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Ich glaubte, niemals den Zauber jener wundervollen Nacht in Langenargen zu vergessen. Es mag seltsam klingen, aber Valerie und ich kamen uns im Zwielicht der vom Mond beschienenen Ferienwohnung zum ersten Mal so richtig nah, obwohl außer diesem einen Kuss nichts weiter zwischen uns geschah. Unser Gespräch war geprägt von so großer Nähe, wie sie eine heiße Liebesnacht nicht hätte schaffen können. Valerie erzählte mir von ihren Sorgen und Ängsten, die sie seit ihrem Burn-out quälten, von Jonas, dem sie viel verdankte, der auf der anderen Seite aber auch so vieles von ihr erwartete, und von ihrer Unschlüssigkeit, was ihre Zukunft betraf.
Ich hörte ihr aufmerksam zu, um ihr dann von meiner Vergangenheit zu erzählen. Meine vaterlose Kindheit, die in grenzenloser Bewunderung für meinen unbekannten Großvater gipfelte, meine gescheiterte Beziehung zu Marie-Claire und mein Wunsch, endlich eine angesehene Professorenstelle zu bekommen. Während wir über unsere Träume und Wünsche sprachen, stellten wir fest, dass unsere Lebensvorstellungen ziemlich ähnlich waren. Außerdem konnten wir über dieselben Dinge lachen. Das machte unser Gespräch noch viel angenehmer. Irgendwann schlief Valerie mitten in einem Satz ein. Ihr Kopf lag immer noch auf meinem Schoß, sodass ich sie in aller Ruhe beobachten konnte. Sie sah so friedlich und glücklich aus. Ich verharrte die ganze Nacht in meiner unbequemen Position und hätte es noch viel länger ausgehalten. Hauptsache, ich war in ihrer Nähe.
Am nächsten Morgen ging es Valerie schon sehr viel besser. Ihre Kopfschmerzen waren auf ein erträgliches Maß geschrumpft, und wir fuhren nach einem kleinen Frühstück mit Bus und Fähre wieder zurück nach Konstanz. Zwischen uns herrschte jetzt eine merkwürdige Befangenheit, vielleicht, weil wir beide unseren Gefühlen noch nicht trauten. Ich war mir auf jeden Fall nicht sicher, wie ich die intimen Gespräche der vergangenen Nacht einordnen sollte. Wir hatten ja niemals über eine gemeinsame Zukunft geredet. Im Gegenteil. Valerie hatte ernsthaft überlegt, Jonas doch noch mal eine Chance zu geben. Die Versuchung war groß gewesen, es ihr auszureden und ihr meine Gefühle zu gestehen. Doch ich ließ es bleiben und begnügte mich mit meiner Rolle des Zuhörers.
In der Nähe des Fähranlegers in Konstanz stand mein VW-Bus, mit dem ich sie zu ihrer Wohnung brachte. Ich wartete darauf, dass sie ausstieg, doch sie blieb noch einen Moment sitzen. Schließlich legte sie ihre Hand auf meinen Unterarm und suchte meinen Blick.
»Ich danke dir für die wunderschöne Nacht, Rick!«, meinte sie fast ein wenig traurig. »Wenn ich anders gestrickt wäre, würde ich mit dir eine Sommeraffäre beginnen und unsere gemeinsame Zeit genießen. Doch ich fürchte, dazu tauge ich nicht.«
»Du wärst niemals nur eine Affäre für mich«, brach es plötzlich aus mir hervor. Ich ergriff die Hand auf meinem Arm und drückte sie an meine Lippen. Mein Blick hielt ihren fest, und ich hoffte, dass sie fühlte, wie ernst es mir war. Sie ließ mich gewähren, auch als ich ihre Hand losließ und ihr einen sanften Kuss auf den Mund gab. Ihre Lippen waren warm und verheißungsvoll. Am liebsten hätte ich mich nie wieder von ihnen gelöst. Doch ich wollte sie nicht bedrängen. Vorsichtig ging ich wieder auf Abstand. »Lass es uns einfach versuchen«, bat ich sie. »Es ist so vieles, was uns miteinander verbindet!«
»Ich weiß.« Valerie sah mich mit ihren seegrünen Augen verzweifelt an. »Das macht es ja so schwer.« Sie schwieg einen Augenblick und kam dann zu einem Entschluss. »Vielleicht muss ich endlich lernen, über meinen Schatten zu springen.« Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, dann strich sie sanft mit dem Handrücken über meine Wange. »Komm heute Abend zu mir«, lud sie mich ein.
Dann küssten wir uns lange und ausgiebig. Am liebsten wäre ich gleich mit ihr in die Wohnung gegangen. Doch wir hatten beide noch so einiges zu erledigen. Schweren Herzens trennten wir uns. Ich wünschte mir, dass die Zeit bis zum Abend schnell verstrich.
Für den frühen Nachmittag hatte mir Therese Hufnagel eine Verabredung mit ihrem alten Bekannten arrangiert. Christian Wallners Vater war während des Krieges Gartenbaudirektor auf der Mainau gewesen und hatte mit seiner Familie dort gewohnt. Aus diesem Grund konnte er sich noch gut an verschiedene Ereignisse aus der Zeit erinnern. Ich traf mich mit ihm in einer Wohnanlage für betreutes Wohnen am Stadtrand. Der schon bald neunzigjährige Herr empfing mich in seinem Appartement. Er saß in einem bequemen Ohrensessel, neben sich ein aufgeblättertes Album mit Schwarz-Weiß-Fotografien. Obwohl er schon recht gebrechlich wirkte, hatte er wache Augen und eine schnelle Auffassungsgabe. Ich erzählte ihm von meinem Anliegen und war überrascht, wie gut er sich auf meinen Besuch vorbereitet hatte.
»Damals war auf der Insel ganz schön viel Trubel«, begann Herr Wallner im Plauderton. »Erst haben die Nazis alles umgebaut und neu ausgestattet, dann suchten die aus Frankreich geflohenen Kollaborateure auf der Insel Unterschlupf, und nach dem Krieg beherbergte sie die kranken Opfer aus den Konzentrationslagern. Ich habe das alles mitbekommen.« Er wiegte nachdenklich den Kopf. »Mit der wechselhaften Geschichte und vor allem mit den Nazis wollten die edlen Schlossherren ja lange nichts zu tun gehabt haben«, meinte er abfällig. »Tatsache ist jedoch, dass die Nationalsozialisten die Insel wieder auf Vordermann gebracht haben. Ohne diese Arbeiten wäre die Mainau nach dem Krieg nie das geworden, was sie heute ist!« Der alte Herr machte eine gewichtige Pause. Ich fürchtete schon, er würde sich in Kleinigkeiten verlieren – ich hatte mich getäuscht. »Aber was rede ich!«, fuhr er fort. »Therese sagte mir, dass Sie sich für die bedauernswerten Häftlinge interessieren. Da sind Sie bei mir genau an der richtigen Adresse.« Er hieb mit seinem knotigen Zeigefinger auf das Album ein und zeigte ein stolzes und verschmitztes Lächeln. »Ich besaß damals schon eine eigene Kamera, mit der ich vieles dokumentiert habe. Unter anderem habe ich die meisten der ehemaligen Häftlinge abgelichtet, weil es ein französischer Leutnant, mit dem ich mich damals angefreundet hatte, so von mir wollte. Er stellte mir die nötigen Filme zur Verfügung. Sie können sich vorstellen, wie begeistert ich als junger Bursche davon war! Die Fotografien sollten dabei helfen, die Angehörigen der Häftlinge zu finden, die so traumatisiert waren, dass sie ihre Vergangenheit vergessen hatten. Als kleine Gegenleistung durfte ich damals von jeder meiner Fotografien einen Abzug für mich behalten.« Er bedeutete mir, mich neben ihn zu setzen, damit er mir die Fotos zeigen konnte. »Ich mag ein alter Mann sein und schon ziemlich viel vergessen haben«, Wallner grinste, »aber alles, was in der Vergangenheit geschehen ist, ist für mich noch sehr präsent. Wie sagten Sie, hieß Ihr Großvater?«
»Antoine Mardieu, aber es ist gut möglich, dass er als Antoine Mardi bekannt war«, erklärte ich.
»Mardi, wie Dienstag«, murmelte Wallner und wiegte nachdenklich den Kopf. »Diesen Namen habe ich schon mal gehört.« Ich horchte auf und reichte ihm das Foto von Antoine, das ich mitgebracht hatte. »Den Mann kenne ich nicht«, sagte Wallner nach eingehender Betrachtung. »Da bin ich mir ganz sicher.« Als er meine Enttäuschung sah, fügte er hinzu: »Das will allerdings nicht viel heißen. Viele Menschen haben sich in der Lagerhaft sehr verändert. Außerdem haben die Verantwortlichen im Lager denen, die weder ihre Herkunft noch ihren Namen kannten, oft französische Wochentage als Namen gegeben. Wer am Montag hier eingeliefert wurde, war ein Lundi, die vom Dienstag bekamen den Namen Mardi. Die Vornamen waren beliebig. Das ist leider alles, was ich Ihnen dazu sagen kann.« Er reichte mir das Album. »Am besten, Sie sehen sich die Fotografien selbst an. Vielleicht erkennen Sie ja Ihren Großvater.«
Ich nahm mir das Fotoalbum und sah die Aufnahmen gewissenhaft durch. Was ich zu sehen bekam, erschütterte mich tief. Ausgemergelte, hagere Gesichter, Wesen, deren Menschlichkeit im Grauen verloren gegangen war. Häufig zeigten ihre Gesichtszüge eine Leere und Hilflosigkeit, die nur im Entferntesten ahnen ließen, was ihnen an Qualen widerfahren war. Die Fotos waren von einer erstaunlichen Qualität, auch wenn sie nicht mehr die Menschen zeigten, die sie einmal gewesen waren. Ich verglich das Foto meines Großvaters dennoch mit allen Aufnahmen und suchte nach möglichen Ähnlichkeiten. Alle Mühe war umsonst. Ich zeigte Wallner nochmals das Foto, doch er blieb bei seiner Meinung. Antoine Mardi war niemals unter den KZ-Häftlingen gewesen. Damit war auch diese Hoffnung zerstört. Mir blieb nichts anderes übrig als einzusehen, dass ich mich von der KZ-Liste in Dachau hatte irreleiten lassen. Die Spur zu meinem Großvater hatte sich verloren. Es wurde wohl Zeit, sich damit abzufinden.
Der Besuch bei Herrn Wallner war dennoch nicht umsonst. Der alte Herr war ein sehr interessanter Gesprächspartner und seltener Zeitzeuge, der vieles aus der damaligen Zeit zu berichten wusste. Ich hörte ihm gern zu und erfuhr noch wichtige Details für mein Buch. Als er jedoch allmählich müde wurde, verabschiedete ich mich.
Die Zeit bis zu meinem Rendezvous mit Valerie wollte ich nutzen, um nach Adèle zu sehen. Wir hatten uns in den letzten Tagen viel zu wenig gesprochen. Auf dem Weg zu unserer Ferienwohnung sah ich, dass auf meinem Handy eine neue Nachricht eingegangen war. Professor Lorchmeyer bat mich um einen Rückruf. Ich überlegte, den Anruf aufzuschieben, doch dann siegte meine Neugier.
»Ich habe interessante Neuigkeiten für Sie«, teilte mir der Professor mit. »Kommen Sie morgen früh um neun Uhr zu mir nach Hause.« Er gab mir die Adresse. »Ich glaube, ich kann Ihnen doch etwas über Ihren Großvater erzählen.«
Im Nachhinein frage ich mich, ob das Schicksal eine andere Wendung genommen hätte, hätte ich ihn damals nicht gleich zurückgerufen.