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Am nächsten Morgen weckte mich das Zwitschern von Vögeln in unserer Ferienwohnung. Für mich als Großstädter war das Fehlen von Autolärm und anderen Straßengeräuschen völlig ungewohnt. In Paris hauste ich in einer heruntergekommenen Dachgeschosswohnung im 5. Arrondissement, mitten im Quartier Latin, zentral und ziemlich laut. Kein Vergleich mit der Idylle, die ich erst einmal gewöhnungsbedürftig fand. Ich stand auf, um mir einen Kaffee zu machen. Meine Tante hielt sich noch in ihrem Zimmer auf, was mir ganz recht war. Das gab mir die Gelegenheit, sie mit frischem Gebäck zu überraschen. Ganz in der Nähe hatte ich eine Bäckerei gesehen, zu der ich einen kleinen Spaziergang unternahm. Die Stimmung am See war ausgesprochen friedlich um diese Zeit. Wie ein Spiegel lag das Wasser vor mir, es wurde nur von ein paar Enten und Blässhühnern aufgewühlt. Ich freute mich auf den bevorstehenden Tag und alles, was er an Entdeckungen bringen mochte.
Eine Stunde später kehrte ich in unsere Wohnung zurück und fand Adèle in ihrem Morgenmantel am Esstisch. Gedankenverloren rührte sie in einer Tasse Tee. Ich erschrak ein wenig, weil sie mir so gebrechlich vorkam. Wie zart und klein sie doch war. Ich hoffte, dass mich mein Eindruck täuschte und sie mir nur so anders vorkam, weil ich sie noch niemals mit ungekämmten Haaren gesehen hatte. Meine Sorgen verflogen, als sie sich zu mir umdrehte und eine plötzliche Veränderung in ihr vorging. Ihr Gesicht erhellte sich, mit strahlendem Lächeln bedeutete sie mir, dass ich ihr einen Kuss geben sollte. Ich hauchte ihr einen Kuss auf ihre faltige Wange und platzierte die frischen Brötchen auf dem Tisch. Während meiner Abwesenheit hatte sie schon alles für unser Frühstück vorbereitet. Adèle rührte kaum einen Bissen an, auch wenn sie ihre Appetitlosigkeit mit umso muntererem Geplauder zu überdecken versuchte.
»Geht es dir wirklich gut?«, erkundigte ich mich erneut besorgt.
Adèle bedachte mich mit einem spöttischen Blick. »Ich bin Mitte neunzig, da sieht man morgens nicht mehr wie ein munteres Küken aus.«
»Bitte verzeih, das hab ich nicht gemeint«, korrigierte ich mich rasch.
»Mach dir mal keine Sorgen um mich«, versicherte sie mir. »Mir geht es gut. Ich habe nur nicht besonders viel geschlafen. Aber auch das ist normal in meinem Alter.«
»Wir könnten uns heute einen gemütlichen Tag hier im Appartement machen«, schlug ich vor. »Schließlich drängt uns niemand.«
»Kommt gar nicht infrage! Sobald ich mich angezogen habe, brechen wir auf. Ich möchte heute Konstanz besichtigen. Und danach gehen wir auf den Friedhof und suchen die Gedenktafel.«
Ihr energisches Auftreten ließ keinen Widerspruch zu. Und doch fürchtete ich, dass sie unser Ausflug enttäuschen würde.
»Mamie«, warnte ich sie sanft, »ich möchte nicht, dass du zu viel erwartest. Möglicherweise finden wir gar nichts.« Ich erzählte ihr, was ich in der Zwischenzeit noch herausgefunden hatte. »Der Besitzer der Insel Mainau ist nach dem Tod der Häftlinge nicht sehr ehrenhaft mit ihren sterblichen Überresten umgegangen. Die französischen Besatzer hatten am Ufer der Insel, unterhalb des heutigen Rosengartens, einen Friedhof für sie angelegt und sie dort bestattet. Als Graf Lennart Bernadotte 1946 auf die Insel zurückkehrte, um sie für seine eigenen Zwecke umzugestalten, sollte nichts mehr an die grausame Zeit erinnern. Der Graf ordnete kurzerhand eine Aufhebung des Friedhofs an und ließ die Toten auf den französischen Teil des Konstanzer Hauptfriedhofs verlegen. Dort gab es bereits einen Platz, wo französische Soldaten und Zwangsarbeiter bestattet waren. 1949 wurden die verstorbenen Häftlinge, deren Namen bekannt waren, nach Frankreich gebracht und dort bei ihren Familien beigesetzt. Die acht nicht identifizierten Toten liegen meiner Vermutung nach noch immer auf diesem Friedhof.«
»Dann ist es doch denkbar, dass Antoine einer von ihnen ist«, beharrte Adèle unbeirrt. Sie sah mich entschlossen an. »Auch wenn wir keinen weiteren Hinweis finden, werde ich nicht verzweifeln. Ich habe beschlossen, dass ich mir Antoine dort einfach vorstellen möchte!«
»Wenn du meinst«, lenkte ich etwas verunsichert ein. »Vielleicht stoßen wir ja doch noch auf die ein oder andere Information. Ich werde auf jeden Fall versuchen herauszufinden, ob es irgendwelche Listen oder Dokumentationen zu der Zeit gibt, als die Tuberkulosekranken auf der Mainau untergebracht waren.«
»Ich mache mich jetzt fertig.« Meine Tante erhob sich vom Tisch und verschwand in ihrem Zimmer. Ich bewunderte sie für ihren Pragmatismus.
Weil es schwierig war, mit dem ungelenken Campingbus in der Stadt einen Parkplatz zu finden, organisierte ich uns ein Taxi, mit dem wir uns auf die kleine Stadtrundfahrt begaben. Adèle saß, aufgeregt wie ein junges Mädchen, neben mir im Fond und genoss den Blick aus dem Fenster. Vorbei am Archäologischen Landesmuseum ging es über die Rheinbrücke am See entlang. Linkerhand befand sich das Konzilgebäude mit dem Anlegesteg für die Fähren, an dessen Ende sich die imposante Statue der Imperia langsam um sich selbst drehte. Trotz der Menge an Touristen und des vielen Verkehrs auf den Straßen spürte ich den Hauch von Geschichte, der von dieser bemerkenswerten Figur ausging. Als begeisterter Historiker geriet ich sofort ins Schwärmen.
Adèle war eine geduldige Zuhörerin. Nach einem kurzen Exkurs über das Konzil im 15. Jahrhundert, das zwischen 1414 und 1418 hier stattgefunden hatte, um das große abendländische Schisma, die Herrschaft von zwei Päpsten, zu beenden und wieder die Einheit der Kirche herzustellen, erklärte ich Adèle, dass der Künstler Peter Lenk mit seiner riesigen Figur Imperia auf satirische Weise eben dieses Ereignis auf die Schippe nahm. Es zeigte eine nur notdürftig bekleidete Kurtisane mit eindeutig erotischer Ausstrahlung. Auf ihren erhobenen Händen trug sie zwei zwergenhafte Männlein, rechts Kaiser Sigismund mit Krone und Reichsapfel, links Papst Martin V. mit übereinandergeschlagenen Beinen. Kaiser und Papst als Spielball ihrer eigenen Libido. Die Narrenkappe, die die Kurtisane auf dem Kopf trug, wies sie jedoch nicht nur als Intrigantin aus, sondern auch als Hofnärrin, die das Spiel der Mächtigen durchschaut hatte. Ich erklärte Adèle, dass der Künstler für die Statue eine literarische Vorlage gehabt hatte. Der Figur lag eine frivole Erzählung des von mir hochverehrten Honoré de Balzac zugrunde, nämlich La belle Impéria.
Als ich ansetzen wollte, auch diese Geschichte für sie zusammenzufassen, unterbrach meine Tante meinen Redeschwall mit einem nicht zu überhörenden Stöhnen. »Mein Junge, ich weiß, wie gescheit du bist«, meinte sie und tätschelte dabei gutmütig mein linkes Knie. »Leider bin ich viel zu alt, um mir diese Dinge in allen Einzelheiten zu merken.«
Gespielt gekränkt brach ich meine Ausführungen ab und hüllte mich für eine Weile in Schweigen, woraufhin die Taxifahrerin durch den Rückspiegel meiner Tante für mich unübersehbar zuzwinkerte. Auch wenn sie wahrscheinlich nicht viel von unserem Gespräch verstanden hatte, war ihr wohl nicht mein missionarischer Eifer entgangen.
Den Rest der Tour beschränkte ich mich darauf, nur dann etwas zu sagen, wenn ich danach gefragt wurde. In der Nähe des Jan-Hus-Museums ließen wir uns absetzen, um von dort die Stadt noch ein wenig zu Fuß zu erkunden. Adèle hakte sich bei mir unter, und ich führte sie ein Stück durch die verwinkelten Gassen mit ihren bemalten mittelalterlichen Häusern. Bei all den geschichtsträchtigen Bauwerken fiel es mir einigermaßen schwer, nicht erneut ins Dozieren zu verfallen.
»Was haben denn diese kleinen Messingtafeln im Boden zu bedeuten?«, wollte Adèle schließlich wissen. »Lies mir doch mal vor, was darauf steht.« Ihr Augenlicht war zu schwach, um die Inschrift selbst entziffern zu können.
Ich erklärte, dass dies Stolpersteine waren, die an die Opfer der NS-Diktatur erinnern sollten. »Dieser hier ist für Ruth Alexander. Sie wurde 1937 geboren und wohnte in diesem Haus. 1940 wurde sie deportiert, wahrscheinlich weil sie Jüdin war, und in die Konzentrationslager von Gurs und Rivesaltes gebracht. 1942 gelang ihr die Flucht. Sie hat den Naziterror in der Schweiz überlebt«, schloss ich.
Adèle war erschüttert. »Mein Gott, sie war ja noch ein kleines Kind!« Was sie mindestens ebenso betroffen machte, war die Tatsache, dass die Kleine in Frankreich interniert gewesen war. »Vielleicht war es ein Fehler, sich nie für diesen Teil unserer Geschichte zu interessieren«, murmelte sie nachdenklich. »Nach dem Krieg haben wir Franzosen es uns einfach gemacht, indem wir immer nur den Deutschen die Schuld an allem gaben.« Sie bat mich, ihr noch mehr über diese Gedenksteine zu erzählen.
»Solche Steine findet man vor den Häusern, in denen die NS-Opfer zuletzt freiwillig gewohnt haben. Sie werden ebenerdig in den Boden eingelassen und beinhalten Namen, Geburtsdatum und kurz gefasst ihr Schicksal während der Diktatur. Soweit ich weiß, geht die Idee, auf diese Weise an die Verfolgten zu erinnern, auf den Kölner Künstler Gunter Demnig zurück. Er hat sie Anfang der Neunzigerjahre entwickelt. In Deutschland und auch im europäischen Ausland existieren Tausende dieser Stolpersteine. Erst neulich habe ich gelesen, dass schon über sechzigtausend verlegt wurden. Eine beeindruckende Zahl, aber doch verschwindend gering im Vergleich zu den Millionen von Opfern.«
»Wieso man sie wohl Stolpersteine nennt?«, grübelte Adèle. »Sie sind doch so gut verlegt, dass nicht einmal ich darüber stolpern könnte.« Noch bevor ich nach einer Antwort suchen konnte, fand sie selbst eine Erklärung. »Man stolpert nicht mit den Füßen, sondern mit dem Kopf und dem Herzen. Mein Gott! Das waren alles einmal Menschen, und wir werden gezwungen, uns an sie zu erinnern.«
So energisch sie eben noch wirkte, so nachdenklich und in sich gekehrt war meine Tante jetzt. Sie schüttelte müde den Kopf und bat mich, sie in eines der Straßencafés zu führen, weil sie sich etwas erschöpft fühlte. Wir fanden in einer der Seitengassen einen hübschen Tisch im Schatten und bestellten uns etwas zu trinken. Adèle hing weiterhin ihren Gedanken nach und sprach nicht viel. Ich genoss die schöne Aussicht und verlegte mich darauf, die Leute um uns herum zu beobachten. Mir fiel die große Zahl von Schweizer Touristen auf, aber auch Italiener, Holländer, Chinesen und Amerikaner schienen mit ihren erhobenen Handys jeden Winkel der Stadt auf Fotos festzuhalten.
In diesem Tumult hätte ich um ein Haar die hübsche junge Segellehrerin übersehen, die ich am Vortag am Hafen kennengelernt hatte. Sie schob ihr Fahrrad keine zwei Meter von uns entfernt durch die Menschenmenge. Einem spontanen Impuls folgend, winkte ich ihr zu, als sie für einen Augenblick in unsere Richtung sah. Ihre Stirn kräuselte sich befremdet, doch dann schien sie mich zu erkennen. Sie lächelte und steuerte zu meiner Freude direkt auf uns zu.
»Bonjour«, begrüßte sie uns freundlich. »Wunderbares Wetter heute, nicht wahr?«
»Jetzt, wo Sie aufgetaucht sind, könnte es nicht besser sein!« Ich grinste und freute mich, als sie auf mein Kompliment hin errötete.
»Haben Sie noch einen Platz in dem Segelkurs bekommen?«
»Hab ich! Allerdings nicht in Ihrem Kurs. Das wird natürlich nur halb so viel Vergnügen machen …« Ich verzog das Gesicht, als hätte ich auf eine saure Zitrone gebissen. Es machte Spaß, sie ein wenig zu provozieren.
»Mein Kollege ist der beste Segellehrer am Bodensee«, behauptete sie. »Allerdings wird er den Kurs doch nicht geben können. Es gab eine kurzfristige Planänderung.«
»Dann fällt er also aus?« Nun war es an mir, enttäuscht zu sein.
Ihre Augen blitzten belustigt auf. Dabei fielen mir die Grübchen in ihren Wangen auf. »Das wird er nicht. Ich vertrete Werner«, fügte sie keck hinzu. »Übrigens bin ich Valerie, und wir duzen uns alle beim Segeln.«
Auf einmal war sie es, die Oberwasser bekam, und ich war derjenige, mit dem sie ihren Spaß hatte. Das gefiel mir, ihre schlagfertige Art war erfrischend. Und noch mehr gefiel mir die Aussicht, sie in nächster Zeit häufiger zu sehen. Ich hätte sie nur allzu gern in ein längeres Gespräch verwickelt, doch Valerie sah auf die Uhr und hatte es plötzlich eilig.
»Ich muss los. Wir sehen uns morgen!«
Sie nickte Adèle, die unser Gespräch mit hochgezogenen Augenbrauen verfolgt hatte, freundlich zu und verschwand in der Menge.