20

Das Stethoskop auf Waynes Rücken war kalt. Eine Hand in einem Latexhandschuh lag auf seinen Rippen, als er atmete, ein, aus, ein, aus. »Tu mir den Gefallen und atme richtig tief ein«, sagte die Ärztin. Die Morgensonne schien durchs Fenster herein und hüllte Leon in ihre goldenen Strahlen. Er stand am Ende des Betts, hatte die Arme herrisch verschränkt, und seine Augen waren rot und klein.

Wayne füllte die Lunge mit der süßlich nach Minze riechenden Krankenhausluft und atmete langsam aus.

»Hm. Sehr seltsam«, sagte die Ärztin.

»Was denn?«, fragte Leon.

»Also …« Die Ärztin nahm einen Lolli aus der Kitteltasche. Sie war eine große Frau mit klugen Fuchsaugen und haselnussbrauner Haut. Während sie sprach, unterstrich sie die Worte mit dem Lutscher. Auf ihrem Namensschild stand DR. MARISSA BAKER. »Wir haben Ihrem Sohn gestern Abend eine Dosis Gegenserum verabreicht, als er bei uns eintraf, aber ich muss sagen, ich habe noch nie gesehen, dass sich jemand so schnell von einem Schlangenbiss erholt hat.«

Sie reichte den Lutscher Wayne, dann hob sie das linke Bein vorsichtig aufs Bett. »Die Schwellung ist unglaublich schnell zurückgegangen.« Den Verband hatte man für die Untersuchung abgenommen. »Die Verfärbung ist nur noch schwach, und ich kann keine Nekrose oder Infektion in oder um die Wunden feststellen. Keine Ahnung, was diese Mrs. Weaver darauf geschmiert hat, ehe sie dich hergebracht hat, aber es muss eine wahre Wundersalbe gewesen sein.«

Wayne wickelte den Vanillelutscher aus und steckte ihn in den Mund.

»Bislang habe ich nicht viel von diesem homöopathischen Hokuspokus gehalten«, sagte Marissa und nahm ein Klemmbrett sowie einen Kugelschreiber. »Aber angesichts der Wirkung bei Ihrem Sohn, Mr. Parkin, sollte ich meine Einstellung vielleicht mal überdenken.«

»Möglicherweise gehört sie zu diesen verrückten religiösen Schlangenanfassern, die es hier in den Wäldern geben soll.«

Marissa schnaubte.

Im Krankenhaus hatten sie niemandem von Waynes Abwesenheit erzählt. Soweit es die Schwestern der Station anging, war Leon eingeschlafen, und sein Sohn war einfach auf den Parkplatz gegangen, um frische Luft zu schnappen. Das erklärte Waynes schmutzige Füße, und weil Marissa auch nicht zu vermuten schien, dass irgendetwas passiert sein könnte, behelligten sie die Ärztin auch nicht damit. Was ihm wiederum entgegenkam, denn er wollte diese Geschichte nicht noch einmal erzählen müssen.

»Er wird also wieder ganz gesund?«, fragte Leon.

Marissa nickte. »Oh, ja«, sagte sie zu dem Klemmbrett und schrieb. »Ihm geht es wirklich ausgesprochen gut – genau besehen sogar fantastisch. Ein oder zwei Wochen sollte er sich schonen und vielleicht den Fuß so wenig belasten wie möglich, und dann ist er wieder der Alte. Und das ist eine vorsichtige Schätzung. Ehrlich, er sollte wohl noch eine Nacht zur Beobachtung hierbleiben, aber eigentlich können wir hier nicht mehr für ihn tun, als Sie zu Hause.« Sie blinzelte. »Und hier haben wir keine Xbox.«

»Alles klar.«

»Hast du noch Schmerzen?«, fragte die Ärztin und tastete vorsichtig die Haut um den Biss ab. »Auf einer Skala von eins bis zehn, wenn zehn der schlimmste Schmerz wäre, den du je hattest?«

»Eins?«, sagte Wayne. »Ich meine, es fühlt sich nur noch an wie ein blauer Fleck.«

Damit schien sie zufrieden zu sein. »Wie schon gesagt, er kann noch eine Nacht hierbleiben, wenn Sie sich Sorgen machen, aber wenn Sie ihn mit nach Hause nehmen wollen, habe ich nichts dagegen. Ich würde sagen, er hat das Schlimmste hinter sich. Für gewöhnlich ist der Biss einer Mokassinschlange für einen Erwachsenen kein Problem, meistens ist sogar nicht einmal ein Gegenserum notwendig – aber bei einem Kind seiner Größe kann es ernst werden. Ihr Sohn hat außerdem allergisch reagiert, und das hat den anaphylaktischen Schock und die Bewusstlosigkeit ausgelöst. Aber Mrs. Weaver hat das in den Griff bekommen, wie auch immer sie das angestellt hat. Sie hat Ihrem Sohn das Leben gerettet.«

Leon nahm sein Jackett. »Meine Versicherung rotiert wahrscheinlich schon. Also gehen wir mal lieber nach Hause. Falls irgendetwas ist, melden wir uns oder kommen noch einmal vorbei.«

Dr. Marissa Baker zog den Handschuh aus und warf ihn in den Mülleimer. »Ich lasse Ihnen einen Rollstuhl bringen … und dann kündige ich und lasse mich zur Wunderheilerin ausbilden.«

Als sich die Fahrstuhltür zuschob, zupfte Wayne seinen Vater am Ärmel. Leon sah ihn verwirrt an.

»Du weißt, dass ich nicht lüge, ja?« Wayne blickte ihn von unten aus dem Rollstuhl an. »Wegen der Tür in der Wand … und dem Monster. Joel war dabei. Er hat alles gesehen.«

Er hatte frische Klamotten aus der Tasche angezogen, die er gestern Nacht unter dem Stuhl gefunden hatte. Wayne fragte sich, ob er das hübsche Mädchen mit dem rasierten Kopf wiedersehen würde, damit er ihr die Kleidung zurückgeben konnte. Irgendwie hatte es sich seltsam angefühlt, sie zu tragen … trotzdem hatte es ihm gefallen, weil die Kleidung nach ihr gerochen hatte.

Leon lehnte sich an die Wand. Das Licht im Fahrstuhl war trübe und gab seiner sonst gesunden braunen Hautfarbe einen grünlichen Ton. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Wayne. Du hast in dieser Hinsicht nicht gerade die beste Bilanz vorzuweisen.«

Wayne saugte bedrückt an seiner Lippe.

»Ich dachte, wir würden … ich dachte, das wäre hier ein Neuanfang, Wayne. Für uns beide. Ich dachte, wir hätten diese Geschichten hinter uns. Ich bin mit dir aufs Land gezogen, weg von den Möchtegern-Gangster-Kids in Chicago und … und du hast mich von Johnny Walker und Jack Daniel’s weggebracht.«

»Ich sage die Wahrheit.«

Leon sah ihm ins Gesicht. »Ja.«

Er griff in Waynes T-Shirt-Kragen und zog den Ring heraus. Er lag auf seinen Fingern und glitzerte trübe im Fahrstuhllicht. »Ich wusste gar nicht, dass du ihn hast. Wie lange läufst du schon damit herum? Habe ich dir das überhaupt erlaubt?«

»Ich habe ihn seit dem Tag, als du dich mit Tante Marcelina darüber unterhalten hast, nach Georgia zu ziehen. In der Nacht damals habe ich dich ins Bett gezerrt, nachdem du das Baseballspiel geguckt und die Flasche geleert hast, die in dem Korb versteckt war, den Mom oben aufs Regal gestellt hatte.« Wayne machte keine Anstalten, den Ring wegzunehmen oder sich auch nur zurückzulehnen, sondern er starrte seinen Vater lediglich an.

Adrenalin jagte durch seine Adern. Stärker sein. Anpassen und überwinden. »Jedenfalls habe ich ihn in deinem Becherhalter im Wagen gefunden und mitgenommen. Dann habe ich ihn an meine Kette gemacht. Ich habe das Gefühl gehabt, dass er mir zusteht.«

»Dass er dir zusteht …«, sagte Leon, schob den Ring langsam und vorsichtig zurück ins T-Shirt seines Sohnes und schüttelte ungläubig den Kopf.

Du hast ja nicht einmal bemerkt, dass ich ihn habe, und das sagt ja auch eine Menge.

Wayne schoss der bizarre Gedanke durch den Kopf, dass er eine Ohrfeige absahnen würde, was bislang noch nie passiert war. Leon hatte vielleicht ein Alkoholproblem, doch selbst in seinen schlimmsten Augenblicken hatte er seinen Sohn nie geschlagen. Er hatte wohl ein paar Löcher in die Wand gehauen, doch weiter war seine Wut nie gegangen.

Leon zuckte zusammen und hielt sich die Brust, als hätte er einen Herzanfall. Er lehnte sich an die Wand und drückte den Knopf fürs Erdgeschoss.

»… alles in Ordnung?«

»Ja.« Er holte tief Luft und seufzte langsam. »Ich habe mir einen Muskel gezerrt, als ich dem Kerl einen auf die Glocke gehauen habe.«

»Er ist echt okay«, sagte Wayne.

»Vielleicht.«

»Hast du zum ersten Mal jemanden geschlagen?«

Leon setzte ein schiefes Grinsen auf. »Hey, ja.«

»Du hast scheißhart zugehauen.«

»Achte auf deine Ausdrucksweise, Mann«, sagte Leon und stellte sich hinter den Rollstuhl, als die Fahrstuhltür aufging.

Er schob Wayne in die Eingangshalle zu dem Wartebereich, wo er ihn vor einem Fernseher abstellte, während er zum Empfang ging, um die Entlassung zu regeln. Im Fernsehen lief eine lokale Sportsendung, mit der Wayne nichts anfangen konnte. Er nutzte die Gelegenheit und putzte seine Brille, wobei er sich wie ein riesen Nerd fühlte. Glücklicherweise war es noch früh am Morgen, daher war in der Lobby nicht viel Betrieb, und außer dem Gluckern des Aquariums herrschte Stille. Im Wartebereich saßen ein Mann und zwei Frauen, die Zeitschriften lasen.

Leon fragte ungläubig: »Was meinen Sie mit ›ist schon erledigt‹?«

Wayne drehte den Rollstuhl herum und sah hinüber. Sein Vater kratzte sich verwirrt den Kopf und betrachtete ein Klemmbrett, das vor ihm lag. »Karen?«, fragte er und drückte den Zeigefinger auf das Papier. »Diese alte Lady?«

Die Empfangsdame lächelte. »Ja, Sir. Sie hat den gesamten Betrag beglichen.«

»Nur die Zuzahlung, oder?« Murmelnd fügte er hinzu: »Gibt es bei so etwas überhaupt eine Zuzahlung?«

»Nein, Sir, Mrs. Weaver hat den gesamten Betrag bezahlt. Sie hat den Jungen eingeliefert, und deshalb hat sie auch die Kosten seiner Behandlung übernommen. Ihre Versicherung wurde nicht benötigt.«

Leon fuhr sich mit der Hand über den Mund und rieb sich den Bart. Entweder dachte er nach oder er versuchte, das Ganze zu kapieren. »Wie … wie hoch war die Rechnung?« Er blätterte die Papiere durch und zuckte plötzlich zusammen, als hätte man auf ihn geschossen. »Dreißigtausend Dollar?« Seine Augen wurden zu Bowlingkugeln. »Wie bitte schön sind da dreißigtausend Dollar zusammengekommen? Sie haben ihm doch nur eine Spritze gegeben und eine Nacht hierbehalten!«

Die Empfangsdame half ihm beim Sichten der Rechnung. »Hier … Das CroFab-Antiserum kostet zwanzigtausend pro Dosis, dazu die medizinische Behandlung, der Raum, Bearbeitung und so weiter – sehen Sie?«

»Ich sehe es, aber ich kann es nicht glauben.«

»Na ja, es sind ja nicht ganz dreißigtausend.«

»Also fast. Zwanzigtausend und ein bisschen Kleingeld.« Leon seufzte und unterschrieb, wo Unterschriften notwendig waren, doch dabei schüttelte er den Kopf. »Ziemlich viel Kleingeld. Wie kann eine Fahrt im Krankenwagen mehrere Tausend Dollar kosten?«

Die Empfangsdame lächelte. »Bei solchen Summen kann einem schon schwindlig werden, aber sehen Sie es mal von dieser Seite, Mr. Parkin: Dank Ihrer neuen Freundin belastet es weder Sie noch Ihre Brieftasche.« Sie nahm das Klemmbrett zurück und tippte die Daten ein. »Mir scheint, da müssen Sie die größte Dankeskarte Ihres Lebens schreiben.«

Leon schwieg, als sie die Stadt im morgendlichen Verkehrschaos durchquerten. Man konnte es zwar kaum mit Chicago vergleichen, aber hier fuhren alle wie in einer Beerdigungsprozession. Er kaute auf seiner Unterlippe und war so sehr in Gedanken versunken, dass der gletscherartige Verkehrsfluss nicht einmal das übliche Geschimpfe auslöste. Wayne war froh. Im Augenblick genoss er den Frieden und die Stille im Auto, nachdem er den ganzen Morgen im Krankenhaus gesessen hatte.

»Diese Weaver hat gesagt, sie wohnt in dem großen Haus gegenüber«, sagte Leon. »Ich denke, wir sollten rübergehen und uns bei ihr bedanken. Vielleicht laden wir sie zum Abendessen ein. Was meinst du?«

»Klar.« Wayne fummelte an der Krücke in seinem Schoß herum.

»Die Ärztin sagte, in ungefähr einer Woche bist du wieder der Alte. Du wirst die Krücke nicht lange brauchen.«

Sie fuhren weiter, und keiner sprach viel. Der Subaru glitt über den Highway 9 in die Hügel, als Wayne zufällig seinen Vater ansah und eine Träne auf seiner Wange entdeckte.

Leon wischte sie weg und bemerkte, dass er erwischt worden war. »Gestern dachte ich, ich würde dich verlieren, Mann.«

Wayne lächelte. »Anpassen und überwinden.«

»Wo hast du das denn her?«

»Von dem Typen aus dem Comicladen in der Stadt.« Er erinnerte sich an das Job-Angebot von Fisher. »Oh! Er stellt mich ein, damit ich ihm nach der Schule in seinem Comicladen helfe!«

Leon grinste. »Cool. Er setzt dich an die Kasse, wie?«

»Ja, nehme ich an. Und ich helfe ihm bei den Vorbereitungen für die Filmnächte.«

»Gut, mein Sohn hat also schon Arbeit gefunden.«

»Ich kann nachmittags direkt von der Schule hingehen. Es ist nur ein paar Blocks entfernt.«

»Solange du nicht wieder in den Wald gehst.«

»Nee.« Wayne zog das Wort in die Länge: »Neeeeeeee. Neeeeee.« Leon stimmte ein, und zusammen sangen sie im Chor »Neee.«

Als das viktorianische Haus in Sicht kam, schlug Leon aufs Lenkrad. Der Mietwagen stand immer noch in der Einfahrt. »Mist! Bei dem Drama gestern habe ich völlig vergessen, den Laster zurückzubringen.« Er stellte den Subaru daneben ab. »Hoffentlich haben die samstags geöffnet. Meinst du, du kannst allein im Haus bleiben, während ich mich darum kümmere?«

»Klar.«

Wayne stieg aus, stützte sich auf die Krücke und schob die Wagentür mit dem Schlangenbissfuß zu. Er hatte schon die Treppe erreicht, als ihm einfiel, dass er in das Haus zurückkehren wollte, wo er den eulenköpfigen Sasquatch gesehen hatte, und plötzlich legte sich beklemmende Angst über ihn wie eine kalte, nasse Decke.

Leon machte die Haustür auf und sah über die Schulter. »Hey, alles gut?«

Halb erwartete Wayne, das Monster hinter seinem Vater im Flur stehen zu sehen. Die Stufen vor ihm fühlten sich an wie Magnete, die seine Schuhsohlen festhielten.

»Ich habe dir doch von dem Monster erzählt, das ich im Haus gesehen habe, als ich durch die Tür in der Wand gegangen bin, ja?«

Verärgerte Sorge blitzte in Leons Gesicht auf. »Ja. Verstehe, Mann.« Er kam die Treppe runter und gab seinem Sohn die Schlüssel. »Ich sag dir was. Du nimmst die Schlüssel, und jetzt bist du mein Fluchtfahrer. Ich checke das Haus, und wenn ich rausgerannt komme, startest du den Wagen.«

Wayne fühlte sich ein bisschen verarscht, nahm die Schlüssel aber. Leon holte sich den Montierhebel aus dem Subaru und schlich ins Haus.

Draußen auf dem weitläufigen Rasen stand Wayne und suchte in den Fenstern nach Schemen, glühenden Augen, Bewegungen an den Gardinen und sonstigen Hinweisen darauf, dass im Haus außer seinem Vater noch etwas lauerte. Das Haus hatte jedenfalls wieder das Blau einer Regenwolke, was seine Angst ein wenig minderte.

Hinter sich hörte er schlurfende Schritte. Er zuckte zusammen.

Pete und Amanda kamen vom Wohnwagenpark über die Straße geschlendert, im Schlepptau die kleine Katie Fryhover, die einen Plastikdrachen mit einem Bild von Sully aus dem Film Die Monster AG trug.

»Hey, Mann«, sagte Pete. »Schon aus dem Krankenhaus raus?«

Amanda lief auf ihn zu, schlang wortlos die Arme um Wayne und drückte sein Gesicht auf den kalten Kunststoff ihrer Regenjacke. Sie trug ein Parfüm, das ihn an Pfannkuchen erinnerte.

»Wir haben uns höllische Sorgen gemacht, Batman«, sagte Pete mit den Händen in den Taschen. »Ich dachte, du würdest noch wenigstens eine Woche im Bett liegen.«

»Die Ärztin hat gesagt, mir geht es schon wieder richtig gut. Der Hauptgrund, warum ich ins Krankenhaus musste, war eine allergische Reaktion.«

Pete starrte auf seine Füße. »Super. Ich meine, nicht die allergische Reaktion. Sondern, dass es nicht so schlimm war. Ich meine, dann kam es eigentlich gar nicht vom Gift selbst?«

»Ich weiß, was du meinst. Hey …«, sagte Wayne und zeigte mit der Krücke auf ihn. »Bevor ich ohnmächtig wurde, habe ich noch gesehen, was du gemacht hast. Wie du die Schlange mit dem Hammer bearbeitet hast.« Das Lächeln in seinem Gesicht täuschte über das Brennen in seiner Kehle hinweg. »Mann, du hast Nerven.« Er lachte heiser. »Vielen Dank. Dafür, dass du die Schlange plattgemacht hast.«

Pete sah auf, und ein Mundwinkel ging zu einem halben Lächeln in die Höhe. »Ich wünschte, ich wäre da gewesen, bevor sie dich gebissen hat.«

Wayne breitete die Arme aus und verlagerte das Gewicht auf sein gesundes Bein. »Hey«, sagte er und hielt die Krücke hoch. »Mir geht’s bestens. Einfach bestens, ja? Alles klar.« Er klemmte die Krücke unter seinen Arm und lehnte sich darauf. »Ich muss es nur ein bisschen locker angehen lassen und mich ungefähr eine Woche ein bisschen schonen.«

»Klingt so, als hättest du Zeit, dass wir es deiner PlayStation besorgen.«

»Ha, ha, du hast ›besorgen‹ gesagt.«

Amanda tupfte sich sorgfältig die Tränen aus den Wimpern und versuchte, ihre Wimperntusche nicht zu verschmieren. »Ihr seid echt komisch, Mann.«

»Was hast du übrigens mit dem Hammer gemacht?«

»Ich habe ihn mit nach Hause genommen.« Pete deutete mit dem Daumen auf den Wohnwagenpark. »Als meine Mom das Blut gesehen hat, wollte sie das Ding nicht im Haus haben, aber als sie gehört hat, was ich damit gemacht habe, durfte ich damit anstellen, was ich wollte, ich musste nur alles mit Bleiche abschrubben.« Er lachte. »Im ersten Moment hat sie gedacht, ich hätte jemanden damit verprügelt. Es gab ein bisschen Ärger, weil ich wieder beim Vergnügungspark war, aber …«

Die Tür des viktorianischen Hauses fiel zu, und Leon kam zu ihnen. Er telefonierte. »Und ich wollte wissen, ob Sie mich von der Rückgabestation nach Hause fahren können«, sagte er. »Gegen Benzingeld. Ja, ja, der an der Quincy. Okay, danke.«

Leon legte auf und steckte das Handy in die Tasche. »Ich habe alle Zimmer im Hause überprüft, die Kuppel inklusive. Eins-eins-sechs-acht ist offiziell monsterfrei«, sagte er und nahm seine Schlüssel von Wayne entgegen. Der Montierhebel baumelte neben seinem Bein. »Hey, Leute. Alles klar?«

Pete zeigte auf den Montierhebel. »Wofür ist der denn gut?«

Leon hielt ihn hoch und betrachtete ihn, als sei er auf magische Weise in seiner Hand erschienen. »Oh, das? Ich überlasse es Meister Wayne, es euch zu erzählen. Denn ich habe noch etwas zu erledigen. Bin bald zurück. Ihr könnt es euch ja im Haus bequem machen oder so. Ich bringe Pizza mit.« Er legte den Montierhebel in seinen Wagen und stieg in den Mietlaster. Nachdem er den Motor angelassen hatte, ließ er das Fenster runter und zeigte auf die Kinder. »Und mit ›oder so‹ meine ich nicht, dass ihr in den Wald gehen und euch wieder von einer Schlange beißen lassen sollt.«

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, sagte Pete und salutierte. »Bruce Wayne ist sicher in unseren Händen.«

»Genau das habe ich befürchtet. Stellt keinen Unfug an.« Leon grüßte und fuhr den sperrigen Laster rückwärts aus der Einfahrt. Nachdem er das Getriebe ein wenig malträtiert hatte, erwischte er den ersten Gang und juckelte die Straße entlang außer Sicht.

Katie Fryhover sah aus wie ein Windsurfer, als sie versuchte, den Drachen in ihrer Hand zu kontrollieren. »Du bist von eine Schnange gebeißt worden?«

»Ich passe auf sie auf, bis ihre Großmutter zu Hause ist«, sagte Amanda. »Ist es okay, wenn sie mitkommt? Sie ist lieb und echt leise. Sie stört überhaupt nicht.«

»Ja, klar«, sagte Wayne, trotzdem führte er sie nicht ins Haus. Stattdessen blieb er auf dem Rasen sehen, rieb abwesend die Aluminiumstange seiner Krücke und starrte Katie an, die mit dem Wind kämpfte.

»Also …« Pete starrte auf Waynes Schuhe und sah ihm dann in die Augen. »Was war das jetzt mit dem Montierwerkzeug? Dein Dad hat was von einem Monster gesagt?«

»Ihr lacht mich bestimmt aus«, sagte Wayne, humpelte hinüber zur Veranda und setzte sich. Der Oktoberwind wehte kühl, und er fror am linken Fuß (der nur in einen festen Elastikverband gewickelt war), aber diese Kälte war nichts gegen das Gefühl, das ihn beschlich, als er die weißen Gardinen des Hauses betrachtete.

Die anderen folgten ihm und setzten sich zu ihm auf die Treppe. Katie verstaute ihren Drachen in der Ecke zwischen Veranda und Treppe hinter einem Busch.

»Ich nicht.« Amanda stand noch auf den Trittsteinen vor der Treppe und versuchte auf der Kante eines Steins das Gleichgewicht zu halten.

»Ich auch nicht«, sagte Pete.

»Ich au nich«, sagte Katie.

Wayne drehte sich zur Seite und lehnte sich ans Geländer. Er wollte nicht mit dem Rücken zum Haus sitzen. »Ich glaube, der Ring meiner Mom ist vielleicht magisch«, sagte er und nahm den Ehering vom Hals.

»Magisch?«, schrie Katie. Ihr stand der Mund offen, und sie machte großen Augen. »Wie bei einem Sauberer?«

»Nicht genau wie bei einem Zauberer. Keine Ahnung. Es ging los, als ich im Krankenhaus aufgewacht bin.« Er begann, die Geschichte noch einmal zu erzählen, von der Rettung in der Garage bis hin zu dem Fall durch das Gemälde in Kenway Griffins Küche. Er erzählte ihnen auch von der seltsamen hohen Tür in der Wand vom Speisesaal, der Hotelzimmertür zwei Stockwerke über dem Boden.

Drei-null-sechs.

»Alter, voll irre«, sagte Pete. »Ich meine, das ist irre, was du gesagt hast, nicht du bist irre, also, du weißt schon, was du erzählt hast, ist irre.«

Wayne nickte und betrachtete den Ring in seiner Hand. »Ich weiß, was du meinst. Es klingt echt irre.«

»Da war ein Sasquatch? In eurem Haus?«

»Ich glaube, es war kein richtiger Sasquatch.« Die Krücke lehnte an Waynes Schulter und fühlte sich an wie ein Gewehr. Er hob sie hoch und spielte, es sei eine Waffe, drückte die Armstütze an die Schulter wie einen Schaft und zielte über die Stange. »Aber es sah so aus. Nur irgendwie nicht wie ein Gorilla. Es hatte einen Riesenkopf wie eine Schreieule und glühende grüne Augen, und die Finger erinnerten an Freddy Krüger.«

»Wow«, sagte Amanda. Sie hüpfte von Stein zu Stein und zählte leise vor sich hin. »Kein Wunder, dass du nicht in das Haus gehen willst. Würde ich auch nicht.«

Pete stand auf und holte Leon Parkins Montierhebel aus dem Subaru, dann ging er die Treppe hinauf und öffnete die Haustür. »Bringen wir es hinter uns«, sagte er mit gespielter Verzweiflung.

»Hat Waynes Vater nicht schon gesagt, das Haus ist sicher?«

»Er ist aber nicht mit dem Ring reingegangen.« Pete schwang den Montierhebel wie ein Variétékünstler seinen Spazierstock.

»Guter Einwand.«

Wayne hängte sich die Kette wieder um und steckte den Ring ins T-Shirt, war jedoch immer noch nicht bereit. »Ist das wirklich eine gute Idee?«

Pete verzog das Gesicht und ging ins Haus. »Du kannst doch nicht ewig auf der Veranda sitzen. Dein Dad lässt dich nicht hier draußen schlafen.« Er lehnte sich zurück und spähte heraus. »Kommt ihr oder nicht?«

Wayne seufzte und folgte ihm hinein.

Das Haus war still und dunkel, aber wenigstens waren die Wände wieder blau. Wayne humpelte in die Küche und vergewisserte sich, dass ihr runder Holztisch wieder da stand, und nicht der nachgemachte Diner-Tisch mit Metalleinfassung. Die Küche war auch nicht ausgebrannt.

»Pst«, sagte er und hielt die Hände in die Höhe. Der Boden knarrte und ächzte, während sie von einem Zimmer zum nächsten gingen. »Bleibt mal kurz stehen und lauscht.«

Alle erstarrten, auch die kleine Katie Fryhover.

Klick. Klick. Klick. Klick. Die Uhr an der Küchenwand tickte. Wind strich draußen über die Hauswand und rauschte wie eine Welle. Ein paar Vögel sangen in der Ferne und waren nur gedämpft zu hören.

Katie zog die Nase hoch.

Wayne nahm den Ring heraus und schaute hindurch. Zu seiner Erleichterung blieben die Küche und der Tisch wie zuvor.

»Ich weiß nicht …«

Hhhhrrrrrrooooo! Ein geisterhaftes Heulen kam aus dem Wohnzimmer und ließ es Wayne kalt den Rücken runterlaufen.

Zwei Herzschläge später krachte die Haustür zu. BAMM!

Katie und Amanda schrien, rannten zur Tür und rissen sie auf. Wayne humpelte hinterher, die Krücke wie eine Aktentasche unter den Arm geklemmt. Alle drei Kinder liefen auf den Rasen. Sie hatten den Garten halb durchquert, als Pete ihnen hinterherrief.

»Das war nur der Wind, ihr Idioten!« Er stand auf der Veranda und winkte mit dem Montierhebel. »Der Wind hat die Tür zuknallen lassen.«

Nachdem Pete sie überredet hatte, wieder reinzugehen, machten sie sich etwas unbeschwerter auf die Suche nach dem Eulenkopf (wie sie das Monster inzwischen nannten) und ließen kein Zimmer aus. Wayne stieß jeweils die Tür auf, und Pete stürmte hinein, wobei er den Montierhebel in beiden Händen hielt wie ein Jedi sein Lichtschwert. Als sie das ganze Haus durchgecheckt hatten, waren sie oben in der Kuppel und ziemlich beruhigt.

»Von hier oben kann man ja alles sehen«, sagte Amanda und drückte die Nase fast ans Nordfenster. »Ich sehe sogar mein Haus, und Petes. Die liegen beide hinter Chevalier Village.« Schee-wall-jee, sagte sie, als würde es um einen edlen Wein gehen.

»Wo ist mein Haus?«, fragte Katie und kletterte auf die breite Fensterbank.

»Genau hinter dem da.« Amanda umfasste sie mit einem Arm und zeigte durchs Glas auf einen kleinen weißen Terrier, der in der Einfahrt zum Alamo-Haus lag. »Sei vorsichtig, lehn dich nicht ans Fenster. Guck mal, da unten liegt Champ im Gras.«

»Jaa!«

Pete starrte aus dem gegenüberliegenden Fenster. Er stieg auf die Fensterbank und drückte seinen Kopf unter den Bogen des Fensterrahmens. »Hey, ich wusste gar nicht, dass du den Vergnügungspark von hier aus sehen kannst.«

»Echt?« Wayne ging zu ihm.

Über dem Wald, weit im Süden, ragten die höchsten Gebäude von Blackfield auf, kleine Nadeln mit Fenstern, die aus den Bäumen sprossen. Die riesige dreizehnstöckige Bibliothek der Universität von Blackfield wirkte wie ein Wolkenkratzer. Die sandfarbenen Türme von Walker Memorial. Das namenlose Bürogebäude mit zwölf Etagen und dem Brandschaden im Penthouse. Näher noch, links davon, sah Wayne die Andeutung von Formen, die über den schwarzen Bäumen gerade so zu sehen waren – den höchsten Punkt der Achterbahn, die Spitze des Freefall-Towers. Ein Farbklecks mochte die Front des Gruselkabinetts sein.

»So nah ist das?«, fragte er verwundert. Sie hatten sich ohne Frage einen weiten Weg nach Hause vorgenommen … und es fast geschafft.

»Jau.« Pete stieg herunter und setzte sich aufs Bett. »Mann, diese Frauen, die uns gefunden haben, waren vielleicht unheimlich. Ich hatte sie noch nie so aus der Nähe gesehen. Diese Theresa hatte Kraft.« Er spannte den Arm an und drückte seinen Bizeps, wobei er einen russischen Akzent nachäffte. »Starrk wie Bullä.«

Amanda blickte über die Schulter. »Ja, stark war sie. Superstark für eine alte Lady. Sie hat Wayne den ganzen Weg vom Vergnügungspark bis zum Highway getragen, wo uns der Krankenwagen finden konnte.«

»Fast ein ganzer Kilometer.«

Wayne schaltete Fernseher und Playstation an und setzte sich zu Pete. Ein Computerspiel lud, und er ging in eine virtuelle Garage und scrollte abwesend durch die Optionen, um ein Muscle-Car einzurichten, an dem er den ganzen Monat gebastelt hatte. Anonymer Rap-Rock säuselte aus den Lautsprechern.

Die Minuten zogen sich verlegen in die Länge, und schließlich sagte Pete: »Voll der krasse Mustang.«

»Danke.« Wayne stellte noch ein bisschen an dem Wagen herum, dann ließ ihm seine Neugier keine Ruhe mehr. »Also, diese eine Lady … ich glaube, sie heißt Karen. Sie sagt, sie wohnt in dem großen Haus gegenüber.«

»Alle drei wohnen da.« Amanda kam von der Fensterbank und setzte sich mit Katie vor dem Fernseher auf den Boden, wo sie eins der Comics durchblätterten. Es war ein neueres Spider-Man-Heft, das Wayne schon hundertmal gelesen hatte, daher brauchte er es nicht vor den Mädchen zu retten. »Die leben alle zusammen im gleichen Haus. Allerdings sind sie keine Schwestern, glaube ich.« Sie hielt Katie die Ohren zu und fügte hinzu: »In Chevalier sagen die Leute, sie wären Lesben.«

Wayne runzelte die Stirn und sah Pete an, um diese Info bestätigen zu lassen. Der andere Junge zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen: Sieht wohl so aus.

»Sie hat meine ganze Krankenhausrechnung bezahlt.«

Amanda sah auf. »Wie nett von ihr.«

»Ich glaube, mein Dad hat gesagt, es waren dreißigtausend Dollar.«

Pete flüsterte: »Krass …«

»Kraaass …«, echote Katie. »Kann ich malen? Hast du Papier und Malstifte?«

»Ich glaube, im Drucker meines Vaters ist Papier.« Wayne starrte auf den Fernseher, während er redete. Das Computerspiel beruhigte seine Nerven. »Ich habe keine Malstifte, aber mein Vater hat Marker, wenn er sie nicht in der Schule gelassen hat.« Er reichte Pete die Steuerkonsole und trabte nach unten. Als er den Flur unten erreichte, wurden ihm zwei Dinge bewusst: Erstens hatte er seine Krücke vergessen, und zweitens war er allein. Plötzlich fühlte er sich sehr klein.

Glücklicherweise musste er nicht bis ins Erdgeschoss gehen. Er schlich durch den Flur, drückte die Tür zum Schlafzimmer seines Vaters auf und schaute zu, wie sie langsam aufschwang und Stückchen für Stückchen den Blick auf den Raum und seinen Inhalt freigab.

Eine hohe Holzkommode von Tante Marcelina … ein Fenster … Dads Spanplattenschreibtisch von Walmart … mehrere Kisten, die noch nicht ausgepackt waren … ein Fenster … Dads Bett …

Kein Eulenkopf lauerte in der Ecke.

Muskeln entspannten sich, bei denen er nicht gespürt hatte, wie angespannt sie waren. Ihm fiel ein, wieder zu atmen.

Das würde ein langer Tag werden.