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Ich liebe dich!«, rief Rick übermütig, während er seinen Oberkörper aus dem heruntergekurbelten Fenster des alten VW-Busses lehnte und langsam davonfuhr.
Valerie winkte ihm hinterher. Sie vermisste ihn jetzt schon. Die gemeinsame Zeit war viel zu kurz gewesen. Ihr Vater, der neben ihr stand, legte seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie zärtlich an sich.
»Du hängst wirklich sehr an ihm, nicht wahr?«, bemerkte er gerührt. »Das erinnert mich an meine Gefühle für Mama.«
Valerie blickte strahlend zu ihm hoch. »Mit Rick ist alles so selbstverständlich«, sagte sie voller Glück. »Bei ihm kann ich so sein, wie ich wirklich bin. Er ist der Mann, auf den ich immer gewartet habe!«
»Das freut mich für dich, mein Liebes!« Valerie klemmte ihre Schultasche unter den Arm, um zur U-Bahn zu laufen. Sie war spät dran. Doch ihr Vater schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. »Ich fürchte, dass Jonas sich immer noch Hoffnungen macht«, gab er zu bedenken. Er wirkte mit einem Mal fast ein wenig besorgt. »Als wir an der Ostsee waren, hat er noch einmal lange mit Mama telefoniert und ihr sein Herz ausgeschüttet. Er konnte nicht verstehen, dass du euer Treffen am Freitagabend einfach abgesagt hast.«
Valerie wusste nicht, ob sie sauer sein sollte, weil Jonas sich ein weiteres Mal bei ihrer Mutter beschwert hatte, oder ob sie ein schlechtes Gewissen haben sollte. Natürlich war es ihm gegenüber nicht fair gewesen, dass sie ihm noch nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Aber so etwas am Telefon zu tun, war ja auch keine anständige Art. Nichtsdestotrotz wurde es Zeit, ihn endlich vor vollendete Tatsachen zu stellen, also verabredete sie sich noch am selben Tag mit Jonas zum Mittagessen.
Als sie sah, wie Jonas sich über ihr Wiedersehen freute, verließ sie schon fast wieder der Mut. Er erwartete sie bereits in dem Restaurant, das er vorgeschlagen hatte. Sobald er sie am Eingang erblickte, sprang er von seinem Stuhl auf und kam ihr entgegen, um sie zu begrüßen. Wie immer hatte er großen Wert darauf gelegt, dass das Ambiente stimmte. Der Tisch, den er bei seinem Lieblingsitaliener reserviert hatte, war weiß eingedeckt und stand etwas abseits, sodass sie sich ungestört unterhalten konnten. Er nahm ihr den Mantel ab und rückte ihr den Stuhl zurecht, bevor er selbst Platz nahm. Auf seinen Wink kam der Ober heran und brachte ihnen zwei Gläser Prosecco.
»Danke, für mich nicht«, sagte Valerie freundlich, aber bestimmt.
Jonas nahm es ohne Widerspruch zur Kenntnis und gab dem Kellner ein Zeichen, dass er beide Gläser wieder mitnehmen sollte. Früher wäre das ein Grund für eine erste Auseinandersetzung gewesen, dachte sie erstaunt. Nun entschuldigte er sich sogar.
»Bitte verzeih, ich bin leichtsinnigerweise davon ausgegangen, dass du am Nachmittag nichts mehr für die Schule tun musst«, bemerkte er charmant und reichte ihr die Speisekarte. »Heute ist der gegrillte Tintenfisch sehr zu empfehlen. Aber ich nehme wohl Tagliata, die Steaks sind hier immer besonders zart …«
Er lehnte sich entspannt zurück und tat so, als wäre es ein ganz normales Mittagessen. Die Selbstverständlichkeit, mit der er auftrat, sollte ihr wohl zeigen, dass er es ihr nicht übel nahm, dass sie ihn am Wochenende versetzt hatte. Dieses Verhalten erinnerte sie wieder an den alten Jonas. Damit pflegte er ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Doch dafür war es zu spät.
Sie bestellte ein Glas Mineralwasser und einen kleinen Beilagensalat, Jonas wählte nun doch den Tintenfisch. Während sie auf das Essen warteten, erzählte er von seinen neuen Fällen, in der Annahme, dass sie daran interessiert war. Sie hörte ihm höflich zu und war erstaunt, als er sich nach relativ kurzer Zeit auch nach ihrem Schultag erkundigte. Erstaunlicherweise zeigte er echtes Interesse an den Belanglosigkeiten, die sie ihm erzählte. Das machte es ihr schwer, den richtigen Zeitpunkt zu finden, um ihm endlich reinen Wein einzuschenken. Sie beschloss, bis nach dem Essen damit zu warten. Doch gerade, als sie das Thema anschneiden wollte, kam Jonas ihr zuvor, indem er aus seiner Jackentasche einen Umschlag zog und ihn ihr mit einem strahlenden Lächeln überreichte.
»Was soll ich damit?«, fragte sie verwirrt.
»Sieh einfach nach!«
Mit einem unwohlen Gefühl zog Valerie einen Hotelgutschein für ein sündhaft teures Wellnesshotel an der Ostsee aus dem Umschlag.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«, entfuhr es ihr fassungslos.
Jonas, der ihre Reaktion für freudige Überraschung hielt, grinste und griff gleichzeitig nach ihrer Hand. »Ich dachte, das ist ein angemessener Rahmen, um uns wieder näherzukommen. Ich könnte dich gleich am Freitag nach der Schule abholen, dann lassen wir es uns richtig gut gehen! Selbstverständlich hast du dein eigenes Zimmer. Ich werde nie wieder den Fehler begehen, dich vorschnell zu bedrängen.«
Valerie schloss die Augen. Das durfte einfach nicht wahr sein. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte. Jonas hatte ihr Treffen offenkundig völlig falsch verstanden. Er glaubte, dass sie ihn sehen wollte, um sich mit ihm zu versöhnen. Aus seiner Sicht war das durchaus verständlich, auch wenn sie ihm niemals Hoffnungen gemacht hatte. Oder hatte sie doch?
Plötzlich verstand sie, dass sie die Situation selbst herbeigeführt hatte. Es war ihre Schuld, denn sie war Jonas gegenüber nie ganz ehrlich gewesen. Bewusst oder unbewusst hatte sie immer ein Hintertürchen zu ihm offen gelassen. Die Erkenntnis beschämte sie. Gleichzeitig wusste sie nun endlich, was sie tun musste. Sie entzog ihm mit einem Ruck ihre Hand. Dann gab sie ihm den Gutschein zurück.
»Wir beide werden nie wieder gemeinsam irgendwohin fahren«, erklärte sie mit fester Stimme. »Es tut mir aufrichtig leid, dass ich nicht früher die Kraft gefunden habe, es dir in aller Deutlichkeit zu sagen. Ich weiß, dass du dir noch Hoffnungen auf mich gemacht hast, auch nachdem wir uns getrennt haben. Aber nun weiß ich, dass es zwischen uns endgültig aus ist. Deshalb und aus keinem anderen Grund wollte ich dich sehen!«
Jonas nahm ihre Worte äußerlich gefasst auf. Doch sie sah in seinen Augen, wie enttäuscht und getroffen er sich fühlte. Es tat ihr leid, ihn so verletzen zu müssen. Gleichzeitig wusste sie, dass es die einzige Möglichkeit war. Nun hoffte sie nur noch, dass er nicht wütend reagieren würde und damit alles zerstörte, was sie einmal geteilt hatten.
»Du meinst es dieses Mal wirklich ernst, stimmt’s?« Seine Worte zeigten ihr, dass er begriff, dass sie die Tür zu einer gemeinsamen Zukunft endgültig zugeschlagen hatte.
Sie nickte ihm traurig zu und gab dem Ober ein Zeichen, dass sie bezahlen wollte. Als sie wenig später auf der Straße stand, atmete sie tief durch. Nun stand einer gemeinsamen Zukunft mit Rick nichts mehr im Wege.