisch. Gemüse.« Er fuchtelte mit der Hand. »Ständig und immer Speck. Er schustert sich normales Essen aus unnormalem Mist zusammen. Und alles brät er in Kokosöl. Einmal hatte er mich überredet, ihn zu Hause zu besuchen, und da hat er Pizza mit einem Teig aus püriertem Blumenkohl gemacht.«

»Igitt.«

Fish, seine Freundin Marissa und ein großer weißer Typ, der wie ein Biker aussah und Kenway hieß, setzten sich zu ihr an den Tisch. Kenway hatte seinen Goliath-Körper in ein schwarzes T-Shirt gezwängt, und mit dem wuchtigen Bart sah er aus wie ein Holzfäller in der Midlife-Crisis. Ausschweifende Farben und Linien zogen sich die massiven Arme entlang. Robin half den anderen, die Pizza und eine Armee Craft-Bier-Dosen zu vernichten, während niemand auf den Film achtete.

So nahm der Abend seinen Lauf, und als es auf Mitternacht zuging, war sie froh, dass sie mitgekommen war. Nach mehreren Teilen eines Halloween-Marathons sah sie von ihrem Bier auf. Fast alle Zuschauer waren verschwunden. Michael Myers starrte ausdruckslos vom Bildschirm auf einen Raum voll leerer Stühle.

»Und was machst du so?«, fragte Marissa über den Rand ihrer Bierdose hinweg.

»Ich habe einen YouTube-Kanal«, antwortete Robin. »Ein fiktiver Horror-Vlog. So wie Blair Witch Project, die Serie, so in der Art. Ich bin eher so die Guerilla-Filmemacherin.«

»Krass. Und verdienst du gut?«

»Ich komme über die Runden. Ich habe zu essen und kann mir kaufen, was ich brauche. Und ihr?«

»Ich arbeite als Ärztin in der Notaufnahme des hiesigen Krankenhauses.« Marissa lächelte ihren Freund warm an. »Fisher ist neben seinem Hobby-Laden noch ein Computer-Nerd. Dateneingabe und Programmierung.«

»Knochensägen. Schön. Ich glaube, ich hätte nicht die Eier, die medizinische Ausbildung durchzustehen. Nee, das habe ich nicht in mir.«

»Wahrscheinlich denkt das jeder, bis man auf die andere Seite gerät, und es dann plötzlich heißt: Verdammt, ich hab’s geschafft.«

»Die Grundausbildung war für mich auch so«, sagte Kenway. »Meine Mom glaubte, ich würde es niemals schaffen.« Er lachte. »Irgendwie habe ich den Verdacht, sie hat nicht viel von mir gehalten, bevor ich mich verpflichtet habe.«

»Was?«, fragte Melissa. »Kann ich mir kaum vorstellen. Du bist ein Riese.«

»Ich war schon immer groß, aber nicht so muskulös. Bei meiner Einberufung war ich ziemlich pummelig. In der Grundausbildung und der Kampfausbildung habe ich viel Gewicht verloren. Als ich nach Hause kam und meine Mom mich am Flughafen abholte, hat sie mich gefragt: ›Wo zum Teufel ist der Rest von dir?‹ Wenn du ein halbes Jahr lang jeden Tag Calisthenics machst und kein Bier und keine Hamburger kriegst, verlierst du leicht siebzig Pfund.«

Er sah auf die Uhr. »Ich schätze, ich muss mal nach Hause«, sagte er. Marissa ließ ihn aus der Sitzecke. Robin war beeindruckt, wie groß er war, als sich seine knapp zwei Meter Muskeln aufrichteten.

Sie trank ihr Bier aus. »Musst du morgen früh arbeiten?«

»Nein, äh … eigentlich arbeite ich nicht«, sagte Kenway und rammte seine Hände in die Jeanstaschen. »Also, ich arbeite schon …« Er winkte mit der großen, groben Hand ab. »Aber es ist nicht so ein typischer Acht-Stunden-Job.«

Marissa lächelte. »Kenny ist Künstler.«

»Ey, echt?« Robin strahlte. Das Lächeln fühlte sich fremdartig und unbehaglich im Gesicht an. »Was für ein Künstler bist du denn? Unterwasserkorbflechten? Kettensägenschnitzen?«

Der riesige Mann lachte und verschränkte die Arme. »Ein bisschen dies, ein bisschen das.« Es hätte eigentlich Respekt einflößend wirken sollen, vielleicht sogar bedrohlich, doch irgendwie kam es eher schüchtern rüber. »Ich habe das große Wandbild im Park gemacht und außerdem die Superhelden auf dem Fenster hier im Laden. Außerdem habe ich auch eine Vinyl-Ausrüstung und mache Ledersachen.«

»Universalgenie. Vielleicht bemalst du für mich meinen Lieferwagen.«

»Deine Kack-Karre?«, fragte Joel.

Robin schnitt eine Grimasse. »Ja, meine Kack-Karre. Die könnte ein bisschen mehr Style gebrauchen.«

Kenway rieb sich den Nacken. »Kann ich mir mal anschauen. An was hast du denn so gedacht?«

»Machst du oft Lieferwagen?«

»Immer mal wieder. Meistens Pick-ups oder Hot-Rods aus der Stadt. ’nen Arsch voll Motorräder für Typen aus Atlanta und Chattanooga. Vor ein paar Jahren habe ich einem eine fette Schlange auf den Truck gemalt. Das war echt krank, hat ewig gedauert. Hat sich von einer Tür ganz hinten rum bis zur anderen gezogen.«

Robin versuchte sich vorzustellen, wie ihr Wagen mit einer neuen Lackierung aussehen würde. »Was hältst du denn von Joel, splitternackt auf einem Bärenfell vor einem Kamin und mit einer Rose im Mund?«

Die beiden Männer sahen sich an. Marissa lachte schallend. Joel zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Bin dabei. »Du hast gerade beschrieben, wie mein Samstagabend normalerweise aussieht«, sagte er und nahm Pose ein.

»Hey, ich mache nur Spaß«, meinte Robin und grinste. »Nein, ich hätte gern etwas Schlichtes. Nichts Kitschiges.«

»Ich kann mir sicher etwas ausdenken.«

»Ich denke, du solltest mit der Lady zu ihrer Kack-Karre fahren und sie dir zeigen lassen«, schlug Joel vor und grinste hinterhältig. »Ich wohne auf der anderen Seite der Stadt und bin gleich weg, also kann ich sie nicht nach Hause bringen, aber dein Atelier liegt zwischen hier und der Pizzeria.«

Vor Verlegenheit schoss Robin Hitze den Nacken hinunter. Sie kniff die Augen zusammen und starrte ihn an. Das hast du doch von Anfang an geplant!

Kenway rieb sich den Hinterkopf. »… Klar, könnte ich machen.«

Nachdem sie den Projektor eingepackt und die Pizzareste aufgeräumt hatten, verabschiedeten sich die Fünf auf dem Bürgersteig. Wie sich herausstellte, fuhr der Künstler einen klapprigen Chevy-Pick-up, einen antiken Straßenkreuzer. Lackiert war er wie der Himmel in alten Fotos, wehmütig und kühl.

Robin stieg in die Kabine, zog die Ärmel ihres Hoodies über die Hände und schob diese in die Taschen. Ihr war zwar nicht kalt, aber so fühlte sie sich besser. Sicherer.

Ein Paar Hundemarken hingen vom Rückspiegel und blinkten im Licht. Sie kurbelte das Fenster nach unten und lauschte dem Sägen und Wispern der Zikaden in der Ferne. Kenway stieg ein und füllte den Fahrersitz mit seinem muskulösen Körper aus. Er startete den Motor, der mit einem öligen, erschöpften Tschuckatschuckatschucka antwortete. Dann fummelte er am Radio herum und produzierte statisches Rauschen.

»Was für Musik magst du?«

»Alles Mögliche.« Sie lächelte, so freundlich sie konnte. »Na ja, ich stehe besonders auf Death-Metal-Cover von alten Musical-Songs.«

Kenway schnaubte.

»War bloß Spaß.« Sie sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Ich höre mir alles an. Erwarte nur nicht, dass ich tanze. Ich habe zwei linke Füße.«

»Ich auch.« Kenway klopfte auf sein Bein. »Sie hatten beim Militär keine rechten mehr übrig, deshalb musste ich zwei linke nehmen. Echt übel beim Schuhekaufen.« Als er ihren entsetzten Blick sah, lachte er. »War bloß Spaß.« Er stellte einen Sender ein, der Classic Rock spielte – revved up like deuce, another runner in the light, Heinrich hätte das gefallen –, und suchte mit dem Blick ihre Zustimmung.

Da es der Sender mit dem besten Empfang war, schob sie die Lippen vor und lächelte zustimmend. »Klingt gut.«

Der Knauf auf dem Schalthebel war ein zwanzigseitiger Dungeons & Dragons-Würfel, groß wie ein Apfel. Als Kenway den Gang einlegte, bemerkte er ihren Blick. »Ich habe ihn mal gewonnen, als wir abends bei Fish im Laden Trivial Pursuit gespielt haben.« Er lachte und schob den Hebel vor, und der Motor wurde ruhiger. »Zum ersten Mal konnte ich etwas mit meinem enzyklopädischen Wissen über TV-Serien anfangen. Eigentlich ist es gar kein richtiger Schaltknauf, sondern ich musste ein Loch reinbohren. Kannst du dir vorstellen, dass ich noch nie Dungeons & Dragons gespielt habe?«

Der Chevy bog aus der Parklücke auf die Straße ein und rumpelte die Main Street entlang, vorbei an einer gewaltigen neogotischen Kirche, die aussah, als wäre sie aus Sandsteinblöcken gebaut.

»Wäre mir nie in den Sinn gekommen. Du siehst aus wie der letzte Nerd …«

Das Ding aus ihrem Traum stand unter einem der Stützpfeiler in einer Gasse.

Der Rote Lord.

Leuchtend grüne Lampenaugen glühten im dunklen, breiten Gesicht und blinkten zwischen den Streben des Zauns der Kirche hervor. Eine gelbe Sicherheitsleuchte an der Mauer erhellte die Gestalt von hinten und erzeugte auf dem rötlichen Haar, das die unförmigen Schultern und die langen Arme umfasste, einen leuchtenden Schleier. Vor Jahren hatte sie geschätzt, das Wesen sei mindestens zweieinhalb Meter groß, doch neben den monumentalen Säulen und Stützpfeilern des Walker Memorial wirkte es fast zierlich.

Jedenfalls tauchte dieses Ding, was immer es war, immer häufiger in ihrem Leben auf, seit die Sache mit Neva Chandler passiert war, als würde es den Verlauf der Zeit festlegen oder als sei es eine Art wiederkehrendes Echo, wie das Ping eines Sonars.

Vielleicht war es ein Fluch. Vielleicht war es auch real, vielleicht hatte Neva es beschworen, vielleicht hatte Neva es auf Robin aufmerksam gemacht, Robin sichtbar gemacht, um sie von ihrem Job abzubringen. Von ihrer Aufgabe. Ihrer Mission. Jede Hexe zu töten, die sie fand.

Aber eins machte sie stutzig: Dieses Wesen, der Rote Lord, hatte keinen Versuch unternommen, sie anzugreifen. Er bedrohte sie nie, abgesehen von seinem Erscheinen in ihrem persönlichen Raum. Stattdessen lauerte er am Rande des Schattens, in dunklen Eingängen und vor beschlagenen Fensterscheiben. Sie entdeckte ihn in Bäumen, im Schein einer Sicherheitsleuchte, reglos, monströs, starr, nur der Wind zerzauste die marmorierte Mähne. Während er mit seinem langen, knorrigen Finger diese lockende Geste machte.

Komm mit mir, schien er immer zu sagen.

Ich muss dir etwas zeigen.

Möglicherweise war es der Stress ihrer traumatischen Schocktherapie in der Nervenklinik und das anstrengende Training mit Heinrich und der brutale Kampf mit Neva … Vielleicht hatte sich das alles angesammelt und einen Nervenzusammenbruch in Zeitlupe ausgelöst.

Scheiße, vielleicht war sie einfach verrückt auf die Welt gekommen, und der Stress hatte alles freigesetzt.

Mist, dachte sie, während der Pick-up weiterrollte und das Wesen hinter der Kirche verschwand. Ist es schon zu spät für meine Medikamente? Sie nahm sich vor, die Pillen zu nehmen, sobald sie zum Wagen kam.

»Alles okay bei dir?« Kenway warf ihr einen Seitenblick zu.

»J-ja.«

»Womit verdienst du dein Geld? Muss ja ziemlich interessant sein …«

»Wegen meines Aussehens?« Sie sah sich im Außenspiegel an und kam sich plötzlich fremdartig vor, mit ihren dunklen Augen und ihrem rasierten Kopf. Du siehst aus wie ein Komparse aus Mad Max. Zum ersten Mal seit langer Zeit – vielleicht überhaupt zum ersten Mal – wünschte sie sich ein bisschen mehr Make-up. Ihre Fingernägel waren vor ein paar Tagen noch schwarz lackiert gewesen, jetzt war die Farbe jedoch größtenteils abgesplittert.

Kenway grinste spöttisch. »Das hast du gesagt, nicht ich.«

»Ich mache Internet-Videos.« Sie erinnerte sich an die Kamera in ihrer Hand und bewegte sie hin und her. Das Gerät filmte nicht.

»Echt. Huh.« Kenway blieb vor einer roten Ampel stehen und wartete auf Grün, das einfach nicht kam. »Ich wusste gar nicht, dass man damit Geld verdienen kann. Was machst du denn in den Videos?«

Ich wette, du hast gedacht, ich mache Pornos, dachte sie. Oder Schlimmeres. Du wärest nicht der Erste, der das denkt. Das Radio war so leise, dass Robin das Klicken der Ampel hören konnte. Der Text eines Songs rauschte am Rand ihrer Wahrnehmung vorbei wie fremde Stimmen in einer Telefonleitung.

»Vlog.«

»Gesundheit.«

»Nein, das ist wie ein Video-Tagebuch. Ich … ›dokumentiere‹ Sachen. Auf YouTube.« Du dokumentierst, wie du diese Dinger umbringst, meinst du? Sie zögerte. Kenway sah gut aus, und sie wollte das zarte Etwas, das zwischen ihnen in der Luft hing, nicht sofort mit der Wahrheit zerstören. »Ach … keine Ahnung, weiter nichts. Nichts Besonderes, echt. Ich spreche nur einfach viel in meine Kamera. Fahre rum, suche Orte auf, mache Dinge.« Fahre rum, suche Orte auf, bringe Monster mit Schwertern und Messern um, opfere Ziegen. Okay, das Letzte eigentlich nicht, aber du weißt schon, was ich meine, ja?

»Cool, cool.« Die Ampel wurde grün, und der Pick-up brummte über die Kreuzung. »Aber ich wollte dir nur sagen, ich finde deinen Iro echt gut.«

Instinktiv strich sie sich mit der Hand über den borstigen Schädel. »Ja?«

»Ja. Ich … ich steh auf diesen Rock-Chick-Look. Glaube ich.« Er drehte sein Fenster ebenfalls nach unten, schob den Ellbogen hinaus und lehnte sich von ihr weg. Dann zuckte er mit den Achseln. »Keine Ahnung … ich wollte es nur sagen, irgendwas sagen. Du siehst gut aus. Steht dir wirklich.«

»… danke.«

»Passt zu deinem Gesicht.«

Robin nahm ihre ganze Neugier zusammen. »Du … du siehst gar nicht aus, als wärst du von hier. Ich kann mich auch gar nicht an dich erinnern. Von früher.« Super Aufreißspruch, Robin. Als ob du jeden in der Stadt kennst.

»Ich bin erst vor ein paar Jahren hergezogen. Ich habe einen Freund besucht und dann entschieden hierzubleiben. Mir gefällt die Stadt. Sie ist ruhig, und ich äh … ich hatte ein paar Sachen, die ich lieber hinter mir lassen wollte. Und diese Stadt ist gut zum Vergessen.« Er sah sie an und wieder auf die Straße. »Also, um Sachen zu vergessen. Nicht die Stadt.«

»Ich weiß, was du meinst.« Robin starrte durch die Windschutzscheibe. »Ich glaube, von diesen Sachen habe ich auch ein paar mitgebracht.«

Du hast einen ganzen Frachter voll davon angeschleppt, Mädchen.

Nachts war Blackfield eine tote Stadt, eine verlassene Siedlung, die in das grausige Rostorange der Natriumdampflampen getaucht war. Sie sahen nur zwei andere Wagen, die beide auf dem Weg nach Hause in Seitenstraßen abbogen. »Weißt du, deine Videos, ich denke, das kann nicht ›nichts‹ sein …« Kenway setzte den Blinker, tick tack tick tack, fuhr auf die Abbiegespur und zog nach links hinüber. »… ich meine, wenn es reicht, um deine Rechnungen zu bezahlen. Oder?«

»Ja, ich schätze, es ist in Ordnung. Besser als ein Tritt in die Eierstöcke.«

»Komm schon. Raus damit, Miss Geheimnisvoll. Was machst du?« Er grinste sie an, zog dabei einen Mundwinkel schief hinauf und ließ weiße Zähne aufblitzen.

Sie fuhren über eine kleine Brücke auf die andere Seite des Kanals, der sich parallel zur Hauptstraße zog, und sie hörte das leise Plätschern von fließendem Wasser. Dann bog Kenway rechts ab und fuhr eine Straße mit idyllischen, zweistöckigen Häusern in einem historischen Geschäftsviertel entlang. Ein streunender Hund trottete durch die Oasen orangefarbenen Lichts und die Dunkelheit, ein Mann mit einer Mission.

»Guckst du oft YouTube-Videos?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Nee, eigentlich nicht. Ich habe nicht mal ein Smartphone. Im Laden habe ich einen Computer, den benutze ich aber nur für die Arbeit. Meinen Laptop in der Wohnung benutzte ich kaum, und wenn, gucke ich darauf Filme oder lese E-Mails. Und Nachrichten.«

Sie blinzelte. »Was ist mit dem Film The Blair Witch Project

»Kann mich dran erinnern, ja. Kam 1999 raus, oder 2000, oder?«

»Ja. Mein Channel ist so ähnlich. Gefakte Reality-Aufnahmen von übernatürlichen Ereignissen in meinem Leben. Im Prinzip gibt es eine ganze Reihe solcher Kanäle – aber irgendwie auch nicht. Nicht genauso. Die meisten beschäftigen sich mit Gespenstern. Spukhäusern. Und Ungeheuern. Extradimensionalen Monstern.«

Als es so aus ihrem Mund floss, klang es superbeknackt. Total daneben, dachte sie. Es hört sich bescheuert an, einfach bescheuert.

»M-hm.« Kenway nickte.

Sie wurden vor einem dunklen Ladenfenster langsamer. Die Scheibe war mit einem Greif in aufbrausendem Rot bemalt, und darunter stand in altenglischer Schrift: Griffin’s Kunst & Schilder. »Das ist mein Atelier. Ich wohne über dem Laden in einem zugigen Apartment. Und ja, ich bin der hungerleidende Künstler aus dem Bilderbuch.«

Sie fuhren weiter. Am Ende des begrünten Mittelstreifens wendete er und fuhr in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.

»Und? Hast du viel zu tun?«, fragte sie.

»Eher nicht. Aber mir gefällt es so. Pro Monat habe ich ein, zwei größere Projekte. Den Rest der Zeit male ich.« Er zog ein Jeansbein hoch und enthüllte ein Stück Metall. Das linke Bein war unten eine Prothese. »Veteranen-Rente«, sagte er und klopfte darauf. Tock, tock. »Dadurch habe ich eine Menge Freizeit.«

»Ich habe mich schon gefragt, ob du nach der Grundausbildung im Einsatz gewesen bist.« Robins Blick fiel auf die Hundemarken am Rückspiegel. Sie nahm eine davon und drehte sie ins Licht. SFC GRIFFIN, KENWAY. BLUTGRUPPE AB. RELIGION KEINE.

»War ich, ja.«

»Darf ich fragen, was passiert ist?«

Er antwortete nicht sofort. Seine Augen klebten an einem Punkt weit vor dem Chevy – nicht auf der Straße, sondern an einem anderen Ort in einer anderen Zeit. Läuft ja super. Verdammt, warum kann ich nicht einfach mal die Klappe halten? »Tut mir leid«, sagte Robin. »Ich sollte nicht …«

»Schon okay. Ich äh … habe nur meine Gedanken geordnet.« Er klappte die Sonnenblende nach unten, fing eine Schachtel Zigaretten auf und zog eine mit dem Mund heraus.

Die zündete er jedoch nicht an, sondern klemmte die Schachtel wieder hinter die Sonnenblende und fuhr, während er das Feuerzeug mit der Hand am Lenkrad hielt. »Ich war Geleitschutz bei einem Konvoi des Provinz-Wiederaufbau-Teams. Das sind diejenigen, die – also, die haben viele – Frauen, äh, also wir haben Soldatinnen in die Dörfer gebracht, wo wir Schulen und so was bauen, weißt du, damit sie mit den afghanischen Frauen und Kindern reden.« Der Wind spielte mit seinem Haar. Seine Schläfen waren rasiert, aber oben war es lang und wehte in der Brise, die durchs Fenster hereinzog.

Langsam hatte sich seine Miene verzogen, als hätte er plötzlich Kopfschmerzen bekommen. »Egal. Ich habe unseren Wagen angehalten, als ich es nicht hätte tun sollen. Krawumm. Ende Gelände.«

»Tut mir leid.« Robin, du bist so unglaublich dämlich.

Kenway zündete die Zigarette an, nahm einen Zug, zuckte mit den Schultern. »Ach, stört es dich?«, fragte er und deutete auf die Zigarette.

Sie lächelte matt. »Ist dein Wagen, Joe Camel.«

»Rauchst du? Willst du eine?«

»Ich versuche grade aufzuhören. Lungenkrebs ist keine gute Markenpflege, und ich bin gerade dabei, meine Marke aufzubauen.«

Ein paar Augenblicke rauschte die Nacht an ihnen vorbei, während sie an lichtlosen Läden, toten Friseurgeschäften, dunklen Einfahrten zwischen klaffenden Ziegelschlündern vorbeifuhren. Sie scheuchten eine Katze auf, die in einen Gulli gestarrt hatte, und das Tier lief davon und sprang in eine Hecke.

»Du stehst da drüben in dem Klettererdorf bei Miguels Laden, oder?«

»Ja, der Platz ist nicht schlecht, mir reicht es.«

Schweigen fiel über sie. Die Stadt löste sich auf, die Gebäude zogen sich in die Dunkelheit zurück, und schließlich fuhren die beiden durch einen schmalen Korridor aus Bäumen. Robin wurde immer lockerer, während sie fuhren. Kenway hatte so etwas Beruhigendes, Lässiges, Bärenhaftes an sich, das sie an Balu den Bären aus dem alten Dschungelbuch-Trickfilm erinnerte. Er schien ganz anders zu ticken als sie; was immer er tat, es ging langsam und träge vonstatten, als hätte er alle Zeit der Welt.

Die Nacht sog seinen Rauch auf. Er fuhr, den Ellbogen aus dem Fenster. Auch die Bäume blieben zurück, der blaue Chevy schoss ins Freie, der Himmel entfaltete sich über ihnen als Kuppel voller Sterne. Graue Wolkenfetzen segelten unter einem vollen Mond nach Westen. Hügel kamen näher, schlossen die Straße in Waschbrettriffeln aus Granit ein, dann zogen sie sich wieder zurück.

STADTGRENZE BLACKFIELD verriet ein einsames grünes Schild. Ein Stück dahinter folgte die Abbiegung, die nach Osten zwischen die Bäume führte. Kenway setzte den Blinker, und der alte Pick-up wurde langsamer.

»Wo fahren wir hin?«

Er sah sie an. »Abkürzung? Ich fahre immer hier lang, wenn ich zu Miguel will.«

»Ach.« Der Pick-up schob sich auf die Underwood Road. »Gehst du gern wandern?« Die Berge um Miguel’s waren von Wanderwegen durchzogen, Pfaden, die durch den Wald nach Rocktown verliefen. Rocktown war ein Platz über einer Steilwand, der mit riesigen Kalksteinfelsen übersät war, der hiesige Treffpunkt für College-Kids, Kletterer von weit her und jeden anderen, der an abgelegener Stelle gern eine Tüte mit Freunden durchzog. Wenn es irgendein Refugium vor den strengen Augen des Gesetzes gab, dann oben auf einer zwanzig Meter hohen, vertikalen Felswand.

»Ich klettere gern.« Er lächelte. Seine Augen hatten das gleiche müde Blau wie der Wagen. »Ja, ich kann sogar mit diesem Fuß klettern, falls du dich gefragt hast. Habe es zwar in letzter Zeit nicht oft gemacht, aber es geht.«

Underwood Road.

Bitte fahr weiter. Sie wollte, dass er bis zum Ende der vierspurigen Straße weiterfuhr, bis dorthin, wo sich die Freeway-Überführung über ihren Köpfen wölbte, wo sich das Subway-Restaurant, der Angelladen, die Tankstelle und die Straße zum Lake Craddock um einen abgeschiedenen Rastplatz in der Wildnis drängten. Sie wollte sich hier jetzt wirklich nicht outen. Noch nicht. Ich bin noch nicht so weit. Ich brauche noch ein paar Tage, um mich vorzubereiten.

Oder es mir selbst auszureden.

Wald schloss den Pick-up ein wie ein zu enger Kragen aus Kiefern und Ulmen, und die Stämme flogen vorbei, ein Bretterzaun aus Säulen und Schatten. Sie starrte hinaus und ließ sich den Spätsommerwind ins Gesicht wehen.

»Als Kind habe ich an dieser Straße gewohnt.«

Kenway nahm einen letzten Zug von der Zigarette und tippte die Asche in den Aschenbecher, ehe er sie nach draußen schnippte. »So?«

Die Bäume rasten auf sie zu, flogen vorbei, wurden vertrauter und vertrauter. Hinter jeder Kurve erwartete sie die Häuser und Wohnwagen, die Erinnerungen, die wie Wasser unter einer Tür hereinfließen. Da war das durchlöcherte Betreten-verboten-Schild, das eine volle Ladung Kaliber .22 abbekommen hatte. Und dort ein blasser Fleck, schäbiges Heathcliff-Orange – der Sessel, den jemand im Wald entsorgt hatte, als sie zwölf gewesen war. Hab ein Mal versucht, mich reinzusetzen. Musste auf die harte Tour lernen, dass Wespen drin wohnen.

Dann waren sie da: Der Wald öffnete sich abermals, und sie sah links den Wohnwagenpark, der mit seiner weißen Nachtbeleuchtung kränklich erhellt war, während in den Wohnwagenfenstern honiggelbe Lampen glühten und Fernseher ein epileptisches blaues Flackern erzeugten. Ein großes Aluminiumschild kündigte CHEVALIER VILLAGE an, oder zumindest schien das da unter einer Schicht Graffitis zu stehen.

Und über der eckigen altenglischen Schrift sah man eine winzige gesprayte Krone.

Plötzlich war sie wieder sechzehn, war wieder dreizehn, war wieder neun. Robin seufzte, setzte sich gegen alle guten Vorsätze auf und versuchte etwas – oder jemanden – zu erkennen. Aber die Nacht war zu dunkel, die Wagen waren zu modern, und die Gärten waren mit Spielzeugen übersät. Alle waren in ihren Heimen und hatten der Dunkelheit den Riegel vorgelegt.

Rechts stand ein Doppelwohnwagen mit handgebauter Veranda und einem nackten hölzernen Spalier, kitschigen Aluminiumvögeln und einem fiesen Wählt-Romney-Plakat am Kanalanschluss. Eine mit Holzfolie beschichtete Schaukel baumelte an einer Kette von einem rostigen Gerüst.

Nebenan, auf der anderen Seite des Rasens, stand wie ein Monolith Nr. 1168.

»Fahr mal langsamer«, platzte es aus Robin heraus. NEIN, BLOSS NICHT, FAHR WEITER!

Der Chevy schaltete einen Gang runter, und die Umgebung verharrte um sie herum. Der Motor protestierte. Aus den Tiefen der Nacht tauchte, dem Rumpf eines sinkenden Schiffes gleich, das viktorianische Hexenhaus auf, in dem sie groß geworden war, das Zuhause ihrer Kindheit.

Das Licht war ausgeschaltet, nur eine Lampe am nahen Strommast legte einen grünlich-blassen Schein über die Front, sodass die schwarzen Fenster eher wie Augen in einem toten Gesicht wirkten.

»Das war unser Haus«, sagte sie wie in einem Traum.

Ein Gefühl der Vertrautheit strahlte von Fensterrahmen und Dach des Hauses aus wie ein nebelhaftes Echo, als sie es aus der Ferne betrachtete. Ihre Erinnerungen waren blass und weit davon entfernt, mit inneren Händen nach ihr zu greifen. Das Haus hatte eine andere Farbe (sie kannte es grün, minzgrün), aber es war ihr Haus. Sie fühlte das raue Holz des Verandageländers unter ihren Fingern, die Worte und Runen, die ihre Mutter tief in die Fensterbänke geritzt und dann übermalt hatte.

»Nettes Häuschen«, sagte Kenway. Ein kleiner Mietlastwagen und ein blauer PKW standen in der Einfahrt, der Wagen wirkte im wässrigen Licht grau wie Holzkohle. Sie kannte beide nicht. »Jetzt wohnt da wohl jemand anderes. Sind wohl gerade erst eingezogen. Oder ziehen aus.«

Irgendetwas zog Robins Blick zurück zum Wohnwagenplatz auf der anderen Seite der Straße, und sie folgte der langen Kieseinfahrt, die sich an der Ostseite des Parks entlangzog, bis zu dem alten Anwesen im Missionsstil auf dem Hügel.

Das Lazenbury-Haus ragte wie die Silhouette eines Grabsteins in den sternenklaren Himmel.

Außer in einem Fenster ganz oben brannte kein Licht. Sie war nie dort im obersten Stock gewesen, aber sie kannte den Rest des Hauses, die blutroten Wände, das Piano, den Vorgarten im japanischen Stil mit dem Fischteich. Den ausgedehnten Obstgarten, wie ein irdisches Eden auf der Rückseite. Sie kannte den Keller mit dem Erdboden und den von Flammen geschwärzten Weinfässern und dem engen Aufzug. In dem Haus war sie praktisch aufgewachsen. Sie erinnerte sich an die Geschichten, die ihr ihre Mutter in ihrer Teenagerzeit erzählt hatte, wie sie die zweijährige kleine Robin aus den Augen verloren und das ganze Haus nach ihr abgesucht hatte, nur um zu entdecken, dass sie hinüber zu Granny Mariloo gegangen war, wo sie Plätzchen und Apfelsaft abstaubte. Robin hatte vage Erinnerungen an ihre Mutter Annie, die entschlossen und barfuß die lange Kieseinfahrt hinaufschritt, um ihre Tochter zu holen, während der Wind am Saum ihres Kleides zupfte.

Das war in den Tagen gewesen, als ihr Vater am schlimmsten drauf gewesen war, als ihre Eltern am heftigsten miteinander gestritten hatten. Vom Geschrei verstört, hatte Robin Trost bei der liebevollen, mütterlichen Marilyn gesucht.

Aber in den obersten Stock hatten sie nie gehen dürfen.

Hatte das Lazenbury-Haus überhaupt einen Dachboden? Sie war nicht sicher.

Hinter der Gardine des Fensters bewegte sich ein Schemen.

»Okay«, sagte sie und erwachte aus ihrem Tagtraum. Kenway nahm es als Aufforderung, den Pick-up wieder in Bewegung zu setzen.

Abermals verschlang sie der Wald, und sie folgten den Scheinwerfern eine lange, gewundene Straße unter einem beklemmenden Laubdach entlang. Wann immer es eine Lücke zwischen den Bäumen gab, flogen im kühlen Zwielicht Farmhäuser vorbei, deren leere graue Weiden mit Stacheldraht und Treibholzpfählen gesäumt waren. Underwood Road endete an einer einsamen T-Kreuzung an einem Birkenhain, durch den das gelbe Licht einer Hütte schien. Kenway bog links ab, ohne zu blinken, und der Chevy knatterte in Richtung Norden. Ein paar Minuten später schwenkten die Scheinwerfer über die Interstate-Überführung, und ein wenig dahinter, im Bogen einer langen, sanften Kurve, lag Miguels Pizzeria.

Eine einzelne Laterne stand am Waschhäuschen Wache. Kenway fuhr in die Kieseinfahrt und weiter über den unebenen Grund. Das Fahrrad hinten hüpfte im Rhythmus der quietschenden Stoßdämpfer.

»Das ist meiner.« Robin zeigte auf den Sanitär-Lieferwagen.

Kenway lachte laut. »Ha! Joel hat das also ernst gemeint. Das Ding ist heftig.« Er musste ihren Blick bemerkt haben, denn er hörte sofort auf zu grinsen. »Oh, sorry. Ich wollte nicht … ich meine, Scheiße. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Sorry.«

Sie winkte ab. »Schon okay. Ich weiß, wie die Karre aussieht.«

»Wenn ich mir die Frage erlauben darf, warum wohnst du in einem alten Lieferwagen?«

Sie öffnete die Tür und wollte aussteigen, doch irgendetwas drückte sie zurück in den Pick-up. Widerwillen? Robin rutschte zum Rand der Sitzbank und blieb dort einfach sitzen. Scheiß drauf, dachte sie und fixierte das Schild vor ihr, eine Karikatur eines italienischen Kochs, der oben auf einer Felswand sitzt. FÜR MIGUELS PIZZA STEIGE ICH AUF BERGE! Ich kann die Bombe auch gleich platzen lassen. Irgendwann ist es sowieso so weit, und ich kann die Sache genauso gut jetzt gegen die Wand fahren, bevor es dann später kompliziert wird.

Anstatt ihm in die Augen zu sehen, als sie sich ihm zuwandte, fixierte sie seine riesige Hand, die das Lenkrad hielt. »Ich habe ihn mit dem Geld vom Konto meiner Mutter gekauft, als ich vor einigen Jahren aus der psychiatrischen Klinik entlassen wurde.«

Kenway nickte langsam. »Ah.«

Sie rang sich ein dankbares Lächeln für ihn ab. »Danke fürs Nachhausebringen. Oh!« Sie griff in ihre Tasche und zog ein dünnes Bündel Banknoten hervor, nahm einen Zwanziger heraus und hielt ihn ihm hin. »Benzingeld. Als Dank.«

Sein Blick fiel auf das Geld, seine Augenbrauen schossen in die Höhe, und er zuckte, als wollte er es nehmen, sagte jedoch: »Nein, das … das ist schon okay, kein Problem.«

»Nein, echt. Nimm es ruhig.«

Er zeigte auf die Anzeige am Armaturenbrett. »Der Tank ist sowieso voll. Ich habe auf dem Weg zur Filmnacht getankt.«

Robin rollte das Geld zusammen und steckte es in die Öffnung des Kassettenspielers, sodass es aussah, als würde das Radio rauchen. »So.« Sie ließ sich aus dem Wagen gleiten, schloss die Tür und ging vor dem Wagen durchs Licht der trüben Scheinwerfer.

Auf der Fahrerseite blieb sie stehen und schlang die Arme um sich. »Gute Fahrt«, sagte sie verlegen. »Und danke noch mal fürs Bringen.«

Er fuhr nicht los. »Du bist echt ein schräger Vogel, Robin.«

Kälte rann in ihren Bauch. Du weißt nicht mal die Hälfte, Mann.

»Ich mag schräge Vögel«, fügte er hinzu.

»Piep, piep«, erwiderte sie und lächelte schwach.

Du bist so eine verdammte Idiotin, Robin Martine.

Sie hielten einen kurzen Wettbewerb im Anstarren ab, Robin hinter ihrem Transporter, Kenway im Pick-up, der im Leerlauf tuckerte.

Sie wollte sich schon verabschieden und in ihren Wagen steigen, als er noch etwas sagte: »Schäm dich nicht wegen dieser Psychiatriegeschichte. Ich habe genug mit den Irrenärzten bei der Armee geredet, dass ich da ein bisschen mitlabern kann.« Er trommelte auf die Fensterkante und fügte hinzu: »Also … ja. Ich habe keine Ahnung, worum es bei dir geht, aber ich werde dich auf jeden Fall deswegen nicht gleich in eine Schublade stecken.«

Robin lächelte. »Das ist schön.«

»Ich weiß auch nicht, wie lange du in der Stadt sein wirst, aber ich bin hier. Wenn du mal eine Nacht in einem richtigen Bett schlafen willst, kannst du gern bei mir vorbeischauen.« Er kreuzte die Finger. »Ohne Hintergedanken, Pfadfinderehrenwort. Weißt du … einfach nur ein Angebot. Es gilt. Ich schlafe dann auf der Couch.«

»Okay.«

Sie packte den Griff der Hintertür ihres Lieferwagens und wollte sie schon öffnen, bevor sie auf die Idee kam, Kenway gute Nacht zu sagen. Als sie sich umdrehte, kurbelte er jedoch bereits das Fenster hoch und legte den Gang ein. Robin stand mit einem Fuß auf der hinteren Stoßstange und schaute zu, wie der Chevy brummend über den knirschenden Kies des Parkplatzes fuhr und die Pizzeria mit den Scheinwerfern streifte. Kenway bremste an der Straße kurz, gab dann Gas und verschwand mit Motorgeheul.

Robin blieb einen Augenblick lang stehen und blickte sich um. Seufzend stieg sie in den Frachtraum des kalten Wagens.

Kalt, leer, still. Plötzlich wirkte ihre mobile Klapperkiste gar nicht mehr so einladend. Robin zog sich aus, schob die Beine in den kalten, leeren Schlafsack und legte sich mit einem Schnaufen hin.

Wieder allein. Im Wagen herrschte Totenstille.

»Mist«, murmelte sie vor sich hin, zog sich bedauernd ihre Beanie über die Augen und wälzte sich auf die andere Seite.

Sie driftete langsam in den Schlaf, als sich Licht gegen ihre Lider drängte und sie wieder an die Oberfläche holte.

Dämmert es schon?, fragte sie sich und rekelte sich. Ich fühle mich, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen. Sie checkte ihr Smartphone und stellte fest, dass es nur anderthalb Stunden gewesen waren. Robin sah auf, blinzelte verwirrt und blickte auf die Regale und die Rückseiten der vorderen Sitze. Das Innere des Wagens war mit limonengrünem Licht überzogen, wie von einer Verkehrsampel, die durch die Rückscheibe hereinscheint.

Das Licht verblasste, als sie sich auf Hände und Knie erhob und nach draußen sah. »Was zum Teufel war das?«, murmelte sie mit der Stirn an der Scheibe.

Draußen war nichts, nur Miguels Pizzeria und der Parkplatz. Eine Laterne schien zwischen den riesigen Eichen am Gebäude hindurch und tauchte den Kies in silbriges Licht. Jenseits davon herrschte die stygische Dunkelheit der Nacht in Georgia, gestört nur vom unaufhörlichen Lärm der Zikaden. Robin hockte reglos auf ihren Knien und hielt nach Bewegungen Ausschau.

Nur das ruhelose Rascheln der Eichenblätter. Licht sammelte sich in den Bäumen auf der anderen Seite des Highways, und ein Wagen fuhr vorbei, trug das Leuchten der hellen Scheinwerfer über die Fahrbahn und verschwand in der Ferne.

Robin langte in eine Aufbewahrungswanne, holte sich ein Kampfmesser heraus und seufzte. »Natürlich muss ich pinkeln. Von Bier muss ich immer pinkeln. Vielen herzlichen Dank, dass ich dann muss, wenn ich es mir gerade in meinem Schlafsack so richtig bequem gemacht habe.«

Sie stieg aus dem Wagen, umklammerte das Messer mit einer Hand, sodass die kalte Flachseite der Klinge an ihrem Handgelenk lag, zog die Stiefel über und stopfte die Schnürbänder unverknotet hinein. Kies knirschte leise unter ihren Sohlen, beinahe unhörbar zwischen den Geräuschen der Nacht, während sie auf das Schalsteingebäude zuging. Mit ihrem Telefon leuchtete sie hin und her. Das blauweiße Licht schwenkte über graue Büsche, graue Bäume, graue Picknicktische, und alles war durchdrungen von dieser unheimlichen Einsamkeit, in der man von jemandem beobachtet zu werden scheint und die ausschließlich auf dunklen Landstraßen herrscht, Orten, wo man Dinge erwartet, denen niemand je begegnen sollte.

Wenn ich bloß nicht die Einzige wäre, die hier draußen heute Nacht campt, dachte sie, als eine Motte gegen ihr Telefon flatterte. Ein bisschen Gesellschaft wäre echt nicht schlecht. Ihr Atem wallte weiß ins Licht. Schätzungsweise zu spät im Jahr.

Das einfache Gebäude ragte vor ihr auf und prangte von Graffitis. Im Dunkeln und nur vom schwachen Licht erhellt, bekamen die Sprüche und Kritzeleien eine düstere Note, wie Krakeleien auf den Wänden einer Gefängniszelle.

»Mist.« Die Tür des Waschraums war verschlossen. Sie versuchte es mit dem Waschraum für Männer, aber auch die Tür war zu.

Vielleicht kann ich mich ja in die Büsche hocken.

Sie starrte in den dunklen Wald. Nee. Wenn mich hier draußen jemand angreift, möchte ich nicht die Jeans um die Knie hängen haben und meinen nackten Hintern in die Welt recken.

Während sie darüber nachdachte, ging sie auf dem Weg hin und her und lauschte der Grillenserenade. Der Lärm drang beharrlich auf sie ein wie eine unendliche Woge von Insekten, die anschwoll und abebbte, anschwoll und abebbte. Sie steckte die Hände in die Taschen und entdeckte etwas, das sie für eine zusammengeknüllte Quittung hielt, das sich jedoch als Zigarettenpackung entpuppte. Die nahm sie heraus und strich die Schachtel glatt. Marlboro Lights. Seufzen. Noch zwei übrig. Sie zog eine heraus und hielt sie ins Licht des Notlichts. Verbogen, zerdrückt, aber noch ganz. Mit der anderen Hand zog sie das Feuerzeug aus der Tasche und schnippte es auf; das gleiche Zippo, mit dem sie Neva Chandler in ol’ Ally-Bammy in Brand gesetzt hatte. Jetzt zündete sie sich ihre Zigarette damit an.

Wink des Schicksals. Sie saugte am Filter und drückte ihn zwischen Zeigefinger und Daumen zusammen, als wollte sie einen Dartpfeil werfen, dann hustete sie ausgiebig. Blauer Rauch hing vor ihrem Gesicht und roch fürchterlich. Sie spuckte aus und knurrte: »Man muss sich immer nur einreden, dass man eines Tages aufhört, dann glaubt man es irgendwann selbst.«

Die Tür zum Waschraum entriegelte sich. K-tunk.

Sie erstarrte im Dunkeln, die Marlboro zwischen den Lippen.

»Ey, lass das lieber«, sagte sie aus dem Mundwinkel und blinzelte. Das Messer ging in die Höhe, glänzend und scharf, und sie nahm Kampfhaltung ein. »Nicht heute Nacht, bitte.«

Niemand kam heraus. Sie drückte die Tür auf und fand dahinter Dunkelheit vor.

»Hallo?« Mit der Messerhand nahm sie noch einen Zug von der Zigarette und schnippte sie in den Raum, wo die Glut zischend in einer Pfütze erlosch. »Wenn sich hier jemand versteckt, sollte er jetzt lieber laut Happy Birthday singen, oder ich schiebe ihm seinen Kopf in den Arsch, bis nur noch die Ohren rausgucken. Yeah … Arsch mit Ohren.«

Doch ehe sie den Lichtschalter an der Tür fand, erwachten die Neonröhren mit einem leisen Blink-ink flackernd zum Leben und brummten.

Bewegungssensor.

Zischend schloss sich die Tür durch den hydraulischen Schließer, und die Wände dämpften die Nachtmusik von draußen zu schwachem Wispern. Der mild-vulgäre Geruch einer öffentlichen Toilette überfiel sie: schmutziges Wischwasser, Ammoniak, der scharfe Eisenduft von altem Schweiß.

Konnte ein Bewegungssensor die Tür entriegeln? Sie betrachtete das Schloss, das eindeutig einen Schlüssel benötigte.

Vielleicht befand sich der Mechanismus auf der Rückseite, wo sie ihn nicht sehen konnte.

Am besten nicht so genau drüber nachdenken. Robin tappte in den hinteren Teil des Raums und hielt das Kampfmesser auf Kopfhöhe. Jeder Schritt und jedes Rascheln wurden von den Wänden verstärkt. Sie durchsuchte den Raum aufmerksam. Vier Duschkabinen, bei drei waren die Vorhänge zugezogen. Fünf Toiletten, alle Türen geschlossen. Sie ging die Reihe entlang und zog die Vorhänge mit dem Messer auf. Nacheinander stieß sie die Toilettentüren auf. Jedes Mal verharrte sie und erwartete einen Angriff, ehe sie zur nächsten weiterging.

Bei der dritten Toilette trat sie die Tür auf und sprang wie eine Irre hinein, wobei sie aus Leibeskräften schrie und mit dem Messer fuchtelte. »AAAAAH

Sie sah nach unten und blickte in eine ekelerregende Toilette.

»Puh.«

Zu ihrer Erleichterung war die letzte Toilette einigermaßen sauber. Sie legte das Messer auf die Abfallbox für Tampons, zog Hose und Unterhose herunter und setzte sich auf den hufeisenförmigen Toilettensitz. Jemand hatte mit Edding in Gesichtshöhe einen Reim auf die Wand gekritzelt. Strulle, strulle, volle Pulle, geht’s daneben, wischst du eben.

Licht schimmerte auf der Messerklinge. Plätscher, Plätscher, lieber Metzler, sei so nett und bleibe weg.

Sie war fertig und wollte sich gerade Papier abreißen, als das Licht erlosch.

»Ah, verdammt.«

Die Dunkelheit war absolut und klatschte ihr wie schwarzes Wasser ins Gesicht.

Ein Augenblick verging. »Hallo?«, rief sie erneut und fühlte sich bescheuert, weil sie mit einem Bewegungssensor redete. Sie drückte im Sitzen die Tür auf und versuchte, ihn erneut auszulösen. Ein paar Sekunden später klackte der Bolzen, als die Tür zuschwang. Sie drückte erneut. Klong. Sie drückte erneut. Klong. Sie drückte erneut. »Komm schon, Mann. Komm schon.«

Kein Klong.

Robin spähte blind in die Dunkelheit und verspürte das überwältigende Gefühl, jemand schaue auf sie herab.

Etwas hält die Tür offen.

Sie langte zu ihrer Jeans, die um die Knöchel hing, wühlte in den Taschen, zog ihr Telefon heraus und schaltete die Lampe an. Dabei fiel das Messer von der Tamponbox und rutschte klirrend in den Vorraum. »Mist, verdammter!«

Was sie sehen konnte: die Kabine, in der sie saß, ein Stück abgerissenes Toilettenpapier in einer Ecke, die Tür, die auf halbem Weg zwischen Rahmen und Wand offenstand. Wahrscheinlich war sie an Rost in den Angeln oder etwas Ähnlichem hängengeblieben. Während der Boden grauer Beton war, hatte man die Wand in Klinikweiß gestrichen. Anderthalb Meter vor ihren Schuhen lag das Messer mit dem Schlossknackerwerkzeug, das darin versteckt war.

Was sie hören konnte: das ferne, klanglose Sägen der Zikaden. Ihren eigenen Atem. Das leise Rascheln des Frühherbstlaubs, das der Wind an die Seite des Gebäudes blies.

»Mist«, knurrte sie erneut, beugte sich vor und griff nach ihrem Messer.

Viel zu weit entfernt. »Bitte, Lampe, geh wieder an.« Sie streckte das Telefon aus und schwenkte das Licht. Schatten sprangen und tollten über die Wand. »Huhu!« Robin hielt das Telefon vor sich, griff zwischen ihren Schenkeln hindurch und putzte sich ab. »Ich kann nichts sehen. Ich muss …«

QUIIIIEEEEETSCH! Ein schrilles Scharren, wie zehntausend Messer, die über eine Tafel gezogen werden, ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Blut und Adrenalin schossen durch ihren Körper, als sie zusammenzuckte und sich die Ohren vor dem metallischen Kreischen zuhielt.

Zugegeben, Schock und Überraschung ließen noch ein paar Tropfen Urin hervorquellen. Sie putzte sich erneut ab, warf das Papier ins Wasser, betätigte die Spülung und erhob sich halb auf die Beine. Die Kloschüssel füllte sich noch mit Wasser, als das Licht anging.

Während Robin sich die Jeans hochzog, betrachtete sie die Tür und stellte fest, dass sie zitterte wie ein Arm, der zu lange ausgestreckt war.

Robin versuchte, nicht in Panik zu geraten, sondern zog sich zu Ende an. Inzwischen flackerte das Licht wild an und aus und verwandelte den Waschraum in ein Daft-Punk-Konzert.

Tja, die Hexen waren eine Sache – zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon seit einigen Jahren hässliche Monstergesichter bekämpft, vertrocknete alte Hexen und pausbäckige Bohemians, die Gegenstände allein mit Willenskraft durch die Gegend werfen, die dein Auto mit Schlangen füllen und sich selbst in wütende Gorgonen verwandeln. An solchen Mist war sie gewöhnt. Aber das hier war anders. Hier war keine Hexe im Raum, hier gab es nichts Körperliches, auf das sie sich fokussieren konnte.

Was immer ihr in diesem unheimlichen Waschraum mitten im Nirgendwo zu schaffen machte, war keine Hexe, und es war für sie unsichtbar.

»Geist?«, fragte sie laut. »Bist du ein Geist?«

Eine verrückte Sekunde lang erwartete sie tatsächlich eine Antwort.

Bisher hatte sie nie mit Geistern zu tun gehabt. Sie war nicht einmal sicher, ob sie existierten. Aber nach den letzten Jahren hielt sie alles für möglich. Sie wusste nicht einmal, ob Heinrich sie verscheißert hatte oder nicht, aber er hatte ihr von noch wilderen Wesen als Hexen erzählt, die draußen im Dunkeln lauerten, Wesen wie der Draugr, der furchtbare Vampir-Ghul der isländischen Sagen, und der Tiyanak, ein manngroßer Fötus, der auf Bäume klettert und Menschen mit Babygeschrei anlockt, bis sie nah genug sind, damit er sie packen und verschlingen kann.

Geister hat er nie erwähnt, allerdings sind die auch nicht abwegiger als menschenfressende Baumbabys, oder?

Ihr Puls beruhigte sich, die Panik verflog. »Es gibt keine Vampire, keine riesigen menschenfressenden Babys und keine Geister.« Robin nahm ihr Telefon. »Kapiert, kapiert, na los, du bist eine böse Hexe.« Sie trat aus der Kabine in den flackernden Irrsinn und leuchtete in die Mitte des Raums.

Mit einem endgültigen Knacken erlosch das hektische Flackern der Neonröhren, und abermals herrschte Düsternis.

Sie duckte sich. »Verdammt!«

Das Telefon ließ Chromteile und Porzellanbecken glänzen. Richtig, sagte ihre innere Stimme, als sie kniete und das Kampfmesser aufhob. Gibt es nicht. Doch vor einem halben Jahrzehnt hast du auch nicht an Hexen geglaubt, nicht?

Blink-ink! Der Bewegungssensor tat sein Werk und schaltete das Licht wieder an; nur zwei Röhren blieben dunkel.

»Also gut, ich habe das Spiel satt. Schieb dir deine Lampen in den Arsch, Zuul. Ich bin nicht dein Schlüsselmeister.« Sie wusch sich die Hände (flüchtig, sie wurden kaum nass) und suchte nach einem Papierhandtuch, doch es gab nur einen Heißlufttrockner. Da sie keine Lust hatte, sich heiße Scheißluft über die Hände blasen zu lassen, riss Robin die Tür auf und trat nach draußen.

Der Insektengesang schlug wie eine verwirrende Lärmwelle über ihr zusammen. Im Waschraum erlosch das automatische Licht mit einem Klicken.

Sie wischte sich die Hände an der Kleidung trocken und marschierte über den Parkplatz zurück, in der einen Hand das Telefon, in der anderen das Messer. Das Licht der Lampe hinter den Bäumen strahlte wie durch ein Kaleidoskop auf ihr Gesicht. »Verrostete Scheiß-Türangeln, das war’s«, sagte sie im Gehen. »Altmodische automatische Lampen, die nicht richtig funktionieren. Aber dafür bin ich jetzt hellwach, das steht fest. Jetzt brauche ich ewig, um wieder einzuschlafen! Besten Dank auch, verfluchtes elektronisches Stück Scheiße!«

Hinter ihr ging das automatische Licht mit einem Klicken wieder an, hüllte ihre Unterschenkel in grelles Weiß und legte den Boden vor ihr in Schatten, sodass sie über ihre eigenen Füße stolperte. Robin drehte sich um, ging rückwärts und erwartete, dass der hydraulische Schließer die Tür zudrückte und seinen Sensor ebenfalls auslöste, doch bei dem Anblick, der sie erwartete, gefror ihr das Blut zu arktischem Eis. Ihre Hände wurden taub.

Der Rote Lord stand im Waschraum der Frauen.

Durch die Tür sah Robin, wie das automatische Licht hinter ihm ausging, und die monströse Silhouette verwandelte sich in ein blindes schwarzes Rechteck.

Helle grüne Lampen erschienen in der Türöffnung, als er die Augen öffnete, zwei milchige Eisenbahnsignale im Dunkeln. Der zottelige Körper füllte den Türrahmen von einer Seite zur anderen aus, und er bückte sich unter dem Sturz hindurch, ehe er sich zu ganzer Größe aufrichtete. Und er war riesig, eine aufgeblasene Vogelscheuche, die nur aus Haar und Sehnen und Knochen bestand.

Die beiden verharrten auf dem Parkplatz der Pizzeria und starrten sich an.

»Du bist nicht echt«, sagte sie.

Die grünen Lampenaugen sahen sie teilnahmslos an.

»Ich weiß, was du bist.« Beklommenes Selbstvertrauen arbeitete sich in ihre Stimme vor. »Du bist eine Art bleibende Halluzination, die mir der König von Alabama auferlegt hat. Ich habe eigentlich nicht genau verstanden, was ihre Gabe war. Vermutlich Illusion. Und genau das ist hier los.« Sie schnaubte. »Ich weiß nicht, warum ich nicht früher daran gedacht habe. Ich meine, komm schon, das ist der Deal, nicht? Vielleicht hat Neva in meinem Kopf herumgewurstelt, als ich in ihrem Wohnzimmer war, meine Erinnerungen an die nächtlichen Schrecken und Albträume aus meiner Kindheit entdeckt und sie benutzt, um mir vor ihrem Tod den schlimmsten Bullshit anzuhexen.«

Das Wesen stand da und blinzelte langsam.

Sie beruhigte und entspannte sich, zuckte höhnisch mit den Schultern und ging weiter rückwärts. »Ich brauche nur den Richtigen zu finden, vielleicht einen Houngan, der ein bisschen Hoo-doo und die angehexte Illusion vertreiben kann, dann passt alles wieder. Au revoir, Spinner. Es war schön, dich gekannt zu …«

Die Halluzination beugte sich vor, wandte den Blick nicht von ihr ab und gab ein feuchtes Knurren von sich wie ein absaufender Motor.

Grrrrarararuhuhuh.

Sie rannte los.

Schon nach den ersten Schritten rutschte sie aus den unverschnürten Boots und ließ sie hinter sich zurück. Der Kies bohrte sich ihr in die Sohlen, während sie zum Conlin-Sanitär-Wagen lief. Sie riss die Tür auf, sprang in den Laderaum mit dem Schlafsack und den Gefäßen mit Krimskrams und zog die Tür krachend hinter sich zu.

»Halluzinationen geben keine Laute von sich«, keuchte Robin. Das hintere Fenster beschlug, während sie die Tür verriegelte. »Oder?« Ihre Stimme bebte. »Ich habe keine Ahnung, was zum Teufel das für ein Ding war, aber Illusionsmagie war das nicht.«

Sie kniete hinten im Wagen, umklammerte die Glock, die mit einem ganzen Magazin Hohlspitzgeschossen geladen war. Den Blick auf das hintere Fenster gerichtet, hielt sie Ausschau nach Bewegungen.

Starrte. Wartete. »Wo bist du hin, Mistkerl?«

Sie nahm ihren Mut zusammen, bekreuzigte sich mit der Glock – Brüste, Eierstöcke, Brieftasche und Armbanduhr – und drückte die Tür wieder auf. Die Nachtluft rauschte herein. Sie streckte die Waffe aus, legte den Finger auf den Abzug und ließ den Lauf über den Parkplatz wandern.

Nichts.

Das Ding war weg.