32

Ricks Brief auf dem Küchentisch stach Valerie sofort ins Auge. Na endlich, dachte sie erleichtert. Sie kam gerade aus der Schule und begrüßte ihren Vater, der den Tisch deckte.

»Ganz schön oldschool, dein Rick«, bemerkte er belustigt mit Blick auf den Brief. »Da merkt man doch gleich, dass der Mann Historiker ist.«

Valerie verzichtete auf eine Bemerkung, nahm den Brief und verschwand eilig damit in ihrem Zimmer. Sie wusste zwar, dass Rick gern Briefe schrieb, dennoch hatte sie nicht damit gerechnet, auf diese Weise von ihm zu hören. Seit ihrem letzten erstaunlich kurzen Telefonat ein paar Tage zuvor hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Darin hatte er ihr mitgeteilt, dass er sich beim Campen so sehr erkältet habe, dass er sich erst einmal bei seiner Tante auskurieren müsse. Er war zwar kurz angebunden gewesen, sie hatte sich trotzdem keine Gedanken gemacht. »Ich melde mich, sobald es mir besser geht«, hatte er versprochen und war danach in der Versenkung verschwunden.

Als er dann aber weder auf ihre täglichen Text- noch auf Sprachnachrichten reagiert hatte, hatte sie sich doch Sorgen gemacht. Das sah ihm so gar nicht ähnlich. Womöglich war er ernsthaft erkrankt, lag vielleicht sogar in irgendeinem Krankenhaus. Sie hatte sich schon vorgenommen, Adèles Telefonnummer herauszufinden, doch nun war ja der Brief eingetroffen, und alles würde sich aufklären.

Liebevoll strich Valerie über den Umschlag, bevor sie ihn öffnete. Ein Brief ist tatsächlich etwas Besonderes, dachte sie gerührt. Vielleicht etwas altmodisch, aber in jedem Fall einzigartig. Voller Vorfreude entnahm sie die beiden Papierbögen und faltete sie sorgfältig auseinander. Dabei stieg ihr Ricks besonderer Duft in die Nase, und ihr wurde bewusst, wie sehr sie ihn in den letzten Tagen vermisst hatte. Sie war gespannt, was er ihr mitzuteilen hatte.

Die Seiten waren eng mit der für Rick typischen krakeligen Schrift beschrieben. Liebe Valerie, las sie, enttäuscht über die nüchterne Anrede. Etwas nervös überflog sie die ersten Zeilen und erkannte sofort, dass dies kein Liebesbrief war. Im Gegenteil: Sein Inhalt hätte nicht nüchterner sein können. Rick beschränkte sich zunächst darauf, ihr mitzuteilen, was er in den Tagen im Vercors erlebt hatte. Dann berichtete er von seinem Besuch bei einem gewissen Xavier Moulin und was er bei ihm in Erfahrung gebracht hatte. Zeile für Zeile las sie, was er ihr zu sagen hatte, und konnte es einfach nicht glauben. Erschüttert ließ sie den Brief sinken, bevor sie ihn noch einmal las und dann noch ein drittes und ein viertes Mal. Der Inhalt blieb jedoch gleich.

Kraftlos ließ sie die Bögen schließlich auf den Boden fallen und starrte auf die ihr gegenüberliegende Wand. So blieb sie auf ihrem Bettrand sitzen und versuchte, sich der den Informationen folgenden Konsequenzen bewusst zu werden. Das, was Rick ihr zu sagen hatte, war so einfach wie erschütternd: Sie waren blutsverwandt. Das, was ihr aus einer üblen Laune heraus als Geistesblitz durch den Kopf geschossen war, war nun doch zur Gewissheit geworden. Was für eine bittere Ironie des Schicksals! Ausgerechnet der Mann, in den sie unsterblich verliebt war, und sie selbst hatten dieselben Großeltern! Ricks Großmutter Marguérite war identisch mit ihrer Großmutter Gigi, und somit war Antoine auch ihr Großvater.

Rick war allen Hinweisen mehrere Male nachgegangen und konnte jeglichen Irrtum ausschließen. Was für ein irrwitziger Gedanke, was für ein schlechter Witz, dachte sie niedergeschlagen. Ein hinterhältigeres Drehbuch hätte sich das Leben für sie beide wohl nicht ausdenken können. Valerie stieß ein kurzes, freudloses Lachen aus, das ihr im Hals stecken blieb.

Das Medaillon hätte ihnen schon damals verraten müssen, dass etwas nicht stimmte. Doch sie hatte sich von Rick davon überzeugen lassen, dass ihre Sorge unbegründet war. Seine Argumente waren plausibel gewesen, denn seine Marguérite hatte ja ein Mädchen zur Welt gebracht, und ihre Gigi einen Jungen. Sie hatte ihm schließlich bereitwillig geglaubt. Keiner von ihnen war damals auf die Idee gekommen, dass Marguérite Zwillinge auf die Welt gebracht haben könnte.

Damit war also wahr geworden, was vor Kurzem noch undenkbar erschienen war. Fühlen wir uns so sehr miteinander verbunden, weil in uns dasselbe Blut fließt?, dachte sie mit wachsender Abscheu. Der Gedanke, dass sie eine Art Inzestbeziehung gehabt hatten, widerte sie an. Möglich, dass sie nicht strafbar war, weil sie keine Geschwister waren, aber nach ihren Wertvorstellungen hatte auch die Verbindung von Cousin und Cousine etwas Abartiges an sich. Sie könnte niemals mit jemandem zusammen sein, der mit ihr blutsverwandt war. Dass Rick es genauso sah, bewies der letzte Absatz seines Briefes. Sie nahm ihn nochmals zur Hand und las die Zeilen laut.

Es ist so, wie es ist! Wir müssen beide damit klarkommen und die notwendigen Konsequenzen ziehen. Sicher wirst du verstehen, dass es besser ist, wenn wir uns in nächster Zeit nicht sehen. Selbstverständlich werde ich dich weiterhin über meine Recherchen bezüglich unserer Großeltern auf dem Laufenden halten. Dich zu treffen würde mir jedoch das Herz brechen. Ich bin mir sicher, dass du dies ähnlich siehst. Um es uns beiden leichter zu machen, werde ich Europa verlassen. Das Angebot von Harvard habe ich bereits angenommen, am 9. November kehre ich Frankreich den Rücken und ziehe in die USA. Ich wünsche dir Kraft und alles Glück auf der Welt, liebe Valerie. Dass unsere Wege sich auf diese unglückliche Art wieder trennen müssen, bedaure ich von Herzen. Rick

Valerie kannte die Abschiedsworte inzwischen auswendig, so oft hatte sie sie gelesen. Sie wartete auf Tränen, doch die wollten sich nicht einstellen. Dafür wuchs die Gewissheit, dass sie sich nie wiedersehen würden. Allein die Vorstellung, Ricks Lächeln nicht mehr zu genießen und seine leidenschaftlichen Berührungen nicht mehr zu spüren, schienen ihr unerträglich. Gleichzeitig schämte sie sich für diese Gefühle. Sie empfand sie zunehmend als schmutzig, konnte sich aber nicht dagegen wehren. Was gab es Schlimmeres, als sich für eine tief empfundene Liebe schämen zu müssen?

Sie fühlte sich so leer und hilflos, als hätte man ihr die Grundlage für ihr Leben entzogen. Die Luft zum Atmen, das Salz des Lebens. Selbst der Sonnenschein vor ihrem Fenster und die bunten Blätter an den Bäumen kamen ihr grau und seelenlos vor. Es schien unmöglich, sich jemals von diesem Schmerz wieder zu lösen.

Sie verbrachte den ganzen Nachmittag in ihrem Zimmer, lag auf dem Bett und starrte mit leeren Augen an die Decke. Sie reagierte weder auf das Klopfen ihres Vaters noch auf das ihrer Mutter. Als Mia sie zum Abendessen rief, gab sie vor, sich nicht wohlzufühlen. Als ihr Vater spätabends nochmals an ihre Tür klopfte und sie seine Besorgnis nicht länger ignorieren konnte, gab sie vor, an Migräne zu leiden.

Am nächsten Morgen entging Valerie ihren Eltern, indem sie in aller Frühe das Haus verließ, noch bevor diese aufgestanden waren. Sie fühlte sich einfach nicht in der Lage, mit ihnen zu reden. Die Zeit bis zum Unterrichtsbeginn vertrödelte sie, indem sie ziellos durch die Straßen Berlins irrte. Graue Häuserfluchten in einer grauen Zukunft. Freudlosigkeit als Dauerzustand ihres künftigen Lebens. Sie wusste, dass dies die Anzeichen einer neuen Depression waren, sah, dass sie wieder in den Strudel von Sinnlosigkeit und Leere zu geraten drohte, in dem sie während ihres Burn-outs gefangen gewesen war. Doch im Gegensatz zu ihrem letzten Zusammenbruch brachte sie dieses Mal die Kraft auf, pünktlich zum Unterrichtsbeginn zu erscheinen. Wie eine fremdgesteuerte Marionette trat sie vor ihre Klasse und wunderte sich, dass sie ohne Probleme funktionierte. Auch im Kollegium fiel niemandem auf, wie schlecht sie sich fühlte. Wie lange sie sich noch verstellen konnte, wusste sie jedoch nicht.

Als Valerie nach Unterrichtsende ihren Vater vor dem Schultor stehen sah, fühlte sie nichts als Leere. Sie steuerte auf ihn zu, ohne zu wissen, was sie ihm sagen sollte. Doch er erwartete nichts von ihr, sondern nahm sie einfach nur in die Arme. Seine warme, umsorgende Berührung half ihr, die Verkrampfung in sich zu lösen. Wie schon so oft in ihrem Leben war sie Aaron dankbar für seine bedingungslose Zuwendung. Diese vertraute Verbindung hatte schon immer zwischen ihnen beiden bestanden. Ihr Vater und sie verstanden sich auch ohne Worte, genau so, wie es zwischen Rick und ihr gewesen war. Der Gedanke schmerzte so sehr, dass sie endlich ihren Gefühlen nachgeben konnte.

»Zwischen Rick und mir ist es aus«, brach es mit einer Wucht aus ihr heraus, die sie selbst erschreckte. Sie drückte ihren Kopf fest an Aarons Schulter und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ihr Vater strich ihr beruhigend über den Kopf, während er sie behutsam weg von der Schule lenkte, um sie den neugierigen Blicken ihrer Schüler und Kollegen zu entziehen. Er führte sie zu seinem Auto und brachte sie auf dem direkten Weg nach Hause. Ihre Mutter wartete bereits auf sie. Sie war mindestens so besorgt wie ihr Vater. Offenbar hatte sie sich den Nachmittag extra freigenommen. Ihren Eltern stand die Furcht ins Gesicht geschrieben, dass ihre Tochter auf einen neuen Zusammenbruch zusteuerte. »Ich komm schon klar«, behauptete sie tapfer.

Beinahe trotzig begab sie sich ins Badezimmer, um sich zu erfrischen. Das kalte Wasser, mit dem sie ihr Gesicht benetzte, tat ihr gut. Danach fühlte sie sich etwas besser und war bereit, mit ihren Eltern zu reden. Das, was ihr zugestoßen war, ging schließlich auch die beiden etwas an.

Sie erzählte Ricks und ihre Geschichte von Beginn an – von ihrem Kennenlernen, von der Intensität der Gefühle, die sie miteinander geteilt hatten, und von der daraus resultierenden Verbundenheit. Aaron und Mia waren aufmerksame Zuhörer. Sie unterbrachen sie kein einziges Mal. Dann begann sie von Ricks Suche nach seinem Großvater Antoine zu erzählen. Von der Enttäuschung, als er im Zuge seiner Nachforschungen erfahren musste, dass der kein Kriegsheld gewesen war, sondern ein Kollaborateur, ja womöglich ein Kriegsverbrecher, der das Leben der Kinder von Izieu und ihrer Betreuer zu verantworten hatte. Sie sprach von Antoines widersprüchlicher Liebe zu einer gewissen Marguérite, die Jüdin gewesen war und in der Kinderkolonie von Izieu als Betreuerin gearbeitet hatte. Und dann erzählte sie von deren Flucht vor der Gestapo in hochschwangerem Zustand und der Geburt ihrer Zwillinge mitten im Vercors. Als sie an diesem Punkt angelangt war, machte sie eine längere Pause, die sie auch dringend brauchte, um wieder mit ihren aufsteigenden Gefühlen klarzukommen.

»Ihr werdet euch nun fragen, weshalb ich so weit ausgeholt habe«, fuhr sie schließlich mit einem dicken Kloß im Hals fort. »Ich musste es tun, weil sich an diesem Punkt Ricks Geschichte auf tragische Weise mit der von Papa und damit auch von mir verbindet …« Aaron hob erstaunt die Augenbrauen, während Mia sie nur verständnislos ansah. Valerie wandte sich ihrem Vater zu. »Wir kennen Großmutter nur als Gigi. Es war ihr Partisanenname, aber wir haben nie erfahren, wie sie richtig hieß, nicht wahr?« Aaron bestätigte es mit einem Kopfnicken. »Ricks Großmutter Marguérite wurde von den Bauern im Vercors Gigi genannt«, schloss sie ihre Geschichte. »Die Namen ihrer beiden Kinder waren Aaron und Isabelle. Isabelle kam, weil sie schwach und kränklich war, zu Ricks Großtante Adèle nach Grenoble und dich, Papa, nahm sie mit nach Aix.«

»Moment mal, willst du wirklich behaupten, dass diese Marguérite meine Mutter war? Woher willst du das wissen?« Sie sah, wie jegliche Farbe aus Aarons Gesicht schwand.

»Rick hat es herausgefunden. Es gibt keinerlei Zweifel mehr. Er hat ihre Spur bis hin zu deinen Pflegeeltern nach Aix verfolgt. Er war nicht krank, wie er mir gegenüber behauptet hat. Er hat die Zeit genutzt, um weiter zu recherchieren. Er wollte seiner Sache ganz sicher sein, bevor er mir schrieb. Doch das wäre gar nicht notwendig gewesen, denn da ist ja auch noch das Medaillon, das du von Grandmère geerbt hast. Die fremde Frau, die darin zu sehen ist, ist Ricks Großtante Adèle, die Schwester von Antoine.«

»Mein Gott!« Ihr Vater fuhr sich durchs Gesicht, so sehr hatte ihn Valeries Geschichte mitgenommen. »Da suche ich jahrzehntelang vergeblich nach Spuren meiner Eltern, und dann wird auf so schreckliche Weise alles offenbar!«

Mia legte mitfühlend ihre Hand auf seine Schulter. »Was für eine Ironie des Schicksals …«, murmelte sie erschüttert.

»Nun wisst ihr, weshalb es zwischen uns aus ist«, brach es erneut aus Valerie heraus. Sie konnte nichts gegen die aufsteigenden Tränen unternehmen und ließ ihnen einfach ihren Lauf.

»Dürfen sich Cousin und Cousine denn nicht lieben?«, warf Mia hilflos ein. »Ich meine, so eng ist die Verwandtschaft doch auch nicht zwischen euch.«

»Mama! Wir sind blutsverwandt!« Valerie war über die Worte ihrer Mutter empört.

Mia zuckte schuldbewusst zusammen. »Vergiss, was ich gesagt habe«, erwiderte sie. »Es tut mir nur so leid!« Valerie war bewusst, dass ihre Mutter sie nur zu trösten versuchte, doch ihre Worte halfen ihr im Augenblick nicht weiter. »Papa und ich werden alles tun, um dir deinen Kummer leichter zu machen«, versicherte ihre Mutter nun.

»Ja, das werden wir«, stimmte Aaron zu.

Dabei warf er seiner Frau einen langen nachdenklichen Blick zu, den Valerie nicht zu deuten vermochte. Was sie jedoch begriff, war, wie sehr die Geschichte ihn ebenfalls mitgenommen hatte. Abgesehen von ihrem Liebeskummer, war es auch für ihn nicht einfach, mit den neuen Gegebenheiten umzugehen. Er hatte sich ganz bestimmt ein anderes Bild von seinem leiblichen Vater gemacht und niemals damit gerechnet, dass er ein Kollaborateur und Kriegsverbrecher gewesen war.

Valerie fürchtete, dass dieses Wissen ihren Vater um Jahre altern lassen könnte.