Lyon, Frankreich, Juni 1943

Einige Tage später saß Antoine mit elf anderen Milizionären auf den unbequemen Pritschen eines Armeelastwagens. Sie waren auf dem Weg nach Lyon. Da die Straßen voller Schlaglöcher waren, wurden sie erheblich durchgeschüttelt. Es regnete in Strömen, und die Sicht betrug kaum mehr als hundert Meter. Zudem war die Plane des Lastwagens nicht mehr ganz dicht, also tropfte es von mehreren Stellen auf sie herab. Die zugige, kalte Luft trug nicht gerade zu einer guten Stimmung bei. Die meisten brüteten stumpf vor sich hin.

Auch Antoine grübelte, obwohl der Aufenthalt in Lyon endlich einmal Abwechslung versprach. Üblicherweise erwarteten ihn ein oder zwei Abende, in denen er im Hôtel Terminus oder im Lion d’Or auftreten durfte, nachdem er dem SS-Obersturmführer seinen Bericht abgeliefert hatte. Die Frage war nur, wie lange sich der Gestapochef noch von ihm hinhalten lassen würde. Es war sein drittes Treffen mit Klaus Barbie, und er war sich immer noch nicht im Klaren darüber, warum der deutsche Offizier solch einen Narren an ihm gefressen hatte. War es wirklich nur, weil er ihn mit seiner Musik amüsierte, oder sah er in ihm einen überzeugten Anhänger, den er protegieren wollte? Barbie war um einige Jahre älter als er und behandelte ihn wie einen Zögling, den er für etwas Höheres auserkoren hatte. Manchmal nahm er ihn beiseite und sprach über die blühende Zukunft und die Aufgaben, die sie alle erwarteten, wenn Hitler erst Europa befriedet hätte.

Antoine musste ihm zuhören, ob er wollte oder nicht. Oft war er fasziniert von Barbies Ausführungen. Der Obersturmführer wusste genau, wie er jemanden begeistern konnte. Aber er war auch ein Despot, der keinen Widerspruch duldete. Antoine schwankte immer wieder zwischen Anerkennung und Abscheu, wenn er mit ihm zusammentraf. Auf der einen Seite bewunderte er seinen klaren Geist und seine mitreißende Art, auf der anderen Seite fürchtete er seine Unberechenbarkeit. Barbie konnte von einem auf den anderen Augenblick einen cholerischen Anfall haben und vor Wut außer sich geraten, wenn ihm jemand widersprach. Der Blick aus seinen blauen Augen verwandelte sich in einen eiskalten Blitz, der jeden zu vernichten drohte, der sich ihm widersetzte. Zum Glück war er selbst bislang von solch einem Ausbruch verschont geblieben.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als sein Sitznachbar, ein achtzehnjähriger Junge aus einem Nachbardorf von Grenoble, ihm eine Zigarette anbot. Er hieß Christophe und gehörte erst seit wenigen Wochen zu ihrer Truppe. Antoine nahm die Zigarette mit einem dankbaren Nicken an und versuchte, sie trotz des Holperns anzuzünden. Das Papier des Glimmstängels war so feucht, dass er kaum zum Brennen zu bringen war. Christophe versuchte, eine Unterhaltung zu beginnen, doch das Prasseln des Regens auf die Plane verhinderte jedes Gespräch.

Antoine war das nur recht, obwohl er den Jungen eigentlich gut leiden konnte. Seine Gedanken wanderten wieder zurück zu Barbie und dazu, was er ihm berichten konnte. Bei seinem letzten Besuch hatte er ihn vor allem wegen der Ergreifung der jüdischen Jugendlichen ausgezeichnet, was ihm den Groll von Francis André zugezogen hatte. Der Mann mit dem schiefen Gesicht war bis zu Antoines Eintreffen der Liebling des Obersturmführers gewesen und verkraftete es nur schwer, dass dieser nun bevorzugt wurde. Dabei hätte Antoine liebend gern auf die zweifelhafte Ehre verzichtet. Die Erwartungen des Obersturmführers sowie die Feindseligkeit des Rivalen verlangten seinen Nerven einiges ab.

Ihm war klar, dass es seine Pflicht wäre, Barbie von dem Waisenhaus in Izieu zu erzählen. Einiges dort kam ihm zumindest merkwürdig vor. Auch Flambert war aufgefallen, dass die Kinder weitgehend von der Öffentlichkeit ferngehalten wurden, obwohl es doch eigentlich keinen Grund dafür gab. So fragte er sich, weshalb man die Kleinen nie sonntags in der Kirche sah. Waren französische Waisenhäuser nicht streng christlich ausgerichtet? Was, wenn sich dahinter etwas ganz anderes verbirgt?, überlegte er. Außerdem war es merkwürdig, dass einige der Kinder mit einem auffallenden Akzent sprachen. Manche schienen sogar Schwierigkeiten zu haben, die französische Sprache zu verstehen.

Die Schlussfolgerung, dass die Kolonie eine Tarnung für jüdische Flüchtlingskinder aus Deutschland sein konnte, war nicht abwegig. Wenn er diese Information weitergab, konnte er den Obersturmführer mehr als zufriedenstellen. Ja, es war sogar möglich, dass er damit die Freilassung seiner Brüder erwirkte. Doch wog die Freiheit seiner Brüder wirklich so viel wie das Leben von etlichen unschuldigen Kindern? In was für eine verdammt hirnrissige Situation hatte er sich da nur hineinmanövriert! Was war das für eine Zeit, in der man zu solchen Überlegungen gezwungen wurde?

Nein. Er würde dem Deutschen nichts von dem Waisenhaus erzählen. Er wollte nie wieder, dass unschuldige Menschen seinetwegen in ihr Verderben liefen.

Seine Gedanken endeten unweigerlich bei der jungen Frau, in deren Obhut die Kinder gewesen waren. Ob Marguérite auch ein Flüchtling war? Die junge Betreuerin war ihm nachdrücklich in Erinnerung geblieben. Auch sie hatte einen merkwürdigen Akzent gehabt. Angeblich kam sie aus der Schweiz, was er jedoch bezweifelte. Etwas sagte ihm, dass sie ein Geheimnis vor ihm verbarg. Es war schon seltsam, wie schnell er sich mit dieser Frau verbunden gefühlt hatte. Sie schien ihm wie eine Seelenverwandte und das nicht nur, weil sie beide von einer tiefen Liebe zur Musik erfüllt waren. Irgendwie kam ihm ihre zufällige Begegnung wie ein Wink des Schicksals vor, und der Wunsch, sie wiederzusehen, wurde mit jedem Tag größer.

Leider hatte sich bislang noch keine Gelegenheit geboten. Aber er würde sie treffen, das hatte er sich fest vorgenommen. Streng genommen tat er ja auch nichts Falsches, wenn er seinen Verdacht nicht äußerte. Sein neuer Auftrag bestand darin, nach Umtriebigkeiten der Résistance Ausschau zu halten und nicht nach flüchtigen Juden. Außerdem gehörte die Gegend zur italienischen Zone, wo Juden noch geduldet wurden. Nein, dieses Mal würde Antoine Barbie nichts zu erzählen haben.

Zufrieden mit seinem Entschluss warf er die Kippe hinaus und sah dem kurzen Glimmen nach, bevor der Regen es erstickte. Der Lastwagen wurde langsamer, als es einen Berg hinaufging. Die Straße wurde noch schlechter, sodass sie nur noch holpernd vorwärtskamen. Etwas später erreichten sie ein Waldstück, das zwischen zwei Felswänden hindurchführte. Hohe dunkle Tannen ragten rechts und links der Straße auf und machten die verregnete Landschaft noch düsterer, als sie schon war.

Plötzlich hielt der Lastwagen an. Antoine hörte, wie der Fahrer in der Kabine schimpfte und schließlich ausstieg. Wenig später tönte das Kommando, dass sie alle auszusteigen hatten.

»Los! Helfen! Da ist ein Baumstamm umgefallen. Er versperrt uns den Weg.«

Murrend erhoben sich die Männer von ihren Sitzen und sprangen hinaus in den Regen, um das Hindernis zu beseitigen. Antoine nutzte die Gelegenheit, einem dringenden Bedürfnis nachzukommen. Während er am Straßenrand stand, hörte er das Fluchen der Männer, die sich an dem sperrigen Baumstamm versuchten. Im nächsten Augenblick zerriss eine Explosion beinahe sein Trommelfell. Eine gewaltige Druckwelle erfasste ihn und schleuderte ihn – gemeinsam mit herumfliegenden Holzsplittern und abgerissenen Ästen – mehrere Meter durch die Luft. Mit einem dumpfen Aufprall kam er schließlich im Straßengraben zum Liegen. Halb taub und benommen nahm er die darauffolgende Stille wahr.

Nur langsam begriff er, was geschehen war. Sie waren einem Anschlag zum Opfer gefallen und in eine Falle der Maquisards geraten. Als er versuchte, sich aufzurichten, durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz in seinem Bein. Entsetzt sah er auf seinen Oberschenkel, aus dem ein Aststück herausragte. Es hatte sich wie ein Geschoss in sein Fleisch gebohrt. Einen Augenblick überlegte er, das Teil einfach herauszuziehen, doch dann ließ er es lieber bleiben, weil er wusste, es würde eine starke Blutung auslösen. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte er aufzustehen, um nach seinen Kameraden zu sehen, als er ein schreckliches Stöhnen vernahm.

Nicht weit von ihm entfernt erkannte er Christophe, der unter dem umgestürzten Lastwagen begraben lag und wahnsinnige Schmerzen zu haben schien. Der massive Überschlagbügel des Lasters lag quer über seiner Brust. Antoine sah sich um, jetzt erst bemerkte er, welch fürchterliche Folgen die Explosion gehabt hatte. Von den Kameraden schienen nur noch Christophe und er selbst am Leben zu sein. Alle anderen hatte der Sprengstoff, der direkt unter dem Baum deponiert gewesen sein musste, in Stücke gerissen. Überall war Blut. Leichenteile lagen weit verstreut. Die meisten Kameraden waren bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Es roch nach Blut und verbranntem Fleisch. Antoine kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an, schließlich schaffte er es, bis zu Christophe zu robben.

»Hilf mir!«, flehte dieser ihn fast wahnsinnig vor Schmerz an.

Er sah, dass der Junge kaum noch Luft bekam. Der schwere Metallholm hatte seinen Brustkorb gequetscht. Antoine bezweifelte, dass man dem jungen Mann noch helfen konnte. Dennoch musste er alles tun, um seine Lage erträglicher zu machen. Seinen eigenen Schmerz ignorierend, versuchte er mit aller Kraft, den Holm hochzustemmen. Es gelang ihm, sich auf sein gesundes Bein zu stellen und unter die Metallstange zu greifen, um sie anzuheben. Doch deren Gewicht war viel zu schwer für ihn. Es gelang ihm nicht einmal, sie für wenige Zentimeter zu bewegen. Nach etlichen vergeblichen Versuchen musste er schließlich erschöpft aufgeben. Auch mit einem dicken Ast, den er wenig später zu Hilfe nahm, hatte er keinen Erfolg. Ihm blieb nichts anderes übrig, als seinem Kameraden Mut zu machen.

»Es wird sicher bald Hilfe da sein«, versprach er ihm. Christophe hatte unterdessen aufgehört zu jammern. Sein Atem ging nur noch stoßweise, sein Gesicht war blass wie ein Leintuch geworden. Wenn nicht bald jemand vorbeikam, würde er nicht mehr lange leben. Antoine war klar, dass es Stunden dauern konnte. Die Gegend, in der der Anschlag passiert war, lag abseits jeglicher Dörfer. Dann fiel ihm das Funkgerät in der Fahrerkabine ein. Vielleicht hatte die Explosion es ja nicht zerstört. »Warte, ich setze einen Notruf ab«, verkündete er und kroch los, obwohl der Schmerz in seinem Bein immer unerträglicher wurde.

Mit äußerster Kraftanstrengung gelang es ihm, durch das zersprungene Frontfenster in die Kabine zu klettern. Er schnitt sich an den Scherben die Unterarme, doch das war ihm egal. Irgendwie gelangte er an das Funkgerät und stellte mit Erleichterung fest, dass es noch intakt war. Wenig später gelang es ihm, den Stützpunkt in Belley zu erreichen.

»Verstanden. Mache sofort Meldung«, versprach der Funker. »Hilfe kommt, so schnell es geht.«

Antoine gab ihm die ungefähre Lage durch. Dann quälte er sich wieder zurück zu Christophe, um ihm die frohe Nachricht zu bringen.

»Es dauert nicht mehr lange, dann holen sie dich hier raus«, versprach er ihm. »Du musst nur durchhalten.«

»O Gott, es tut so weh«, brachte der Junge keuchend hervor. Er sah ihn mit flackernden Augen an. »Ich hab solche Angst, dass ich ersticke.«

Sein Atem klang rasselnd und schwer. Als Antoine sah, dass sich in seinen Mundwinkeln Blutbläschen bildeten, wusste er, dass es für Christophe keine Hoffnung mehr gab.

»Du schaffst es«, versicherte er ihm wider besseres Wissen und wischte ihm die Regentropfen aus seinem blutverschmierten Gesicht. »Ich höre bereits Motorengeräusche. Bald hast du es geschafft!« Er lächelte ihm ermutigend zu, obwohl das eine glatte Lüge war.

Christophe starrte in den grauen Himmel, als könnte er jemanden darin entdecken. »Lucinde!«, stieß er hervor. »Lass mich dich in die Arme nehmen!« Sein regennasses Gesicht wurde von einem Lächeln erhellt, als wäre alles Leid plötzlich von ihm abgefallen. Für einen kurzen Augenblick sah er Antoine noch einmal in die Augen. »Sie ist so schön«, flüsterte er. »Meinst du, ich soll sie fragen, ob sie mich heiraten …«

Noch bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, brach sein Blick – so jäh, als wäre ein Licht verloschen. Antoine hielt Christophes Hand. Er fühlte nichts mehr, nur die Sinnlosigkeit dieses jämmerlichen Krieges.

Stunden später traf endlich Hilfe ein. Antoine befand sich immer noch in einem merkwürdigen Zwischenzustand, der keine menschliche Regung zuließ. Wie ferngesteuert berichtete er über das, was er von dem Anschlag mitbekommen hatte. Dabei fühlte er nichts als eine unglaubliche Leere. Wie in Trance bekam er mit, wie ihn die Sanitäter auf eine Trage legten und in einen Krankenwagen brachten. Als er wieder Herr seiner Sinne war, befand er sich als einziger Überlebender im Lazarett in Lyon. Man hatte seine Wunden versorgt und den Pflock aus seinem Oberschenkel entfernt. Die Wunde war tief, aber nicht lebensbedrohlich, sodass er schon nach wenigen Tagen wieder entlassen werden konnte.

Körperlich heilte seine Verletzung rasch, aber seelisch hatte das Erlebnis tiefe Wunden hinterlassen. Der heimtückische Anschlag der Widerstandskämpfer und der Tod von Christophe waren genauso grausam und sinnlos wie das, was die Milizen taten. Dieser verdammte Krieg – er machte aus Menschen wilde Bestien.

Aufgrund seiner Verletzung bekam Antoine ein paar Tage Urlaub. Er überlegte, seine Mutter und seine Schwester zu besuchen, doch er musste seinen Plan ändern, da Barbie ihn ins Hôtel Terminus einlud. Der Obersturmführer erwartete ihn in seiner Suite zusammen mit Francis André. Barbie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem bequemen Sessel und blätterte in irgendwelchen Unterlagen. Mit seiner linken Hand streichelte er nachdenklich seine eigene Wange. Er sah erst auf, als Antoine sich nach einigen Augenblicken des Wartens durch ein leises Räuspern bemerkbar gemacht hatte.

»Ah, mein französischer Freund«, begrüßte er ihn, als wären sie alte Bekannte. »Ich habe schon von dem heimtückischen Überfall auf Ihren Trupp gehört. Ein Glück, dass es Sie nicht allzu schwer erwischt hat.« Er legte die Mappe auf einen Beistelltisch und bot ihm einen Stuhl an, während Francis André stehen bleiben musste. Antoine setzte sich, er ignorierte den finsteren Blick des Caporal. Barbie schenkte zwei Cognac ein und reichte ihm einen der beiden Schwenker. »Trinken wir auf Ihre Genesung«, toastete er ihm zu. »Sie müssen mir haarklein berichten, wie das alles geschehen konnte.«

Antoine kam der Aufforderung nach. Noch während er die Einzelheiten schilderte, machte sich erneut diese Leere in ihm breit, die ihn unweigerlich frösteln ließ. Barbie deutete seine Regung anders.

»Das feige Widerstandspack«, erklärte er verächtlich. »Sie geben sich nach außen hin als unschuldige Bürger und planen heimlich die Zerstörung des Staates, der sie ernährt. Sie sind besessen von dem bolschewistischen Ideengut unserer Feinde und infiltriert von den zersetzerischen jüdischen Kräften, die eine Weltrevolution anstreben. Kreaturen wie diese Terroristen werden nicht rasten und ruhen, bis sie unsere Ordnung zerstört haben. Deswegen müssen wir ihnen mit aller Härte begegnen. Ich werde alles tun, um sie auszumerzen!« Seine Gesichtszüge entspannten sich wieder, als er sich an Antoine wandte. »Zum Glück weiß ich Leute wie Sie an meiner Seite, Mardieu!«, lobte er ihn. »Auf mutige Franzosen wie Sie kann das neue Großdeutsche Reich nicht verzichten! Durch Ihren Einsatz helfen Sie, dass der jüdisch-bolschewistische Aufstand bald ein Ende findet.«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihr Lob verdiene«, wehrte Antoine unangenehm berührt ab. »Mir kommt doch in dieser Geschichte keinerlei Verdienst zu. Es war reines Glück, dass ich überlebt habe.«

»Ihre Bescheidenheit ist jetzt fehl am Platz«, ließ sich Barbie keineswegs beirren. »Sie haben Ihre Loyalität bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Auf Männer wie Sie kann man eben zählen. Ich habe Sie lange beobachtet und setze große Hoffnungen in Sie. Ihre verbindliche Art und die Fähigkeit, das Vertrauen der Leute zu gewinnen, wird uns noch in vielerlei Hinsicht von Nutzen sein. Weiter so, Mardieu!«

»Ich glaube, Sie überschätzen mich …«

Antoine fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Haut. Und es rief ihm nochmals schmerzhaft den Verrat an den jüdischen Kindern in Erinnerung.

Mit einer ungeduldigen Handbewegung gebot der Obersturmführer ihm Einhalt. »Sie verstehen mich wohl immer noch nicht!« Er deutete auf die Mappe neben sich. »Ich habe herausgefunden, wo sich Ihre Brüder befinden.«

Antoine schwieg sofort. Damit hatte er tatsächlich nicht gerechnet. Barbie grinste zufrieden und erwartete eine entsprechende Reaktion.

»Das … das ist wunderbar«, brachte Antoine schließlich hervor.

»Charles Mardieu arbeitet in einem Steinbruch bei Überlingen und Louis bei einem Bauern in Bayern. Die beiden können schon sehr bald auf freiem Fuß sein, wenn sie sich nur kooperationsbereit zeigen.«

»Sie weigern sich?«

Antoine konnte nichts dagegen tun, dass er sich auf einmal schämte. Allerdings nicht, weil seine Brüder nicht kollaborieren wollten, sondern weil er sich wie ein Verräter vorkam.

Barbie hielt sein Schweigen für Begriffsstutzigkeit. »Ihre Brüder müssen selbstverständlich für dieselben Ziele eintreten wie Sie«, klärte er ihn auf. »De facto sind sie im Augenblick noch unsere Feinde.« Sein Lächeln bekam etwas Aufmunterndes. »Es wird sicherlich kein Problem für Sie werden, Ihren Brüdern diesbezüglich auf die Sprünge zu helfen. Vielleicht legen Sie dem möglichen Entlassungsbefehl ja noch einen persönlichen Brief bei, in dem Sie Ihren Brüdern erklären, wie wichtig es für sie ist, in Ihre Fußstapfen zu treten.«

Antoines ungutes Gefühl verstärkte sich. Seine Brüder waren in den Krieg gezogen, um für ein freies Frankreich zu kämpfen. Er zweifelte daran, dass es ihm gelingen konnte, sie zu überzeugen, dass sie ihren Patriotismus aufgeben mussten, selbst wenn sie dafür in Freiheit kamen. Besonders Charles war ein großer Nationalist und hasste die Deutschen von ganzem Herzen.

»Das werde ich gern tun«, brachte er schließlich mühsam hervor.

Der Obersturmführer nickte zufrieden. »Dann wäre das also geklärt.« Er machte eine bedeutungsschwere Pause, um ihn plötzlich mit seinem stechenden Blick zu fixieren. »Ihnen ist doch sicherlich bewusst, dass ich für diese, nun sagen wir, kleine Gefälligkeit, eine Gegenleistung erwarte …« Antoine zuckte zusammen, obwohl ihm natürlich längst klar gewesen war, dass alles, was Barbie für ihn tat, an Bedingungen geknüpft war. Der Blick des Obersturmführers ruhte immer noch prüfend auf ihm. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, versuchte Antoine, ihm mit einem verbindlichen Lächeln zu begegnen. »Ich möchte, dass Sie alles daransetzen, den Anführer der Terroristenbande zu entlarven, der für die Anschläge in der Region Belley zuständig ist«, erklärte Barbie. »Der Auftrag muss Sie doch motivieren. Schließlich sind diese Verbrecher am Tod Ihrer Kameraden schuldig.« Er wartete, bis Antoine zustimmend nickte. »Der Deckname des Anführers ist Gaston, er lebt höchstwahrscheinlich in der Gegend von Belley, wahrscheinlich als rechtschaffener Bürger. Finden Sie heraus, wer er und seine Freunde sind und was sie als Nächstes vorhaben. Den Rest erledigen wir von der Gestapo!«

»Aber wie soll ich das anstellen?« Antoine wurde ganz flau im Magen. »Als Milizionär werden die Leute wohl kaum offen mir gegenüber sein.«

»Wie Sie das anstellen, ist Ihre Sache«, entgegnete Barbie ungerührt. »Nutzen Sie einfach Ihre Fähigkeiten, sich Freunde zu verschaffen. Verstellen Sie sich, geben Sie vor, ein Überläufer zu sein. Keine Ahnung! Das bleibt ganz Ihrer Kreativität überlassen.«

»Sehr wohl, Obersturmführer.«

Antoine gelang es nur schlecht, sein mulmiges Gefühl zu verbergen. Was Barbie von ihm verlangte, schien ihm undurchführbar zu sein.

»Nun machen Sie doch nicht so ein ratloses Gesicht!« Barbie schenkte ihm ein väterliches Lächeln. »Sie sind genau der richtige Mann für eine heikle Angelegenheit wie diese. Bemühen Sie ein wenig Ihren Erfindergeist und Ihre Fantasie. Die Menschen mögen Sie, weil Sie ein umgänglicher Typ sind. Wenn Sie Augen und Ohren offen halten und hier und da erwähnen, dass Sie mit Ihrer Arbeit als Milizionär nicht mehr zufrieden sind, ja an den richtigen Stellen auch mal kleine Interna verraten, die den Terroristen in die Hände spielen, dann werden Sie bald einer von ihnen sein.«

»Sie wollen, dass ich als Spion arbeite«, stellte Antoine fest.

»Spion, Spitzel, ein Verbündeter …« Barbie zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Nennen Sie es, wie Sie wollen.« Dann kam er abrupt zum Ende ihrer Unterhaltung. »Die Hauptsache ist, Sie arbeiten effektiv. Ich denke, wir haben uns verstanden?« Er wartete Antoines Antwort gar nicht ab, sondern hob sein Glas und trank es in einem Zug leer. Dann wandte er sich an Francis André, der ihrer Unterhaltung schweigend gefolgt war. »Caporal, begleiten Sie Mardieu nach draußen und sehen Sie nach, ob die Gefangene aus Montluc bereits überstellt wurde.«

Damit war Antoine entlassen.

Klaus Barbie sah dem jungen Franzosen zufrieden nach und schenkte sich noch einen Cognac ein. Unterhaltungen mit Menschen wie Antoine Mardieu, die er nach seinem Willen biegen konnte, ermunterten ihn. Der junge Mann erinnerte ihn entfernt an seinen besten Freund aus Jugendtagen. Auch er war wie Wachs in seinen Händen gewesen. Vielleicht war es gerade ihre Unschlüssigkeit, die sie zu willfährigen Menschen machte. Ein wenig Druck, eine Portion Angst und die Hoffnung, dass sich alles noch zum Guten wenden konnte, bewirkten meist, dass man von ihnen bekam, was man verlangte. Selbst ein Mensch wie Mardieu, der eigentlich nicht viel soldatischen Ehrgeiz besaß, würde ihm so von Nutzen sein.

Er hatte an dem jungen Mann einen Narren gefressen. Vielleicht lag das daran, dass sie eine ähnliche Biografie hatten. Auch er hatte sich zu etwas anderem berufen gefühlt und war durch die familiären Umstände gezwungen gewesen, einen bestimmten Weg einzuschlagen. Der frühe Tod des Vaters im Jahre 1933 und wenig später der des Bruders hatten gedroht, ihn aus der Bahn zu werfen. Sein Vater, ein angesehener Lehrer, war an den Spätfolgen einer Verletzung, die er sich während des Ersten Weltkriegs an der Westfront zugezogen hatte, jämmerlich verreckt. Als dann auch noch sein Bruder tödlich verunglückt war, hatte sich keiner aus seiner Familie mehr von dieser Tragödie erholen können.

Besonders für die Mutter war er kaum noch existent. Nach mehreren Anläufen war es ihm zwar gelungen, in Trier sein Abitur zu machen, doch damit hatte er noch nichts erreicht. Es folgten Arbeitslosigkeit und Zeiten großer Frustrationen, denn er hatte natürlich kein Geld, um an einer Universität zu studieren. Sein einziger Halt war damals seine Mitgliedschaft in der Hitlerjugend gewesen. Dort hatte er schon früh eine gewisse Stellung innegehabt, da er schon 1933 eingetreten war. Als man ihm schließlich angeboten hatte, für ein halbes Jahr seinen Freiwilligendienst in einem Arbeitslager der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei in Schleswig-Holstein zu leisten, war er gern dazu bereit gewesen.

In dieser Zeit war er endgültig zu einem begeisterten Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie geworden. Der erste Höhepunkt seiner Karriere war seine Begegnung mit Heinrich Himmler im Jahr 1935 gewesen. Dem engen Vertrauten des Führers war sofort seine Begeisterung für die Sache aufgefallen, aber auch das Charisma, das von ihm ausging. Er hatte ihn persönlich eingeladen, in die Schutzstaffel einzutreten. Bei der SS hatte Barbie rasch Karriere gemacht, er war schon bald zum Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes in Berlin geworden. In dessen Auftrag hatte er in der Stadt Juden und Homosexuelle, die er abgrundtief verachtete, verfolgen müssen. Bei den Verhören mit ihnen hatte er seine Freude daran, Menschen dazu zu bringen, das zu tun, was er von ihnen verlangte, entdeckt.

Gewalt war dabei stets ein höchst befriedigendes Mittel. Dieses Gefühl der Macht entschädigte ihn für die Ungerechtigkeiten, die er in seinem Leben erfahren hatte. Seit dieser Zeit übte er die ihm aufgetragenen Aufgaben mit höchster Effektivität aus. Die Auslöschung der Juden und Widerständler war für ihn zu einer Passion geworden.

Barbies Gedanken wurden durch das Pochen an der Tür unterbrochen. Das musste André sein. Es wurde Zeit, sich wieder seinen Aufgaben zuzuwenden. Der Caporal war vom gleichen Holz geschnitzt wie er selbst. Auch er hatte eine ausgeprägte Vorliebe für Gewalt. Im Gegensatz zu Mardieu, dessen Fähigkeiten Barbie eher subtil nutzen musste, war ihm dieser derbe Kerl für andere Dinge nützlich. André, der von seinen Kameraden Gueule Tordue, Schiefmaul, genannt wurde, stand seine Vorliebe für Gewalt regelrecht ins Gesicht geschrieben. In der Erfindung und vor allem Durchsetzung neuer Foltermethoden war er einzigartig. Als Team bekamen sie so gut wie immer die Antworten, die sie hören wollten. Eine weitere wertvolle Eigenschaft des Folterknechts war seine vorbehaltlose Ergebenheit. Auf seine Loyalität konnte er, Barbie, sich verlassen.

André salutierte vor ihm, er senkte dabei devot den Blick.

»Ist für das nächste Verhör alles vorbereitet?«

»Die Frau, die wir gestern festgenommen haben, ist gerade von Montluc hier eingetroffen. Sie steht jetzt zu Ihrer Verfügung.«

»Ist sie wenigstens hübsch?«

»Nicht mehr lange, wenn’s nach mir geht.« Andrés anzügliches Grinsen verlieh seinem schiefen Gesicht etwas Groteskes.

Barbie rieb sich erwartungsvoll die Hände. »Ich möchte, dass Sie die Schäferhunde zur Befragung mitbringen.«

Andrés Grinsen wurde noch eine Spur breiter. »Sie werden Ihre Freude haben, Obersturmführer.«

Barbie wollte ihn gerade entlassen, dann überlegte er es sich doch noch einmal anders. André hatte ein gutes Gespür für Menschen, auch wenn man es ihm nicht ansah.

»Was halten Sie von Caporal Mardieu?«, erkundigte er sich beiläufig.

Andrés Mundwinkel verzogen sich abfällig. »Wollen Sie meine ehrliche Meinung? Ich halte diesen Musikus für einen Feigling, dem man nicht trauen darf.«

»Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung? Sind Sie etwa eifersüchtig?«, wollte Barbie wissen.

Ihm war schon aufgefallen, dass sich die beiden Männer nicht sonderlich mochten. Er musste kein Hellseher sein, um zu sehen, dass André missgünstig war, weil er Mardieu anders behandelte als ihn. Doch das spielte ihm auch in die Hände. Trotz seiner Eifersucht hatte André einen guten Blick für die Loyalität seiner Kameraden.

»Ich seh’s an seinem Gesicht«, behauptete er. »Mardieu ist ein Duckmäuser.«

»Der Caporal hat erfolgreich zur Ergreifung einer ganzen Gruppe Juden beigetragen, kaum dass er bei den Milizionären eingetreten ist«, erinnerte Barbie ihn streng. »Ihre Anschuldigungen entbehren also jeglicher Grundlage. Oder liege ich falsch?«

»Mit Verlaub, Obersturmführer«, entgegnete Francis André mit hochrotem Kopf. Seine Rüge hatte ihn sichtlich getroffen. »Ich wollte Mardieus Verdienste nicht infrage stellen.«

»Das haben Sie aber getan«, antwortete Barbie ungnädig. »Also: Weshalb glauben Sie, dass Mardieu ein Feigling ist?«

»Fragen Sie doch die Kameraden in Belley«, rückte André endlich mit seiner Information heraus. »Mardieu ist zwar bei allen beliebt, wenn’s um seine Musik geht. Aber als Soldat taugt er überhaupt nichts. Beim Ergreifen der Judenbande hat er sich schier in die Hosen gemacht. Er hat sich aus allem rausgehalten, hat nicht eine Kugel verschossen. Man konnte glatt den Eindruck haben, dass er mit dem Pack sympathisiert hat.«

Das war genau der Eindruck, den auch Barbie von dem jungen Mann gewonnen hatte. Doch das brauchte André nicht zu wissen. »Das ist alles haltloses Gerede«, wies er ihn absichtlich in die Schranken. »Mardieu hat außerdem ganz andere Aufgaben. Er soll herausfinden, wer dieser Gaston ist. Dazu bringt er mehr Fähigkeiten mit als Sie und ich zusammen.« Er machte keine Anstalten, seinen Unmut zu verbergen. »Und nun bereiten Sie endlich das Verhör vor. Ich erwarte das Weib hier im Verhörraum.«

»Sehr wohl, Obersturmführer.«

André presste die Lippen aufeinander und sah starr auf den Boden. Barbie gefiel seine Unterwürfigkeit. Dennoch entschloss er sich dazu, auf Mardieu ein besonderes Auge zu halten. Es war immer gut, über alles im Bilde zu sein.