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Wie kann ich nur all das in Worte fassen, was ich doch selbst kaum zu begreifen vermag? Seit Tagen sitze ich an meinem verflixten Schreibtisch und versuche niederzuschreiben, was mein Leben mir in den letzten Monaten an wundervollen und letztlich doch so schmerzlichen Überraschungen bereitgehalten hat. Das Schicksal ist ein wankelmütiger Genosse – und manchmal schlägt es Kapriolen, die einen von den höchsten Höhen in die tiefsten Abgründe stürzen können. Doch was hilft es schon, in Selbstmitleid zu baden? Bin ich nicht Wissenschaftler geworden, weil mir Vernunft und nachweisbare Fakten immer einen festen Halt gegeben haben?

Ich muss dieses Kapitel in meinem Leben endlich abschließen. Aus diesem Grund schreibe ich all das auf, was in letzter Zeit so Verrücktes geschehen ist. Dann erst werde ich bereit sein für meine neue Zukunft. Schließlich sind die Koffer schon längst gepackt. In wenigen Tagen verlasse ich Frankreich, um in den USA ein neues Leben zu beginnen. Meine Freunde beneiden mich um die Chance, in Harvard eine Professur zu übernehmen. Doch für mich wird es nur eine Flucht sein, eine Flucht vor dem Glück, das ich verloren habe.

Verdammt! Meine Gefühle sind noch zu stark, als dass ich sie einfach beiseiteschieben könnte. Diese tiefe Melancholie hat sich wie ein dichter Nebelschleier auf meine Seele gelegt. Dabei war die letzte Zeit so erfüllt und aufregend gewesen, dass ich glaubte, das Glück für immer in den Händen halten zu können. Wie habe ich mich doch getäuscht! An die Stelle von Glück und Erfüllung sind Trauer und Enttäuschung getreten. Beinahe jede Minute frage ich mich, was ich anders machen würde, wenn ich noch einmal die Chance hätte, mich neu zu entscheiden. Ich weiß es einfach nicht.

Hätte ich den Anruf meiner Tante Adèle damals einfach ignoriert – was durchaus verzeihlich gewesen wäre, da ich mich gerade auf der Geburtstagsfeier meines besten Freundes Maxime befand – , dann wären wir womöglich niemals an den Bodensee gefahren, und ich hätte die Liebe meines Lebens nicht kennengelernt. Doch was nützt es, über vergangene Dinge nachzugrübeln? Wenn ich eines in der jüngsten Vergangenheit gelernt habe, dann, dass man im Nachhinein nichts ungeschehen machen kann.

Alles begann Anfang Juni. Ich hatte mich mit ein paar Freunden in einem angesagten Bistro am Montparnasse zu besagter Geburtstagsfeier eingefunden. Wir waren eine fröhliche kleine Runde ehemaliger Kommilitonen und feierten nicht nur Maximes Geburtstag, sondern auch den Umstand, dass er einige Tage zuvor Vater von Zwillingen geworden war. Dementsprechend ausgelassen war unsere Stimmung. Ich hatte schon zwei Gläser Champagner getrunken und fühlte zum ersten Mal seit meiner Trennung von meiner langjährigen Freundin Marie-Claire wieder so etwas wie Unbeschwertheit.

Obwohl wir beide uns einvernehmlich und als Freunde voneinander getrennt hatten, war es für mich nach neun Jahren gemeinsamer Zeit nicht leicht gewesen, plötzlich wieder für mich selbst verantwortlich zu sein. Ich fühlte mich oft allein, vermisste sogar Marie-Claires Chaos, das mich immer so sehr genervt hatte. Sie war eine Meisterin darin gewesen, ständig unsere Wohnung mit ihren Architektenentwürfen und ihrer abgelegten Kleidung zu fluten. Für mich als Ordnungsfanatiker war das ein Graus. Doch kaum saß ich in meinem neuen, penibel aufgeräumten Appartement, fehlte mir diese Unordnung, sodass ich gar keine Lust mehr verspürte, viel zu Hause zu sein. Aus diesem Grund hatte ich mir in den letzten Monaten angewöhnt, meine Forschungstätigkeit wieder ganz in die Bibliotheken zu verlegen. In meine Wohnung ging ich nur noch zum Schlafen.

»Richard, ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust«, begann Adèle unser Gespräch überraschend energisch.

Normalerweise war meine Großtante eher zurückhaltend und niemals fordernd. Wir standen uns sehr nahe, denn sie war für mich mehr Großmutter als Tante. Bei meinem Taufnamen nannte sie mich eigentlich nur, wenn sie ein wichtiges Anliegen hatte. Ansonsten nannte sie mich wie alle anderen einfach nur Rick. Das ließ mich sofort aufhorchen. Inmitten der lauten Unterhaltung meiner Freunde konnte ich sie kaum verstehen. Vor allem, als auch noch das Getöse der Kaffeemaschine von der Bar hinzukam. Ich stand auf, um mir ein ruhigeres Eckchen zu suchen.

»Tante Adèle! Geht’s dir gut? Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht bei dir gemeldet habe!«

Mich plagte mein schlechtes Gewissen, denn wir hatten an Weihnachten zum letzten Mal voneinander gehört. Das war für unsere Verhältnisse wirklich außergewöhnlich und nur meinen besonderen privaten Umständen geschuldet. Dabei war Adèle für mich seit dem Tod meiner Mutter anderthalb Jahre zuvor der wichtigste Mensch, den ich noch hatte.

»Hör zu, mein Junge«, begann Adèle, ohne auf meine Frage zu antworten. Sie sprach in einer bestimmten Art, die keine Widersprüche duldete. »Ich möchte, dass du mit mir so schnell wie möglich an den Bodensee fährst. Es ist sehr wichtig für mich! Verstehst du?«

»Ähm … nein.«

»Wir reisen zum Grab deines Großvaters! Meine Koffer sind so gut wie gepackt. Wann kannst du mich abholen?«

»Wie bitte?« Ich hielt ihren Vorschlag für einen Scherz. »Ich kann hier nicht so einfach weg. Lass uns in Ruhe darüber reden, wann ich es einrichten kann.«

»Dafür bleibt keine Zeit!«, kam es vom anderen Ende der Leitung.

Ich erschrak. »Bist du krank?«

»Nein, aber ich werde im Dezember fünfundneunzig Jahre alt. Da kann man nicht mehr viel aufschieben.« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass es ihr ernst war. »Also sieh zu, dass du schnell nach Grenoble kommst!«

»Aber Mamie …« Ich fühlte mich völlig von ihrem Vorschlag überrumpelt. »Du weißt doch gar nicht, ob Antoine dort überhaupt begraben liegt. Das ist nur eine Vermutung! Vor einem halben Jahr hieltest du meine Nachforschungen nur für Hirngespinste, was sie übrigens wahrscheinlich auch sind. Ich bin mir mittlerweile längst nicht mehr sicher, ob ich mich nicht von meinem Eifer habe in die Irre leiten lassen. Womöglich habe ich mich da in etwas verstiegen. Lass mich erst noch weitere Nachforschungen anstellen, bevor du dir die anstrengende Reise zumutest.«

»Mach dir darüber bitte keine Sorgen«, erklärte Adèle plötzlich weit weniger energisch. »Ich weiß genau, was ich mir noch zumuten kann. Ich möchte, dass wir gemeinsam dorthin fahren. Vielleicht können wir ja dann beide endlich unseren Frieden finden.«

Ich schluckte. Etwas in ihrer Stimme sagte mir, dass ich ihren Wunsch respektieren sollte. Im Nachhinein schalt ich mich dafür, dass ich ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Vor einiger Zeit hatte ich im Zuge meiner Forschungsarbeit als Historiker über französische Kollaborateure und Widerstandskämpfer während der Naziherrschaft im Zweiten Weltkrieg begonnen, auch ein wenig meinem verschollenen Großvater Antoine nachzuspüren – dem Bruder von Adèle, den weder meine Mutter noch ich jemals kennengelernt hatten. Wir kannten seine Geschichte nur aus Adèles Erzählungen. Demnach hatte er als junger Mann Widerstand gegen die Nazis geleistet, bevor er eines Tages spurlos verschwand.

Für meine Großtante, die damals noch ein junges Mädchen gewesen war, war dies eine Tragödie gewesen, vor allem, weil sie und Antoine sich besonders nahegestanden hatten. Seit dem Frühjahr 1944 hatte sie nichts mehr von ihm gehört. In seinem letzten Brief hatte er geschrieben, dass er sich in eine Frau namens Marguérite verliebt hatte. Ein knappes Jahr später war eine Bauersfrau aus dem Vercors bei ihr aufgetaucht und hatte ihr und ihrem frisch angetrauten Mann Gustave ein erst wenige Wochen altes Baby gebracht – meine Mutter Isabelle, die aus der Beziehung zwischen Marguérite und Antoine hervorgegangen war. Als Beweis diente eine Taschenuhr, ein Familienerbstück von meinem Urgroßvater.

Über den Verbleib von Antoine und Marguérite wusste die Bäuerin nicht viel zu sagen. Nach Adèles Erzählungen hatte ihr Bruder sein Leben im Kampf gegen die Nazis verloren. Das schien auch mir sehr wahrscheinlich. Tatsächlich hatte das unzugängliche Gebirge des Vercors gegen Ende des Krieges eine große Rolle für die Widerstandskämpfer der Résistance gespielt. Viele von ihnen waren damals von den Nazis gefangen genommen und erschossen worden, etliche in die Konzentrationslager nach Deutschland deportiert.

Als Historiker war es nur natürlich, dass ich die Geschichte meines Großvaters im Blickfeld behielt. Im Zuge meiner Recherchen war ich auf einen Aktenvermerk im Konzentrationslager von Dachau gestoßen, wo ein gewisser Antoine Mardi (möglicherweise ein Rechtschreibfehler seines Geburtsnamens Mardieu) aus Grenoble vermerkt war. Nicht nur die Namen, sondern auch das Geburtsjahr stimmten überein. Laut der Aufzeichnung war dieser Mann nach der Befreiung durch die Alliierten 1945 als Tuberkulosekranker zur Erholung auf die Insel Mainau im Bodensee gebracht worden, wo er an den Folgen seiner Krankheit vermutlich verstorben war. Das erklärte, weshalb er sich nie wieder gemeldet hatte.

Leider blieb das nicht mehr als ein vager Hinweis. Mit Sicherheit konnte man seine Identität erst feststellen, wenn man vor Ort noch mal die Fakten überprüfte und weitere Nachforschungen anstellte. Und genau das hatte ich meiner Großtante an Weihnachten vorgeschlagen. Ich glaubte, ihr damit einen großen Gefallen zu tun. Die Ungewissheit bezüglich Antoines Schicksal hatte Adèle nie losgelassen. Ich hatte stets das Gefühl gehabt, dass sie ihr immer noch schwer auf der Seele lag. Umso größer war meine Verwunderung, dass meine Großtante ganz anders reagiert hatte, als ich es erwartete.

Anstatt sich darüber zu freuen, dass ich etwas über ihren Bruder herausgefunden hatte, hatte sie zurückhaltend reagiert und gemeint, dass man die Vergangenheit vielleicht doch lieber ruhen lassen solle. Nach längerem Nachdenken erklärte ich mir es so, dass ihr der Gedanke, dass ihr geliebter Antoine fernab der Heimat allein an dieser schrecklichen Krankheit gestorben war, unerträglich schien. Vielleicht aber hatte sie auch nur Angst davor, dass meine Spur im Sande verlief und die geschöpfte Hoffnung in einer Enttäuschung endete. Davor wollte ich sie natürlich bewahren und hatte mir deshalb vorgenommen, weitere Nachforschungen zu betreiben.

Doch dann war die Trennung von Marie-Claire gekommen, der Umzug in eine neue Wohnung und noch dazu der Termindruck seitens meines Verlages, der darauf drängte, endlich das Manuskript für mein neues Buch zu erhalten. Ich hatte einfach andere Dinge zu tun gehabt, und sie hatte nicht wieder nachgefragt. Umso erstaunter war ich, dass sie selbst dieses Thema wieder aufbrachte und plötzlich meine Vermutungen für Fakten zu halten schien.

»Ich habe Angst, dass du enttäuscht werden könntest«, gab ich ihr noch mal zu bedenken. »Das, was ich herausgefunden habe, ist nur ein Indiz. Vielleicht habe ich mich ja auch getäuscht. Lass mich der Sache erst noch etwas gründlicher auf den Grund gehen, dann fahren wir gemeinsam hin …«

»Nein, Richard, es ist wichtig, dass wir es jetzt tun«, unterbrach mich Adèle ungehalten. Dann hörte ich, wie sie einen tiefen Seufzer tat. »Ich möchte einfach einen Ort haben, an dem wir uns gemeinsam von Antoine verabschieden können«, erklärte sie mir. »Du sollst deinen Großvater immer in guter Erinnerung behalten.«

»Das habe ich doch jetzt auch! Du hast so vieles über ihn erzählt, dass ich das Gefühl habe, ihn mein ganzes Leben zu kennen.«

»Es ist mir wichtig!« Meine Tante ließ nicht locker.

»Ich weiß nicht …« Der Gedanke, Paris gerade jetzt zu verlassen, widerstrebte mir. »Ich habe viele Verpflichtungen«, argumentierte ich. »Außerdem stehe ich wegen meines neuen Buches unter Termindruck, und die Bewerbungsfristen für die neuen Stellen an der Sorbonne laufen demnächst ebenfalls ab. Ich rechne mit Vorstellungsgesprächen und muss hier zur Verfügung stehen …«

»Ich habe dich bisher noch nie um etwas gebeten.« Adèles Stimme bekam etwas Forderndes, was gar nicht ihrem Wesen entsprach. »Aber dieses eine Mal werde ich es tun. Ich wünsche mir, dass du mit mir an den Bodensee fährst. Bitte tu mir den Gefallen und hake nicht weiter nach.«

Zwischenzeitlich war der Geräuschpegel in der Brasserie so laut geworden, dass ich mich gezwungen sah, nach draußen auf die Straße zu gehen. Es war ein wunderschöner Frühsommertag, die Straßencafés quollen über von Touristen und Geschäftsleuten, die ihre Mittagspause machten. Zwischen zwei Häuserzeilen fand ich eine schmalere Gasse, in die ich hineinging, um in Ruhe unser Gespräch fortsetzen zu können.

»Hör zu, Tante Adèle«, lenkte ich schließlich ein. »Wie wäre es, wenn wir Mitte Juli an den Bodensee fahren würden? Dann sind Semesterferien, und ich habe alles Wichtige hier erledigt.«

»Dann ist es vielleicht schon zu spät.« Ihre Stimme klang mit einem Mal so traurig. Das darauffolgende Schweigen machte es nur umso schlimmer. Ich fürchtete schon, sie hätte aufgelegt. Mit einem heiseren Räuspern machte sie sich schließlich doch wieder bemerkbar. »Es war vermutlich ein Fehler, dass ich dich einfach so überrumpelt habe. Nimm es mir nicht übel, mein Junge, wenn ich dich belästigt habe …«

Ihre Worte ließen plötzlich alle Alarmglocken in mir schrillen. »Tante Adèle, so warte doch!«

Erst jetzt wurde mir bewusst, wie wichtig ihr Anliegen tatsächlich für sie war. Doch sie hatte bereits aufgelegt. Ich überlegte, sie zurückzurufen, beschloss dann aber doch, es bleiben zu lassen. Die anderen warteten bereits mit dem Essen auf mich. Um mein Gewissen zu beruhigen, versuchte ich, das Gespräch als schrullige Laune abzutun. Alte Menschen hatten manchmal seltsame Gepflogenheiten. Nachdenklich begab ich mich zurück zu meinen Freunden. Ich erinnere mich noch genau. Es gab gegrillte Dorade mit Gemüse-Tempura. Nachdem ich meinen Platz wieder eingenommen und damit begonnen hatte, meinen Fisch zu zerlegen, fragte mich Maxime, weshalb ich denn so ein bedrücktes Gesicht machte. Ich erklärte ihm kurz die Umstände und verschwieg auch nicht mein schlechtes Gewissen.

»Kannst du wirklich nicht weg?«, fragte er mich auf seine direkte Art.

Maxime arbeitete als Manager in einem Elektronikunternehmen und war es gewohnt, die Dinge gleich auf den Punkt zu bringen. Ich stutzte. Mein Freund wusste genau, wie viel ich zu tun hatte: Meine Vorlesungen als Gastdozent, die Seminare und dann noch das Buchprojekt, das meine Zeit mehr als in Anspruch nahm. Dann erst verstand ich, was er damit meinte. Meine Arbeit an dem Buch machte mich keineswegs unabkömmlich. Die Recherchen waren größtenteils abgeschlossen und auf meinem Rechner archiviert. Die Gliederung stand, was mir noch fehlte, war ein aktueller Bezug zu dem Thema, der als Aufhänger dienen konnte. An diesem Punkt hatte ich mich leider etwas festgebissen und war noch auf keinen vielversprechenden Ansatz gestoßen.

»Eigentlich nicht«, gab ich widerwillig zu, »an meinem Buch kann ich überall arbeiten, und die Seminare laufen ebenfalls aus …«

»Dann solltest du deiner Tante den Gefallen tun und an den Bodensee fahren«, erklärte mir mein Freund mit einem Schlag auf die Schulter. »Du sagst doch selbst immer wieder, wie wichtig sie für dich ist. Außerdem wird dir ein wenig Abwechslung guttun. Seit deiner Trennung von Marie-Claire vergräbst du dich nur noch in staubigen Bibliotheken. Nutze die Gelegenheit und bekomm endlich wieder einen klaren Kopf, Rick.«

Seine nur allzu wahren Worte gaben den letzten Ausschlag für meine Entscheidung. Ich beschloss, seinen Rat anzunehmen. Adèle war der wichtigste Mensch in meinem Leben, seit meine Mutter kurz nach ihrem siebzigsten Geburtstag an Krebs gestorben war. Sie war immer für mich und meine Mutter da gewesen, auch als mein Vater uns verlassen hatte und nie wieder etwas von sich hören ließ. Ich war es ihr einfach schuldig, mich jetzt um sie zu kümmern.