Massif de la Chartreuse, Frankreich, April 1944
Als Marguérite wieder zu Bewusstsein kam, fand sie sich in einer dunklen Holzhütte wieder. Jemand hatte sie auf ein Strohlager neben einem Holzofen gebettet und in warme Decken eingehüllt. Ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen saß neben ihr und lächelte sie schüchtern an.
»Ich habe Durst«, krächzte Marguérite. Ihre Stimme war so heiser, dass sie kaum einen Ton hervorbrachte. Das Mädchen beeilte sich, ihr aus einem angeschlagenen Tonbecher etwas Wasser zu reichen, das sie jedoch kaum herunterbrachte. Ihr Hals brannte wie Feuer, und sie fühlte sich fürchterlich. »Wo bin ich?«, fragte sie, während sie gleichzeitig wieder von einer bleiernen Müdigkeit erfasst wurde.
»Ich bin Claudille Clovis«, drang es von weit her. »Mein Vater hat dich unten am Waldrand gefunden. Du bist hier sicher.«
Bevor Marguérite etwas erwidern konnte, schlief sie wieder ein. Wilde Fieberträume griffen nach ihr und ließen sie die Martyrien der letzten Zeit noch einmal erleben. Sie führten sie zurück zu jenem Tag, an dem ihre Eltern sie in die gute Stube ihrer schönen Berliner Wohnung gerufen hatten. Es war ein sonniger Maitag im Jahr 1943 gewesen. Sie war gerade neunzehn Jahre alt geworden.
Eigentlich wollte sie sich mit Josef auf einen Spaziergang treffen. Sie hatten sich verabredet, und sie freute sich darauf. Bevor es Juden verboten gewesen war, hatte sie gemeinsam mit Josef Mendelsohn das Konservatorium besucht und dort Musik studiert. Sie Gesang und Klavier und Josef Geige. Später hatten sie weiterhin heimlich Musik zusammen gemacht, und neuerdings trafen sie sich auch privat. Margarete, so nannte man sie in Deutschland, glaubte, etwas für den jungen Mann zu empfinden. Als sie zu den Eltern ins Wohnzimmer trat, fielen ihr sofort ihre ernsten Gesichter auf. Sie sah, dass ihre Mutter sogar geweint hatte. Der Vater bat sie, Platz zu nehmen. Dann entdeckte sie den gepackten Koffer neben ihrer Mutter und sah die beiden fragend an.
»Ich habe falsche Papiere für dich bekommen«, teilte ihr der Vater mit. Er wich ihrem Blick aus. »In einer Stunde fährt dein Zug in Richtung Süddeutschland ab – nach Freiburg. Von dort wird dich jemand nach Frankreich in die freie Zone bringen zu einer französischen Organisation, die dich bis nach dem Krieg sicher beherbergen kann.« Er überreichte ihr einen deutschen Pass ohne Judenstempel und französische Ausweispapiere. Beide trugen ihr Foto, aber falsche Namen.
Margarete starrte auf die Papiere und versuchte zu begreifen, was er ihr damit sagen wollte. »Ihr wollt, dass ich allein von hier fortgehe?«, fragte sie schließlich fassungslos.
»Du bist hier nicht mehr sicher!« Ihr Vater rang sichtlich mit seiner Fassung. »Mutter und ich möchten, dass du gehst! Wir werden später nachkommen.«
»Ich kann aber nicht ohne euch fort!« Allein der Gedanke, ihre Eltern allein zurückzulassen, war für sie unerträglich.
Ihre Mutter senkte den Kopf und begann zu schluchzen. »Es gibt keinen anderen Weg«, erwiderte ihr Vater bestimmt.
»Und was ist mit euch? Sie werden euch in ein Lager bringen!«
»Ich habe im letzten Krieg für meine Tapferkeit eine hohe Auszeichnung erhalten. Das wird mich und Mutter vor Nachstellungen schützen. Nicht einmal die Nazis wagen es, etwas gegen verdiente Veteranen zu unternehmen.«
»Dann will ich auch hierbleiben!« Margarete sah ihre Eltern entschlossen an. Gleichzeitig dachte sie an Josef und dass sie ihn womöglich nie wiedersehen würde. »Ich kann das nicht!«
Ihr Vater tätschelte hilflos ihre Schulter. »Du wirst tun, was wir dir sagen.« Ihm standen Tränen in den Augen, auch wenn er seiner Stimme Festigkeit zu verleihen versuchte. »Du bist unser Ein und Alles. Du wirst überleben, hörst du! Ich möchte, dass du in Sicherheit bist.«
»Aber wenn ihr vor den Nazis sicher seid, dann bin ich es doch auch«, versuchte sie es noch einmal.
Ihr Vater ließ sich nicht beirren. »Mutter hat dir ein paar Lebensmittel eingepackt, und hier ist noch etwas Geld. Damit wirst du fürs Erste versorgt sein. Sobald wir können, werden wir uns in Frankreich treffen.«
Das war der Augenblick, in dem sie begriff, dass ihre Eltern selbst nicht daran glaubten. Sie wollte erneut protestieren. Doch nun mischte sich ihre Mutter ein.
»Du bist unsere einzige Hoffnung«, sagte sie leise. Dann trat sie auf sie zu und berührte sie mit beiden Händen sanft an den Oberarmen, während sie ihr liebevoll in die Augen sah. »Wir werden in dir weiterleben«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Es ist Vaters Wunsch und auch meiner, dass du jetzt gehst. Sonst war alles umsonst!«
»Dann kann ich mich nicht einmal von Josef verabschieden?«, wagte sie zum letzten Mal aufzubegehren. Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Je schneller wir aufbrechen, desto besser ist es.«
In ihren Fieberträumen spürte Marguérite die Trauer so stark, als würde sie sich noch einmal von ihren Eltern trennen. Sie fühlte die warmen Tränen ihrer Mutter auf ihrer Bluse und das Beben ihres ausgemergelten Körpers in ihrer letzten Umarmung. Den Abschied würde sie nie vergessen.
Der Vater brachte sie zum Bahnhof. Seine Schritte waren schwer und schleppend, seine Haltung glich der eines alten Mannes. Innerhalb weniger Stunden war er um viele Jahre gealtert. Sein Blick war von Trauer erfüllt, als er ihr auf dem Bahnsteig hinterherwinkte.
Im Zug wurde sie von einem älteren Ehepaar erwartet, das als Fluchthelfer fungierte. Sie war nicht die Einzige, die sich auf die gefährliche Reise nach Frankreich machte. In Potsdam stiegen drei Kinder zu. Sie waren Geschwister. Zwei Mädchen und ein verschüchterter kleiner Junge. Das ältere der beiden Mädchen hieß Clara und war zwölf Jahre alt, das jüngere war die achtjährige Mechthild, und ihr kleiner Bruder Samuel war gerade mal fünf. Ihnen wurde gesagt, sie sollten das Ehepaar, das sich als Luise und Hans vorstellte, mit Papa und Mama ansprechen. Besonders dem kleinen Samuel fiel das schwer.
Ihre Reise verlief zunächst ohne Probleme, bis ihr Abteil in Frankfurt von einer Gruppe Gestapoleute kontrolliert wurde. Margarete zitterte wie Espenlaub, als ein Offizier ihre Papiere kontrollierte. Auch Clara und Mechthild waren nervös. Samuel starrte den Offizier die ganze Zeit mit weit aufgerissenen Augen an. Alle fürchteten, dass er gleich aufspringen und davonlaufen würde. Doch Clara und Mechthild, zwischen denen er saß, hielten seine kleinen Hände fest umspannt. Alles ging gut. Nachdem der Offizier alle Papiere durchgesehen hatte, musterte er sie nochmals mit finsterem Blick, bevor er sich mit seinen Kameraden wieder grußlos verzog. Clara stieß vor Erleichterung einen tiefen Seufzer aus, und Mechthild begann zu jubeln, wurde jedoch sofort von Luise gemaßregelt.
»Seid um Gottes willen still«, fuhr sie die Kleine barsch an. »Oder wollt ihr, dass sie zurückkommen und euch doch noch mitnehmen?«
Die beiden Mädchen sahen sich erschrocken an. Samuel machte sich vor Angst in die Hose.
Am nächsten Morgen erreichten sie Freiburg. Nach mehrmaligem Umsteigen waren sie gezwungen gewesen, einen Teil der Nacht bei empfindlicher Kälte auf verschiedenen zugigen Bahnsteigen zu verbringen. Alle waren todmüde, doch Luise und Hans gönnten ihnen keine Pause, sie trieben sie an, möglichst schnell aus der Stadt zu verschwinden. Einmal kamen sie an eine Straßenkreuzung und mussten warten, bis ein Trupp Hitlerjungen in ihren hellbraunen Uniformen vorbeigezogen war. Voller Stolz marschierten die etwa vierzig Jugendlichen an ihnen vorüber und sangen: »Die Fahnen hoch!« Kaum hatten sie geendet, rief einer aus dem Publikum: »Heil Hitler!« Überall um sie herum schossen ausgestreckte Arme in die Höhe, und die Leute schrien mit. Luise und Hans warfen den Kindern scharfe Blicke zu. Prompt hoben auch Mechthild und Clara die Arme und fielen in den Ruf ein. Samuel begann wieder zu weinen, und auch Margarete weigerte sich, dem Führer die Ehrerbietung zu erweisen. Ein letzter Rest von Selbstachtung hinderte sie daran.
Als Marguérite das nächste Mal erwachte, fühlte sie sich schwach, aber etwas besser. Ihr Hals schmerzte zwar immer noch, doch das Fieber war gesunken, und sie verspürte Appetit. Claudille fütterte sie mit einer warmen Suppe, die sogar Fleischstückchen enthielt. Dabei erzählte das aufgeweckte Mädchen, dass es mit seinem Vater den Sommer mit den Kühen auf den Almwiesen verbrachte. Sie waren gerade erst eingetroffen.
»Red nicht so viel und kümmer dich lieber um das Vieh«, grantelte der Bauer, ein groß gewachsener Mann mit finsterer Miene, der gerade die Stube betrat. Claudille schien seine ruppige Art gewohnt zu sein. Sie blieb ruhig sitzen und fütterte Marguérite, bis der Teller leer war. Dann erst stand sie auf und ging nach draußen. Ihr Vater blieb an ihrem Bett stehen und suchte nach Worten. »Du kannst hierbleiben, bis es dir besser geht«, brummte er schließlich in seinen grauen Bart. »Doch dann musst du wieder verschwinden. Für Leute wie dich setze ich nicht mein Leben aufs Spiel.«
Marguérite betete, dass er sie nicht verraten würde. Natürlich war dem Bauern längst klar, dass sie auf der Flucht vor den Behörden war. Wenn die Milizionäre in der Hütte auftauchten, war es gut möglich, dass er sie auslieferte. Doch was nützte es schon, sich darüber Gedanken zu machen. Im Augenblick blieb ihr gar nichts anderes übrig, als ihrem Gastgeber zu vertrauen.
»Danke«, krächzte sie deshalb nur, woraufhin der Bauer sich ohne weiteren Kommentar von ihr abwandte.
Während Marguérite auf ihrem Lager ruhte, spürte sie, wie sich das Kind in ihrem Bauch erneut bewegte. Dieses Mal waren seine Bewegungen sehr deutlich zu spüren. Sie wunderte sich über seine Lebhaftigkeit. Wenigstens geht es dem Baby gut, dachte sie dankbar. Obwohl sie immer noch sehr erschöpft war, wollte es ihr nicht gelingen, wieder einzuschlafen. Die Sorgen um ihre Zukunft waren übermächtig.